Rückentext:
1945. Flucht aus Stettin in Richtung Westen. Ein kleiner Bahnhof irgendwo in Vorpommern. Helene hat ihren siebenjährigen Sohn Peter durch die schweren Kriegsjahre gebracht. Nun, wo alles überstanden, alles möglich scheint, lässt sie ihn allein am Bahnsteig zurück und kehrt nie wieder.
Diese Szene ist der Prolog zum Buch. Dann beginnt Helenes Lebensgeschichte: Aufgewachsen in der Lausitz mit einer psychisch kranken und unberechenbaren Mutter und ihrer älteren Schwester Martha, der sie zärtlich (zu zärtlich?) verbunden ist, erlebt sie als Kind den ersten Weltkrieg, aus dem ihr Vater schwer verwundet heimkehrt und kurz darauf stirbt. Als junge Erwachsene verlassen Martha und Helene die Heimat und ziehen nach Berlin, wo sie sie wilden zwanziger Jahre genießen. Sie lernt ihre große Liebe kennen, aber das Schicksal meint es nicht gut mit ihr. Innerlich zerbrochen geben Helenes Leben in den Jahren der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs nur ihr Sohn und ihr Beruf als Krankenschwester Sinn und Halt.
Helene wurde 10 Jahren nach Martha geboren; die vier in der Zwischenzeit geborenen Söhne sind alle gestorben. In der Zeit ihrer Kindheit empfindet Helene ständig den unausgesprochenen Vorwurf der Mutter, dass die Söhne sterben mussten, während die ungewollte Tochter lebt. Berlin ist zunächst wie ein Kulturschock für sie, und nur langsam gewöhnt sich sich an die andern Regeln und Freiheiten. Nach Jahren des großen Glücks, das jäh endet, heiratet sie einen überzeugten Nazi, der ihr falsche Papiere besorgt, weil sie als Halbjüdin nicht seine Ehefrau werden könnte. Seinen Schikanen ausgesetzt ist sie erleichtert, dass er sich immer mehr von ihr zurückzieht und nach der Geburt des Sohnes von ihr verlangt, dass sie fortan für sich und das Kind selbst zu sorgen hätte.
Das Buch hat mich zwiespältig zurückgelassen. Auf der einen Seite schildert es in leicht lesbarer Art das Lebens Helenes. Sehr anschaulich, persönlich und glaubwürdig. - Ob man aufgrund ihrer Biographie nachvollziehen kann, dass sie ihren Sohn zurückgelassen hat, muss jeder Leser wohl für sich selbst entscheiden. Ich konnte es nicht, aber dieses Gefühl hat nichts mit der Betrachtung des Buches zu tun. - Die Personen sind gut gezeichnet (wenn auch nicht immer klischeefrei), und Helenes privates Umfeld ist lebendig und interessant geschildert, sowohl das Haus ihrer Kindheit als auch später das ihrer Berliner Tante, die große Gesellschaften und ständig wechselnde Herrenbekanntschaften liebt.
Aber: Was mir bei diesem Buch fehlt, ist die Auseinandersetzung mit der politischen Zeit. Abgesehen von der Sache mit den Papieren und einigen deutschtümelnden, rassistischen Sprüchen des Ehemannes verweist nur wenig auf die 40er Jahre. Es könnte sich um jede andere elende Zeit handeln, Naziherrschaft und Weltkrieg sind dienen eher als Zeitkolorit. Helenes Auseinandersetzungen gelten den eigenen Gefühlen, dem persönlichem Umfeld, aber nicht den gesellschaftlichen Verwüstungen, obwohl sie als Krankenschwester oft genug mit Leid und Tod der Soldaten zu tun hat.
Die Autorin hat für dieses Buch den Buchpreis 2007 bekommen. Was den Inhalt angeht: OK. Aber dass für einen deutschen Buchpreis der Umgang mit der Sprache so wenig zählt, erstaunt mich, denn die Autorin hat einige Klöpse formuliert, an denen Bastian Sick andernorts schon seine Freude hatte.
Marie