Gottfried Benn - Morgue und andere Gedichte

  • Jahrzehnte bevor sich KrimiautorInnen von Oduziersälen und Leichensezierungen inspirieren ließen, machte Gottfried Benn sie zum Gegenstand von Gedichten. 1912 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband unter dem Titel "Morgue und andere Gedichte". Er arbeitete zu dieser Zeit als Assistenzarzt in der Pathologie in Berlin, und die Erfahrungen seiner Arbeit flossen in seine Lyrik. (Morgue ist ein Synonym für Leichenschauhaus.) Ebenso sachlich wie die Sektionsberichte, die er täglich verfassen musste, wirken auch die sechs Morgue-Gedichte. Die Toten, von denen die Rede ist, sind keine Persönlichkeiten mehr, sie sind reduziert auf den Körper, den der Pathologe vor sich sieht. Dass diese Art der Literatur damals Aufsehen erregte und man ihr jegliche Ästhetik absprach, liegt auf der Hand.


    Eine Kostprobe:


    Schöne Jugend
    Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
    sah so angeknabbert aus.
    Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
    Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
    fand man ein Nest von jungen Ratten.
    Ein kleines Schwesterchen lag tot.
    Die anderen lebten von Leber und Niere,
    tranken das kalte Blut und hatten
    hier eine schöne Jugend verlebt.
    Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
    Man warf sie allesamt ins Wasser.
    Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!


    Auch aus anderen ärztlichen Berufserfahrungen schreibt Benn seine Gedichte, z.B. Geburt:


    Saal der kreissenden Frauen
    Die ärmsten Frauen von Berlin
    - dreizehn Kinder in anderhalb Zimmern,
    Huren, Gefangene, Ausgestoßene -
    krümmen hier ihren Leib und wimmern.
    Es wird nirgends so viel geschrien.
    Es wird nirgends Schmerzen und Leid
    so ganz und gar nicht wie hier beachtet,
    weil hier eben immer was schreit.
    ...


    oder Krebs:


    Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke
    Der Mann:
    Hier diese Reihe sind zerfallne Schöße
    und diese Reihe ist zerfallne Brust.
    Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.
    ...


    (von beiden Gedichten jeweils nur die Anfänge)



    Auch später macht Benn immer wieder Krankheit, Tod und Vergänglichkeit zum Inhalt seiner Gedichte. Wenn er in die Natur geht und dort Bäume betrachtet, die Stadt schildert, durch die er nachts spaziert, oder einfache Gegenstände wie eine Vase ins Zentrum rückt, bleibt Werden und Vergehen zentrales Thema seiner Lyrik. Wie viele Künstler des Expressionismus befreit sich auch Benn von der althergebrachten Vorstellungen, wie "schöne Literatur" auszusehen hat und wendet sich realen und existentiellen Problemen zu.


    Die Lyriker des Expressionismus faszinieren mich schon seit meiner Schulzeit, und Benn nimmt unter ihnen eine Sonderstellung ein, weil er es fertigbringt, grausame Bilder, erbärmliche innere und äußere Zustände und seinen Zorn dagegen in eine großartige Sprache zu fassen und das auf eine berührende Art.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Ja, das gehört auch zu den Morgue-Gedichten. (Und weil Benn schon über 50 Jahre tot ist - + 1956 -, dürfen wir seine Gedichte hier hemmungslos kopieren).


    Kleine Aster
    Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
    Irgendeiner hatte ihm eine deunkelhellila Aster
    zwischen die Zähne geklemmt.
    Als ich von der Brust aus
    unter der Haut
    mit einem langen Messer
    Zunge und Gaumen herausschnitt,
    muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
    in das nebenliegende Gehirn.
    Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
    zwischen die Holzwolle,
    als man zunähte.
    Trinke dich satt in deiner Vase!
    Ruhe sanft,
    kleine Aster!


    (Geschmacklos? Wasser ist geschmacklos, auch Männer in Feinripp-Unterwäsche sind es, aber ein Gedicht von Benn??? NIEMALS!!!) Benn zu mögen. spricht doch eher FÜR den Geschmack. <= ist jedenfalls meine Meinung.


    Marie


    Marie

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  • Benn ist einer meiner Lieblingslyriker. Seine Gedichte lese ich immer wieder, auch die frühen expressionistischen Verse. So zynisch und abstoßend sie auch auf den ersten Blick wirken, sie haben doch eine ganz eigene Ästhetik. Das merkt man vor allem dann, wenn man sie laut liest. Im folgenden Gedicht werden die Gäste eines Nachtcafès mit dem Blick eines Arztes gesehen und nur auf ihre (abstoßenden) körperlichen Merkmale und Krankheitssymptome reduziert.


    Nachtcafè


    824: Der Frauen Liebe und Leben.
    Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
    Rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
    Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.


    Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
    Winkt einer Lidrandentzündung.


    Fett im Haar
    Spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
    Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.


    Junger Kropf ist Sattelnase gut.
    Er bezahlt für sie drei Biere.


    Bartflechte kauft Nelken,
    Doppelkinn zu erweichen.


    B-moll: die 35. Sonate.
    Zwei Augen brüllen auf:
    Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
    damit das Pack drauf rumlatscht!
    Schluss! He, Gigi!-


    Die Tür fließt hin: Ein Weib.
    Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
    Keusch. Höhlenreich. Ein Duft kommt mit.
    Kaum Duft.
    Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft
    Gegen mein Gehirn.


    Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.


    Aber wer mit der expressionistischen Phase Benns vielleicht nicht viel anfangen kann, sollte sich auf alle Fälle seine spätere Lyrik ansehen, die zumeist wieder dem klassischen Reimschema folgt. Hier finden sich viele wunderbare Gedichte wie „Astern“, „Primäre Tage“, „Epilog“, „Abschied“, um nur einige wenige zu nennen. Das vorgestellte Buch mit sämtlichen Gedichten Benns lohnt sich!


    Gruß mofre

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Gottfried Benn ist mir in Form des Gedichtes Morgue - Schöne Jugend am Wochenende wieder in die Hände gefallen. Ich finde es einfach nur ekelig. Hab es meiner Mutter vorgelesen, und sie fand's nicht minder ekelig :(

    Um zu verstehen, warum manche überall ihren Senf dazugeben, musst Du lernen, wie eine Bratwurst zu denken.

  • Ich bin ja keine Fachfrau, ich versuche es mit eigenen Worten zu beschreiben.
    Ich mag gerade diese Unvereinbarkeit an Benn. Also dieses Nüchterne, Realistische, ja oft aus der Medizin entnommenen Bilder, die sich oft beißen, gepaart mit altbewährten Bildern. Gedichte mit dem Schwerpunkt "Herz-Schmerz", Nostalgie, die schöne Rose, meist auch die Reimform usw., die lassen mich ziemlich kalt, darauf kann ich nicht mehr reagieren. Als ich damals in der Leselupe aktiv war, da haben wir extrem nach neuen Bildern gesucht. Ist gar nicht so einfach, weil schon ziemlich alles geschrieben wurde, und Benn sticht da ganz eindeutig aus dem Rahmen.

  • kampfguerkchen, Gottfried Benn hat als junger Arzt zwei Jahre lang in der Pathologie gearbeitet und den täglichen Anblick von Zerstörung, Tod und Verwesung dichterisch verarbeitet. Nach meinem Empfinden ist ihm das auf eine neue und ganz eigene ästhetische Art gelungen. Die Kunst umfasst alle Bereiche des Lebens, auch die dunklen, abstoßenden und ekelhaften. Und jede Zeit muss für ihre Erfahrungen Ausdrucksformen und Bilder finden. Die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts - Industrialisierung, Technisierung und der Verlust des Glaubens - spiegeln sich in der nüchternen, realistischen und zynischen Lyrik Benns wider. Diese Art der Poesie wäre zuvor gar nicht möglich gewesen. Leichenschauhäuser und Obduktionen gab es zwar schon seit Jahrhunderten, aber das Abbild Gottes in dieser Weise darzustellen, hätte Gotteslästerung bedeutet.


    @ Buchkrümel, nach wie vor lese ich die Lyrik aller Jahrhunderte sehr gern. Denn die grundsätzlichen menschlichen Empfindungen sind doch immer die gleichen geblieben: Liebesglück und Liebesschmerz, Lebensfreude und Lebensüberdruss, Einsamkeit, Trauer und Verlust. Ich finde, dass zum Beispiel Goethes Gedicht „Neue Liebe, Neues Leben“ immer noch eine gültige Beschreibung des widerspruchsvollen, ruhelosen Zustand der Verliebtseins ist oder dass das Gedicht „Sehnsucht“ von Eichendorff besonders gut das Gefühl des Fernwehs ausdrückt, auch wenn Sprache und Bilder altmodisch sind. Nur mit Hölderlin habe ich Schwierigkeiten. Dessen Gedichte sprechen mich überhaupt nicht an.


    Um auf Benn zurückzukommen, er hat später dann Gedichte im herkömmlichen Reimschema geschrieben. Hier eins seiner berühmtesten:

    Astern


    Astern -, schwelende Tage,
    alte Beschwörung, Bann,
    die Götter halten die Waage
    eine zögernde Stunde an.


    Noch einmal die goldenen Herden
    der Himmel, das Licht, der Flor,
    was brütet das alte Werden
    unter den sterbenden Flügeln vor?


    Noch einmal das Ersehnte,
    den Rausch, der Rosen du -,
    der Sommer stand und lehnte
    und sah den Schwalben zu,


    noch einmal ein Vermuten,
    wo längst Gewissheit wacht:
    die Schwalben streifen die Fluten
    und trinken Fahrt und Nacht.


    Gruß mofre

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

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  • @ Buchkrümel, nach wie vor lese ich die Lyrik aller Jahrhunderte sehr gern. Denn die grundsätzlichen menschlichen Empfindungen sind doch immer die gleichen geblieben: Liebesglück und Liebesschmerz, Lebensfreude und Lebensüberdruss, Einsamkeit, Trauer und Verlust. Ich finde, dass zum Beispiel Goethes Gedicht „Neue Liebe, Neues Leben“ immer noch eine gültige Beschreibung des widerspruchsvollen, ruhelosen Zustand der Verliebtseins ist oder dass das Gedicht „Sehnsucht“ von Eichendorff besonders gut das Gefühl des Fernwehs ausdrückt, auch wenn Sprache und Bilder altmodisch sind. Nur mit Hölderlin habe ich Schwierigkeiten. Dessen Gedichte sprechen mich überhaupt nicht an.


    Ich bin dafür höchstwahrscheinlich noch zu sehr in meiner Sturm und Drang Phase, oder eine Suchende. Mittlerweile verspüre ich zwar immer öfter Ruhe und Gelassenheit, deshalb lese ich auch so gerne Klassiker, aber die ganz große Ruhe für Lyrik, die verspüre ich noch nicht.


    PS Das soll jetzt nicht als Verallgemeinerung verstanden werden, ganz einfach nur subjektiv :wink:

  • @ kampfgürkchen, eins Deiner bevorzugten Genre ist doch Horror, ein Genre, das mit Ekeldetails nicht kleinlich ist. Oder darf Ekel / Horror nur in Prosa und nicht in Lyrik ausgedrückt werden?


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


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  • Marie; Du hast Recht, aber das ist einfach nur ekelig. Circa so, als würde ich meinen Kopf in ein Festival-Dixie stecken ;)


    Zumindest meine Ansicht. Horror und ekelig ist doch nicht zwangsläufig das gleiche, oder? Ich meine, okay, diese lyrischen Ausgüsse zu lesen mag für mich der Horror sein, aber nicht der, den ich mag ;)


    Ich hoffe, dass ich mich nach 4 Stunden Schlaf einigermaßen ausdrücken konnte,


    liebe Grüße


    kampfguerkchen

    Um zu verstehen, warum manche überall ihren Senf dazugeben, musst Du lernen, wie eine Bratwurst zu denken.

  • Ich meine, okay, diese lyrischen Ausgüsse zu lesen mag für mich der Horror sein, aber nicht der, den ich mag


    Was beweist, dass die Realität "ekliger" sein kann als die Fiktion, denn Benns Morgue-Gedicht bezogen sich auf Fälle, die er tatsächlich in der Pathologie auf dem Tisch hatte.


    (Für das Wort "Aus"güsse mache ich - wohlwollend - Deinen Schlafentzug verantwortlich.)


    Marie

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