Günter Grass, Im Krebsgang

  • Im Krebsgang von der
    deutschen Vergangenheit in die Gegenwart surfen





    Das hört nicht auf. Nie hört das
    auf. Diese Schlusssätze aus Günter Grass´ Krebsgang machen deutlich: Hier ist
    zwar ein Buch zu Ende, nicht aber dessen Thematik.


    Grass´ Novelle zeigt Folgen
    misslungener Vergangenheitsbewältigung, des Verdrängens gelebter Geschichte. Dabei
    wird klar: Geschichte ist mehr als die Summe von Ereignissen, die in der
    Vergangenheit liegen, vielmehr hat sie mit Menschen zu tun, wird erlebt und
    gelebt und bleibt, über Generationen weiter getragen, lebendig.


    Der Erzähler der Novelle, Paul
    Pokriefke, ist Teil dieser deutschen Geschichte. Am 30. Januar 1945 wird er
    geboren, unter außergewöhnlichen Umständen: Seine Mutter Tulla ist eine der
    wenigen Überlebenden des größten Schiffsunglücks aller Zeiten, dem Untergang
    des deutschen Flüchtlingsdampfers Wilhelm Gustloff, das von einem sowjetischen
    Torpedoboot getroffen wurde. Als Hochschwangere gerettet, bringt sie in jener
    Nacht des Untergangs auf einem Rettungsboot Paul zur Welt.


    Dieses Erlebnis wird für Tulla
    zum Lebenstrauma und zum ewigen Lebensthema: „Das musste aufschraibn“, drängt
    sie ihren Sohn immer wieder, „biste ons schuldig“. Er tut es nicht. Paul findet
    keine Worte. Anders sein Sohn Konny: Von Klein an hört er die endlosen Erzählungen über die
    Gustloff-Tragödie von der Großmutter, von seinem abwesenden vaterlosen Vater
    dagegen nur Schweigen.



    So kommt es, dass sich das Damals
    mit dem Heute verstrickt, dass der Enkel Konny, ein eigentlich intelligenter
    Jugendlicher, sich zur Aufgabe macht, was sein Vater verpasst und verweigert
    hat: die Auseinandersetzung mit der Tullas und Pauls Vergangenheit. Die Geschichte
    des einstigen KdF-Dampfers Wilhelm Gustloff und mit dessen Namenspatron, dem
    früheren Schweizer NSDAP-Landesgruppenleiter Gustloff, der als Zeichen des
    Widerstandes vom jüdischen David Frankfurter ermordet wurde und den die Nazis zum
    Märtyrer erhoben. Konny erstellt eine Internetseite -man ist also zweifelohne
    in der gegenwart angekommen- zur
    Gustloff-Thematik, nutzt das Internet als Forum, recherchiert genau, beginnt
    sich mit Wilhelm Gustloff zu identifizieren, sich als sein Rächer zu verstehen.
    Im Chatroom trifft er einen Gegenspieler, der sich nach Dvid Frankfurter
    benennt und liefert sich virtuelle Gefechte mit ihm. Der Vater, der durch
    Zufall auf die Internetseite seines Sohnes stößt, verfolgt hilflos die rechten
    Parolen und sieht, wie dieser in rechtsextremen Organisationen an Ansehen
    gewinnt. Schließlich eskaliert die Situation. Konny schlüpft in die Rolle des
    Wilhelm Gustloff, Realität und Fiktion verschmelzen, er trifft sich mit seinem
    scheinbar jüdischen „Chatfreund“ an einem ehemaligen Gustloff-Denkmal...



    Die Handlung verläuft nicht
    geradeaus, sondern, wie der Gang des Krebses, schräg, seitwärts, mit Rückblenden, teilweise parallel und
    überlappend.


    Ebenso die verschiedenen
    Erzählebenen: Kunstvoll durchkonstruiert thematisiert Grass die Geschichte der
    sinkenden Gustloff, des rechtsextremen Konny, die des ermordeten Wilhelm
    Gustloff neben der des Mörders David Frankfurter.


    Nun schreibt er die Geschichte letztlich
    in Form dieser Novelle doch auf, Paul, der Erzähler, gedrängt von einem
    fiktiven „Alten“, hinter dem sich Grass selbst verbirgt.


    Damit wird, und zwar in
    wortgewaltiger Prosa, thematisiert, worüber so lange geschwiegen wurde: das
    Leid von Deutschen im zweiten Weltkrieg. Ein Thema das man viel zu lange „den
    Rechtsgestrickten überlassen hat“.


    Grass zeigt, dass eine
    differenzierte Sichtweise nötig ist, wenn an die Deutschen als Opfer erinnert wird.
    An den Beispielen Tulla, Paul und Konny wird deutlich, wie unterschiedlich drei
    verschiedene Generationen mit der Problematik umgehen. So wird diese differenziert,
    aus mehreren Blickwinkeln beleuchtet. Ebenso facettenreich werden die
    verschiedenen Charaktere und deren Schicksale skizziert. Bei der Beschreibung
    der Figur des Konny gibt Grass sich nicht mit Klischees zufrieden, sondern
    versucht eine komplexe Person zu schaffen, die von vielen verschiedenen
    Aspekten beeinflusst, ins rechte Milieu abdriftet. Da sind die Eltern, die als
    Erzieher versagt haben, der abwesende Vater, die Großmutter, die ihren Enkel immer wieder
    ermutigt sich mit der Gustloff-Thematik auseinanderzusetzen und große
    Hoffnungen ihn zu setzen scheint, das Internet als Forum, mit seinen
    unbegrenzten Möglichkeiten zu publizieren und Aufmerksamkeit zu erlangen.


    Zum Erinnern und Gedenken an
    deutsche Zivilopfer, an die Vertriebenen, möchte Grass also ermutigen, deren
    grausame Schicksale keinesfalls unter den Teppich gekehrt werden dürften. Seine
    Figuren dagegen scheitern an der Aufarbeitung ihrer Geschichte, jede auf eine
    andere Weise.


    Wortgewaltig und sorgsam
    durchkonstruiert ist die Novelle in jedem Fall, manchmal stören lediglich die
    etwas unbeholfen zwanghaft eingeflickt wirkenden Computer-Fachbgriffe, die die
    Gegenwart nicht authentischer aussehen lassen, sondern eher krampfhaft modern
    klingen. An einigen Stellen wünscht man sich vielleicht auch doch mehr
    Prägnanz, weniger Ausschweifungen.



    Der Leser sollte es wohl besser machen als die Figuren. Grass erhebt
    hier den pädagogischen Zeigefinger. So moralisch er klingt, einige Jahre später
    gesteht er seine eigene Vergangenheit bei der Waffen-SS, seine unentschuldbare
    Mitschuld, seine Schuldgefühle. In der Hinsicht ist das „krebsen“ auch ein
    vorsichtiges Vortasten und Verarbeitung von Grass´ persönlicher Geschichte mit
    Hilfe der Figuren, bevor er schließlich im Herbst 2006 „die Zwiebel häutet“.
    Auch er selbst hat also, wie sein Erzähler Paul Pokriefke, jahrelang
    geschwiegen.

  • keine ahnung, warum die absätze gar so groß geworden sind, ich hoffe der umfang schreckt nicht allzu sehr ab ;)
    schöne grüße,
    monna

  • ich hoffe der umfang schreckt nicht allzu sehr ab


    Im Gegenteil, das ist doch eine sehr schöne, ausführliche Rezension, die wirklich gut über das Buch informiert. Es interessiert mich schon lange und nach Deiner Vorstellung noch mehr. Inzwischen ist es ja auch als Taschenbuch erschienen, da kann man also beherzt zuschlagen.


    Danke und Gruß mofre

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Ich habe das Buch jetzt auch gelesen und bin beeindruckt. Auf den ersten Seiten hatte ich ehrlich gesagt ein paar Schwierigkeiten damit, mich in die Handlung einzufinden. Viele Informationen, viele Namen, viele Geschichten... aber hat man sich erst einmal eingelesen, ist es wirklich ein tolles Buch, das zum Nachdenken anregt und das eine Geschichte erzählt, über die man später noch eine Weile nachdenken muss. Ich muss mich dazu auch erst noch ordnen, aber auf jeden Fall gibt es schon mal vier Sterne: :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5: