Han Sen - Ein Chinese mit dem Kontrabass

  • Klappentext:
    Im Berlin der zwanziger Jahre aufgewachsen, fühlt sich der junge Chinese Han Sen als waschechter Berliner. Doch mit Hitlers Machtergreifung findet die idyllische Kindheit ein jähes Ende, die Familie muss fliehen. Schlimmer noch: Der Vater nimmt Han Sen mit ins Land seiner Vorfahren, das eigentlich seine Heimat und ihm doch so fremd ist. Er will nur eins: zurück nach Europa! Ein Wunsch, der sein ganzes Leben bestimmen wird...


    Claassen Verlag, Gebundene Ausgabe: 334 Seiten


    Ich habe mich dafür entschieden dieses Buch unter "Biographien" zu rezensieren, da es wie ich finde, hier gut aufgehoben ist.


    In diesem Buch geht es um einen kleinen Chinesen, der die ersten 8 Jahre seines Lebens in Berlin aufwächst. Nachdem Hitler an die Macht kam mussten er und seine Familie aus der gewohnten Umgebung Berlin fliehen. Hier beschreibt Han Sen seine Erlebnisse während der Flucht über die Schweiz nach China bis hin zur "Rückflucht" von China über u.a. die Sowjetunion nach Deutschland.
    Er beschreibt über viele Seiten hinweg seine Zeit in verschiedenen Heimen, bei verschiedenen Familien und Freunden - während sein Vater ihn lange Zeit lang dort zurück ließ um diversen politischen Aktionen beizuwohnen.
    Die Flucht wird sehr detailliert beschrieben und es geht in der Hauptsache um die Politik im China der 30er bis 60er/70er Jahre.
    Ebenfalls wird auch ein Teil der Biographie seines Vaters wiedergegeben - ein Kommunist - in Zeiten des Nationalsozialismus und dem zweiten Weltkrieg. Es wird beschrieben, wie beide immer und immer wieder neue Identitäten annehmen müssen, wie Han Sen als Dolmetscher arbeitet, für die Armee dient und welcher Politiker Chinas mit seinem Vater bekannt und befreundet waren oder auch nicht und welche dieser Beziehungen sich für Han Sen gut oder schlecht auswirkten.


    Ich selbst habe das Buch, zum Schluss hin, mehr oder weniger nur noch überflogen. Ich habe, nach dem lesen des Klappentextes einen Roman erwartet und wurde leider durch die Fülle der politischen Angaben und vieler Jahreszahlen enttäuscht. Wer sich sehr für die Politik dieser Zeit interessiert ist hier richtig aufgehoben, wer allerdings einen "einfachen" Roman über einen chinesischen Jungen während des zweiten Weltkrieges erwartet, sollte lieber die Finger weglassen.
    Wer sich für die Politik in China interessiert und sich womöglich auch schon ein bisschen hierüber auskennt, kommt sicher auf seine Kosten. Für einen China-Einsteiger ist es wohl eher nichts.


    Von mir daher leider nur *** Sterne, würde aber sicher Besseres verdienen :wink:

  • Ein Chinese mit dem Kontrabass


    Im Gegensatz zu meiner Vorrezensentin, der für die Vorstellung dieses unterdessen vergriffenen Buches mein Dank gebührt, habe ich die Erinnerungen des Berliner Chinesen Han Sen, geboren 1925 in Berlin, mit sehr grossem Interesse, ja, wunderbarem Staunen gelesen. Denn eine solche Biographie erfinden nicht einmal Drehbuchautoren.


    Um nur vage die Stationen dieses Lebens zu umreissen:

    • von Geburt 1925 bis 1933 in Berlin und Besuch der progressiven Odenwaldschule,
    • danach in verschiedenen Städten der Schweiz bis 1940,
    • väterlich erzwungene „Rückkehr“ nach China bis 1955 und
    • dann freiwillige Ausreise mit repatriierten Sovjetbürgern in die Sowjetunion und Übersiedlung nach Charkov in die Ukraine,
    • letztlich lebt er seit 2004 wieder in Berlin.

    Deshalb spricht Han, der gebürtig Anton Chen heisst, in der ihm typischen Untertreibung stets von einer Lebens-Reise und unterschlägt dabei
    lakonisch, in welchen Zeiten und Zentren weltpolitischer Erschütterungen er sich dabei (unfreiwillig) bewegt hat:


    der aufkommende und schliesslich an die Macht gelangte Nationalsozialismus in Berlin mit einem im Untergrund aktiven Kommunisten als Vater;
    das ärmliche Leben als Emigrant in der Schweiz mit einem bei den Internationalen kämpfenden Vater; in einem zwischen Bürgerkrieg und japanischer Besetzung zerrissenen China als Sekretär von Zhou Enlai, dem Mao-Vertrauten und späteren chinesischen Premierminister; der
    Entstalinisierung durch Chruschtschow in der Sowjetunion und schließlich Glasnost und Perestroika von Michail Gorbatschows und dem Mauerfall.


    Der Bericht gibt unter anderem faszinierende Einblicke in die Frühgeschichte der Odenwaldschule, der kommunistischen Höhlenstadt Yan'an, dem enorm ärmlichen Rückzugsort von Mao nach dem berüchtigten „Langen Marsch“, der beinahe vollständig russischen Stadt Harbin im Norden
    Chinas und dem Schicksal der russischen Repatriierten Mitte der 50er Jahre... und noch vieles mehr.


    Für Geschichtsinteressierte also ein wahres Füllhorn aus dem bewegten 20. Jahrhundert.


    Es ist der Kunst von Han zu verdanken, dass seine Erinnerungen nicht tausende von Seiten dick, nicht hochpolitisches Essay und auch nicht reisserische Aufschneiderei geworden sind. Alles das hätte dieses abenteuerliche Leben hergegeben, aber Han will nur beschreiben, was ihm widerfährt und antreibt - die Rückkehr nach Europa, seine Heimat! Denn ihm bleibt China stets fremd und auch die Schweiz, die Sowjetunion und
    die Ukraine sind nur schwacher Ersatz für Berlin.


    Dieser fast ein wenig naive Ansatz seiner Erinnerungen machen sie zu einer überaus spannenden Ansicht der Weltpolitik von „unten“ und zu einem lesenswerteren Geschichtsabriss als die Memoiren von Politikern, Künstlern oder anderer Beteiligter.


    > Diese Lebenserinnerungen sind keine Memoiren. Sie sind lediglich die Schilderung einer langen, ungewöhnlichen Reise, als die ich mein
    Leben betrachte.
    < [Epilog, Seite 327]


    Nachträge:


    Es war angeblich der Journalist Gerd Ruge, der Han Sen dazu ermutigte, seine Erinnerungen zu diesem Buch zu verarbeiten. Ruge hat dann auch ein sehr gelungenes Nachwort zu meiner Ausgabe (List TB, März 2003) geschrieben.


    2001 drehte Ullabritt Horn die Dokumentation Ein Chinese mit dem Kontrabass (Lichtfilm GmbH), bei dem sie Han Sen die Orte seiner langen
    Lebensreise wiederbesuchen lässt. Den Film kann man auf www.docufilms.com anschauen.


    Trotz einiger Recherche ist es mir nicht gelungen, herauszufinden, ob Han Sen noch am Leben ist.


    ** xièxie **

    Es gibt keine grössere Einsamkeit als die des Samurai. Es sei denn die des Tigers im Dschungel