Christa Wolf Medea - Stimmen [SPOILER]

  • Ich bin gerade auf der Hälfte dieses Buches


    Bisher bin ich wirklich beeindruckt, wie die Autorin es schafft, einen nur durch die Innensicht und scheinbare Gedankenflut mehrerer Personen eine Geschichte zu erzählen, deren Verlauf man erst nach und nach selbst wie ein Puzzle zusammensetzen muss. Jeder neue Satz ein neues Detail und so setzt sich langsam aber sicher ein Bild zusammen.


    Es läuft fast, wie bei einem Krimi oder Thriller ab, nur dass ich einfach mal wild vermute, dass es hier keine nette, saubere Auflösung am Schluss geben wird, oder?


    Ich bin sehr erstaunt, wie sehr ich mich doch auf das Weiterlesen freue und wie gespannt ich darauf bin, was noch passieren wird (passiert ist).



    Aber eine Frage habe ich wirklich: Ich lese das im Rahmen eines Seminars, in dem es um Gesellschaftskritik geht, aber irgendwie fehlt mir bislang der Zugriff zur Gesellschaftskritik in diesem Roman.
    Bislang scheint es einfach eine Geschichte zu sein über Intrigen und Mord und zwischenmenschiche Beziehungen.
    Das Einzige, was bislang durchgesickert ist, ist das Spannungsverhältnis zwischen den beide Volksgruppen Kolcher und Korinther, ihre Unterschiede und ihr Umgang miteinander und ein vielleicht ein wenig emanzipierte Ausrichtung der Autorin???


    Wie falsch liege ich da?


    Hat sich da schon mal jemand Gedanken drüber gemacht?


    Tesoro

  • Zitat

    Original von Tesoro


    Es läuft fast, wie bei einem Krimi oder Thriller ab, nur dass ich einfach mal wild vermute, dass es hier keine nette, saubere Auflösung am Schluss geben wird, oder?


    Na gut, ich hatte Recht. Aber das war ja eigentlich schon klar, bevor ich überhaupt angefangen habe, zu lesen.


    Zitat

    emanzipierte Ausrichtung der Autorin???


    Jaaa, ich glaube, da habe ich ganz richtig gelegen. Jetzt, wo ich durch bin ist mir klar, dass es hier fast ausschließlich über das Verhältnis von Männern und Frauen geht und darum, wie ungerecht eine Frau behandelt wird, die ihren eigenen Kopf durchsetzt, indem sie nämlich in der Mythenbildung zu unrecht als Kindsmörderin dargestellt wird, was sie der Intrige einer neidischen Rivalin zu verdanken hat.


    Ich muss ehlich sagen, dass ich von diesem Plot ein wenig enttäuscht bin, weil ich wirklich davon ausgegangen war, dass da gesellschaftskritisch gesehen noch mehr hinter steckt.
    Aber meine Beschäftigung mit diesem Buch ist ja noch lange nicht am Ende. Ich lese es ja für ein Seminar. Also werde ich mal weiter berichten, was es dazu noch zu sagen gibt.



    Hier noch eine Quelle zum Medea - Mythos, für die, die es interessiert:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Medea



    BIs dann, Eure Tesoro

  • Ich finde diesen sehr ungewöhnlichen Roman einfach großartig. Ich hab ihn vor einiger Zeit gelesen, aber ehrlich gesagt, ich habe mir damals nicht allzuviele Gedanken über eine Interpretation gemacht.
    In erster Linie habe ich einfach diese wunderbare archaische Stimmung, die Christa Wolf heraufbeschwört, genossen (zb. die Schilderung des heiligen Hains oder des Astronomen, der auf dem Turm die Sterne beobachtet, fand ich sehr stimmungsvoll).

    Der von dir angesprochene feministische Aspekt der Mann-Frau-Beziehung war auch für mich eine der Hauptaussagen - neben der Darstellung der Gegensätze zweier unterschiedlicher Kulturen - auf der einen Seite die barbarische, rückständige Welt Kolchis, auf der anderen Seite das kultivierte, aber streng patriachalisch oranisierte Korinth. Es werden aber beide Machtsysteme als grausam dargestellt. In Kolchis pflegt man zwar noch alte matriachalische Traditionen, aber die Gesellschaftsordnung steht vor dem Umbruch (ich kann mich aber nicht mehr genau erinnern, warum Medeas Bruder vom Vater geopftert wird...) - überhaupt wird das Matriachat bzw. diese ursprüngliche Kultur nicht so idealisierend kitischig dargestellt wie oft es oft in der feministischen Literatur der Fall ist.
    Korinth andererseits ist auch nur scheinbar zivilisiert - baut der König seine Macht doch auch auf Gewalt u. Lüge (Opferung der Tochter) auf .


    Ein gesellschaftskritischer Aspekt ist sicher auch die Thematik „Fremdenfeindlichkeit". Medea ist ja den Menschen in ihrer neuen Heimat suspekt, sie wird als Wilde, als Zauberin angesehen und wird immer mehr zum Sündenbock, ob Erdbeben oder Pest alles wird ihr zugeschrieben.


    Wie gesagt, obwohl mich der Roman sehr fasziniert hat, so intensiv habe ich auch mich nicht damit auseinandergesetzt, ich habe solche Interpretationen, wie du sie für dein Seminar schreiben mußt, schon in der Schule nicht sonderlich geliebt.


    Es hat mich jetzt aber doch neugierig gemacht.
    Ich habe ein bisschen herumgeoogelt, man findet ja einiges .Manche Kritiker sehen in den Roman eine Art Schlüsselroman über die Wende 1990 - also Kochis soll für die DDR u. Korinth für die BRD stehen. Hmm, da wär ich nicht draufgekommen, ich finds etwas weithergeholt, aber vielleicht ist an dem Aspekt was dran.
    Es würde mich schon sehr interessieren, was du noch so herausfindest.

  • Was denen nicht alles einfällt! Medea als Schlüsselroman für die Wende? Da muss man erst mal drauf kommen. Von diesem Unsinn möchte ich gern mehr wissen. Gibt es einen Link, @ bibliomania?


    Viel interessanter finde ich die Frage: Ist es erlaubt, eine mythologische Geschichte so zu verändern, dass sie in das Weltbild des Autors passt?


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie
    Christa Wolf hat in ihren Schriften, natürlich bene anderen Dingen, immer wieder das Leben im Schatten der beiden Deutschlands beschrieben, insofern ist die Annahme, daß "Medea" auch die Wende behandelt, nicht sonderlich weit hergeholt.


    Zitat

    In der DDR wurde sie massiv kritisiert wegen ihrer kritischen Haltung, nach der Wende wurde sie öffentlich angegriffen wegen zu grosser Nähe zur Regierung der DDR. Nicht nur Christa Wolf ging es so: Es will scheinen, daß einer ganzen Generation ihre Vergangenheit unter den Händen umgedeutet und zur Verfehlung erklärt wurde.
    Dieses Phänomen ist verbunden mit einem abrupten Wertewandel in einer Gesellschaft, wie ihn die Wende darstellte. Die Um- und Bewertung eines Menschen am Wertemaßstab des "Sieger-Systems" nach einem Wertewandel thematisiert die Erzählung "Medea"


    http://www.informatik.hu-berli…te/wolf/christa-wolf.html
    Auf der Website findet sich eine ausführlichere Betrachtung und Interpretation zu "Medea" (eine von vielen).
    Christa Wolf in eigenen Worten:

    Zitat

    nmz: Als Ihr „Medea“-Roman 1996 erschien, setzte in meinem Freundeskreis eine Diskussion darüber ein, ob er wohl als eine Art Gleichnis auf die deutschen Verhältnisse zu Anfang der 90er-Jahre zu lesen sei – etwa wenn es um jene geht, die aus dem rückständigen Kolchis ins hoch entwickelte Korinth kommen, in eine Welt, in der auf den ersten Blick Wohlstand herrscht, in der ihnen aber nur am Rande ein Platz gewährt wird.
    Bei früheren Werken, etwa „Kein Ort. Nirgends“ oder „Kassandra“ suchten Sie für die eigenen Konflikte nach Modellen in der Geschichte. Ist „Medea“ auch unter diesem Aspekt zu lesen?
    Wolf: Wissen Sie, das ist nicht ganz leicht zu formulieren, weil man immer in Gefahr gerät, solche Fragen zu plump und zu direkt zu behandeln. Natürlich haben diese Problematik und die Konfliktsituation um die Wendezeit herum eine Rolle für mich gespielt, um überhaupt auf diesen Stoff zu kommen. Und mit der Findung, dass für die Medeaproblematik eben nicht der Kindsmord, sondern das Sündenbockmotiv charakteristisch ist, erschien mir der Stoff als der rechte zur rechten Zeit, wo ich das, was mich zu der Zeit bewegte, auch ausdrücken konnte. Nun hat man in einer Reihe von Rezensionen diese Vergleiche sehr direkt vorgenommen: DDR - Bundesrepublik, meine eigene Problematik darin - das ist natürlich viel subtiler. Ich sagte vorhin nicht ohne Grund, dass diese Zwischenzeit, in der ich in den USA war und der Stoff „lag“ - ich hab mich dort zunächst damit beschäftigt, mir sehr viel Material dazu besorgt, aber ihn dann nicht weiter bearbeitet – sehr heilsam war, um aus dieser direkten Verstrickung mit ähnlichen Motivketten herauszukommen. Die Schritte zurückzugehen, die einen Stoff dann „breiter“ machen und verallgemeinerbarer, das war der Prozess, den ich brauchte. Die eigene Konfliktsituation, das ist übrigens bei all meinen Büchern so, steht natürlich im Hintergrund. Sie ist da. Ich könnte nichts schreiben, was mich nicht wirklich selbst betrifft.


    Gruß
    Ute

  • Wenn ich lese, was Christa Wolf darüber sagt, fühle ich mich eher bestätigt. Ich gehe davon aus, dass jeder Autor etwas von sich selbst und seinen Problemen / Überlegungen / Gefühlen / Erlebnissen usw. in seine Bücher einfließen lässt, wobei dies ihm nicht immer ganz bewußt sein muss.


    Aber daraus bei Medea eine "Wendeparabel" zu machen, halte ich für sehr bedenklich - und Christa Wolf anscheinend auch.


    Christa Wolf hat eine eigene Art, sich einem Stoff zu nähern, wie sie schon in den "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra" Anfang der 80er Jahre schrieb. In "Kassandra" ging es um den Krieg; aber diesen beschriebenen Krieg in der Interpretation auf den Kalten Krieg zu verkürzen, ist ebenso einseitig.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Zitat

    Original von Marie


    Ist es erlaubt, eine mythologische Geschichte so zu verändern, dass sie in das Weltbild des Autors passt?


    Ich sage mal, erlaubt ist alles. Ob der Leser damit einverstanden ist, ist eine andere Geschichte. Mythen wurden schon immer umgedeutet und die Wirklichkeit verändert, um eine bestimmte Absicht des Autors zu untermauern. Da sehe ich gar nicht so sehr die Problematik des Romans.


    Die Sache mit der Wende finde ich sehr spannend, aber auch sehr seltsam.


    Ich denke, ein guter Roman sollte auch für sich alleine stehen können und keiner Erklärungen befürfen. Wenn man hier textimmanent interpretiert und Wolf und ihre Zeit und ihre politischen Verhältnisse mal außen vor lässt, dann würde man darauf nicht kommen, oder?


    Und da ich eigentlich ein Verfechter der textimmanenten Interpretation bin, kann ich mit einem solchen Vergleich leider wenig anfangen.


    Nichts desto trotz finde ich den Roman natürlich großartig. Wolfs Stil ist echt atemberaubend.



    Tesoro

  • Marie
    Wolf möchte ihren Roman nicht allein auf eine bestimmte Interpretation festlegen lassen, und das ist mehr als verständlich, besonders, da die Literaturkritiker damals verzweifelt auf der Suche nach DEM deutschen Wenderoman waren, und Wolf eine "geeignete" Kandidatin war, eben diesen zu liefern, wodurch sicher andere Aspekte des Buches in den Hintergrund gedrängt wurden. Aber sie sagt durchaus, daß sie den Stoff gerade wegen seiner Relevanz für die Wendezeit ausgewählt hat. Insofern denke ich nicht, daß dieser Interpretationsansatz als "Unsinn" bezeichnet werden kann. Der einzelne Leser kann persönlich beurteilen, wie wichtig ihm diese Interpretation ist, und als Leser ist man sicher nicht immer imstande, die Grundlage für bestimmte Auslegungen zu sehen, aber das bedeutet zumeist nicht, daß diese Grundlagen nicht da sind, sondern nur, daß sie nicht in das eigene Betrachtungsschema passen.


    Tesoro
    Textimmanente Interpretation ist eine Illusion.


    Gruß
    Ute

  • Ihr macht mich immer neugieriger auf das, was unsere Seminararbeit über den Roman hoffentlich hergeben wird. Ich denke inzwischen sgar darüber nach, vielleicht eine Hausarbeit über das Thema zu schreiben. Das könnte wirklich spannend werden.


    Ich bin immer begeisterter von dem Buch! Da steckt ja richtig Zündstoff drin.





    Ute:


    Das kommt darauf an, wie man "textimmanent" definiert. Ich meine damit eigentlich "close reading", was soviel bedeutet, wie "Nichts in das Buch hineininterpretieren, was der blanke Text nicht hergibt."


    Was ich nicht damit meine ist, dass man einen Text interpretieren könnte, ohne all sein Vorwissen mit einfließen zu lassen... Das ist tatsächlich eine Illusion.


    Tesoro.

  • Mir ist auch der Vergleich zwischen DDR und Colchis aufgefallen. Seite 100 hat die Vermutung bestätigt. In meinem Buch über Griechische Mythologie hat allerdings Medea ihren Bruder auf dem Schiff umgebracht. Muss da noch andere Quellen suchen.


    Gruß,


    Heidrun

  • Tesoro

    Zitat

    Ich meine damit eigentlich "close reading", was soviel bedeutet, wie "Nichts in das Buch hineininterpretieren, was der blanke Text nicht hergibt."


    DAS ist die Illusion. Schon mal was von Palimpsest gehört?


    Gruß
    Ute

  • Musaraigne:


    Welche Ausgabe hast du? in meiner (dtv) sind sie auf Seite 100 gerade auf der Insel von Kirke. Kannst du de Stelle, die Du meinst mal genau zitieren? Das wäre nett von Dir.
    Ute


    Palimpsest:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Palimpsest


    =D>



    Tesoro

  • Hallo zusammen!
    Ich glaube nicht, daß man bei medea mit palimpsest reading rankommt....
    Christa Wolf geht es darum, die geschehnisse VOR aller verschriftlichung herauszuarbeiten, und eben nicht die verschiedensten bearbeitungen mitzuzitieren!


    es gibt da, wie zu Kassandra ein Buch bei dtv: Vorraussetzungen zu einem Text, ISBN 3423128267, 10 Euro.

  • Hallo zusammen,


    ich beschäftige mich im Rahmen einer schulischen Facharbeit mit Christa Wolfs Medea. Ich bin gerade dabei, die Konfigurationen Medeas zu anderen Personen zu beleuchten und es ist eine etwas mühsame, aber spannende Aufgabe. In den bereits erwähnten "Voraussetzungen zu einem Text" sind interessante Interviews mit Christa Wolf, die u.a. auch den Aspekt behandeln, ob man pauschal Kolchis-Korinth= DDR-BRD sagen kann.


    Meiner Meinung nach liegt eine starke Betonung auf dem Konflikt Matriarchat- Patriarchat, dies hat sie in Interviews auch oftmals betont.


    Ihre Biographie findet sich in allen ihren Werken wieder. in ihrem Buch "Ein Tag im Jahr" hat sie geäußert:"Wann werde ich, oder werde ich überhaupt je noch einmal ein Buch über ein frei erfundene Figur schreiben können; ich selbst bin die Protagonistin, es geht nicht anders, ich bin ausgesetzt, habe mich ausgesetzt." (27.September 1993)


    Jörg Magenau hat eine gute Biographie über Christa Wolf verfasst, im Kindler Verlag ist sie erschienen: Außerdem gibt es im Luchterhand Verlag einen Bildband über Wolf, verbunden mit Zeitdokumenten, Briefen etc.


    Was macht denn die Arbeit im Seminar?


    Ich freu mich, dass ich jemanden gefunden habe, der sich mit Medea ebenfalls auseinandersetzt, es ist ja nicht gerade ein allgemein bekannter Bestseller...


    Viele Grüße und bis dann

  • Noch sind wir leider nicht bei "Medea". Wir schlagen uns noch mit Emilia Galotti und deutschland - Ein Wintermärchen rum. Aber wir werden noch hinkommen. Wenn dann berichte ich natürlich sofort!


    Tesoro

  • Dieses Buch muss ich jetzt lesen, es ist für meine Arbeit, bin schon gespannt darauf, es klingt jedenfalls nicht schlecht!


    lg felidae

    Katzen wurden in die Welt gesetzt, um das Dogma zu widerlegen, alle Dinge seien geschaffen um den Menschen zu dienen. :wink: