Orhan Pamuk - Schnee / Kar

  • Kaum ist Ka aus dem Exil in die Türkei zurückgekehrt, da soll er in seinem Geburtsort über eine merkwürdige Selbstmordserie berichten. Doch ein schrecklicher Schneesturm trennt die anatolische Provinzstadt von der Außenwelt. Ka ist auf sich selbst gestellt und erlebt auf Messers Schneide die Widersprüche von Orient und Okzident - ein Roman über Kunst, Liebe, Macht und die Frage nach Gott.


    ...und auch die politischen Verhältnisse. Auch wenn sich Ka aus eben diesen Verstrickungen heraus halten möchte, denn er hat auch im politischen Exil in Frankfurt diesen Trend der Entpolitisierung erlebt, so bleibt ihm in diesem Armenhaus in der Türkei, weitab von den industrialisierten, großstädtischen oder vom Tourismus erschlossenen Gebieten des Westens, als Mann aus der Stadt, keine andere Wahl als sich auf die Verhältnisse einzulassen. So tritt dann die Selbstmordserie, die die Männer sich nicht erklären, auch bald in den Hintergrund der Handlung und es stehen mehr und mehr die Konflikte zwischen dem laizistischen/kemalistischen Staat und den Islamisten im Mittelpunkt, während kurdische Separatisten und Linke an Bedeutung verloren haben. Mit in diesem Konflikt befindet sich auch Ka - der sich zwar unpolitisch zwischen den Fronten bewegen möchte, aber sich nicht dagegen wehrt, dass er von beiden Seiten instrumentalisiert wird. So sehr, dass auch seine Lebenshoffnung, die Liebe zu Ipek, einer alten Studienkollegin und Mitgrund nach Kars zu reisen, zerbricht. Denn auch wenn der lokal inszenierte Putsch von Geheimdienstleuten, Militärs und einer Schauspieltruppe eben nur lokal begrenzt ist, so gibt es jedoch die - in der türkischen Geschichte ja häufiger vorkommenden - Erschießungen, Verhöre, Festnahmen, Razzien usw. in denen endlich die vom Staat, in seiner Sammelwut, aufgehäuften Informationen verwendet werden können.
    Interessant bei der Erzählhaltung ist, dass zwar anfangs weitestgehend aus Ka's Sicht berichtet wird, später jedoch immer mehr der Schriftsteller selbst über seinen Freund berichtet bzw. seine eigenen Erfahrungen mit den Nachforschungen über seinen Freund Ka mitteilt - denn schon recht bald wird verraten, dass dieser erschossen wurde. Am Ende schließlich wird der Roman zu einem Erlebnisbericht Orhans in Kars - der sich allerdings natürlich nicht so sehr in die lokalen Verhältnisse verstrickt, auch wenn durch seine Verliebtheit in Ipek Parallelen aufgezeigt werden.


    Es gefällt, dass Pamuk in seinem Werk eine Vielzahl von Thematiken anspricht (neben den oben aufgezählten z.B. Kopftuchverbot, Entrechtung der Frau, inneres Gleichgewicht -> Schnee u.a.), wodurch das doch recht umfangreiche Buch (512 Seiten) nicht allzu langatmig wirkt. Die vielen Facetten lassen einen tatsächlich etwas mehr über gewisse aktuelle (und historische) Konflikte begreifen. Meines Erachtens nen sehr lesenswertes Buch, das begeistert und das auch nen Stück weit nachvollziehen lässt, weswegen der Autor den Nobelpreis für Literatur erhielt.

    Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche?
    - Weil ich den Menschen spüre, den ich suche.

    - Erich Mühsam

  • :thumleft: Tolle Vorstellung für ein tolles Buch, das eigentlich sehr vielschichtig ist, so viele Themen anschneidet. Neben der politischen Ebene sehe ich auch einige wunderbare Passagen über die religiöse Suche. Dabei gab es sogar Stellen, die mich an Dostojevski erinnerten...


    Hat man sich auf diese "ganz andere Welt" eingelassen wird einem manches der heutigen Türkei (und eventuell in anderen Formen auch anderen Ländern) klarer. Pamuk schreibt aber nicht nur von interessanten Dingen, er schreibt auch gut. Das war mein erstes Buch von ihm, und weitere folgen. Dicke Empfehlung für den vorgewarnten Leser!

  • Jep,ganz großartiges Buch. Tolle (poetische) Sprache, vielschichtig und - was mich am allermeisten freut - die Art und Weise, wie Pamuk bestimmte Themen zur Sprache bringt und dabei alle Seiten und Perspektiven der gesellschaftlichen und politischen (und dabei heftig diskutierten) Probleme beleuchtet, ohne sich auf eine einzige festzulegen, was bei solchen (politischen) Werken ja eine große Gefahr darstellen kann. Ansonsten wurde ja eh schon alles gesagt :)

    "Da hast du das Leben. Immer ein bisschen an der Fiktion vorbei."

  • Klappentext:
    Kaum ist Ka aus dem Exil in die Türkei zurückgekehrt, da soll er in seinem Geburtsort über eine merkwürdige Selbstmordserie berichten. Doch ein schrecklicher Schneesturm trennt die anatolische Provinzstadt von der Außenwelt. Ka ist auf sich selbst gestellt und erlebt auf Messers Schneide die Widersprüche von Orient und Okzident - ein Roman über Kunst, Liebe, Macht und die Frage nach Gott.


    Das erste Buch, welches ich von Orhan Pamuk gelesen habe, war "Istanbul" und es hat mir wirklich gut gefallen.Dann habe ich vor einem Jahr "Schnee" begonnen, aber irgendwann abgebrochen, weil ich zu dem Zeitpunkt nicht die Konzentration hatte, es weiter zu lesen. Jetzt habe ich wieder angefangen und komme ganz gut voran.
    Es ist sehr vielschichtig (Kopftuchverbot, Islamismus, Liebe, das Leben eines türkischen Dichters in Deutschland), und hat eine tolle, symbolische Sprache.
    Im Mittelpunkt für Ka steht die Suche nach dem Glück und die Liebe zu seiner Ipek.

    Verstehst du, was es heißt, irgendein bescheuertes kleines Musikstück oder eine Band so maßlos zu lieben, dass es wehtut?
    (Almost Famous)

  • Autumn, hab' mir erlaubt Deinen Beitrag an den beeits bestehenden Thread anzuhängen. Wusstest Du eigentlich, dass wir auch eine Suchfunktion und einen Rezensionsindex haben? :wink: 8)


    Ähm ja! Aber ich dachte, wenn ich das Buch gerade lese, das man im "Ich-lese-Gerade" Bereich posten soll, da ich das Buch ja noch nicht beendet habe.

    Verstehst du, was es heißt, irgendein bescheuertes kleines Musikstück oder eine Band so maßlos zu lieben, dass es wehtut?
    (Almost Famous)

  • Ähm ja! Aber ich dachte, wenn ich das Buch gerade lese, das man im "Ich-lese-Gerade" Bereich posten soll, da ich das Buch ja noch nicht beendet habe.

    :friends: Darauf bin ich auch schon reingefallen. :uups: tut mir leid, dass dir das nun meinetwegen auch passiert ist. Deshalb funktionierte auch der Link im "Die nächsten Bücher die ihr lesen wollt" nicht :idea:


    Vielen Dank aber für den Zwischenbericht :friends:

    Das Missliche an neuen Büchern ist, dass sie uns hindern, die alten zu lesen.
    J.Joubert

  • Wie @musikzimmer und @tom leo bereits erwähnten, ist „Schnee“ ein ziemlich komplexes, vielschichtiges Buch, in dem eine Vielzahl unterschiedlicher Themen aufgegriffen werden:


    Der Roman ist zum Teil eine Liebesgeschichte: der Dichter Ka kommt nach Kars, um Ipek wieder zu sehen. Sofort verliebt er sich wieder in die schöne Frau mit den grünen Augen. Doch Ka ist überzeugt, dass das Schicksal Glück im Leben immer ausgleicht und Schmerz und Verlust nicht lange auf sich warten lassen.
    Der Roman befasst sich mit religiösen Themen: der Atheist Ka trifft unter anderem auf religiöse Studenten, islamische Terroristen, gemässigte Gläubige und Säkularisten, und beginnt zunehmend selbst an Allah zu glauben.
    Der Roman handelt auch von familiären Krisen: Ka beginnt seine Reise nach Ka, um über die dortige Serie von Selbstmorden zu berichten. Junge Frauen haben sich scheinbar im Streit über das Kopftuchverbot umgebracht. Nach einigen Recherchen ermittelt er weitere Motive und es stellt sich heraus, dass Frauen innerhalb der Familien wenig ihren eigenen Willen und Freiraum haben, und die Ehre und der Ruf der Familie im Vordergrund stehen.
    Der Roman greift zudem diverse innenpolitische, türkische Konflikte auf: Im eingeschneiten Dorf kommt es zu einem Putsch, ein Attentat findet statt, Panzer fahren auf – aber die Einwohner Kars sind an derlei Umstürzen gewohnt, und wissen, dass die laizistischen Militärs der Regierung in Istanbul einrücken werden, sobald der Schnee die Zufahrtsstrassen wieder freigibt. Die bewegte Geschichte der Region, in der unterschiedliche Volksgruppen leben (Türken, Kurden, Armenier, Russen, …), der Konflikt zwischen Städtern (insbesondere dem „westlichen“ Istanbul) und dem Land (Kars liegt weit im Osten, nahe der georgischen Grenze), generell die Spannungen zwischen dem “zivilisierten Westen“ (allen voran Deutschland, wohin Ka ins Exil geflohen ist) und dem „verarmten, vielleicht zurückgebliebenen, aber keinesfalls dummen“ Osten – ein paar Hintergrundinfos zu Laizismus, Kemalismus, Sufismus, zum Türkisch-Armenischen Krieg, usw sind hilfreich. Man kann den Roman auch so gut lesen und verstehen, aber ich habe eine Menge Informationen im Internet nachschauen „müssen“, was, so behaupte ich mal, mir geholfen hat, die Geschichte noch besser zu verstehen.


    Ach ja! Ich will ja wirklich nicht übertreiben, aber der Roman beinhaltet noch ein paar andere Themen, und das für mich wichtigste und interessanteste Thema war der Kontrast zwischen Schein und Wirklichkeit. Kas Blick in die Welt ist die eines Poeten - die Stille des ständig fallenden und überall präsenten Schnees passt gar nicht zur Gewalt des Putsches und der Atmosphäre im Dorf. Sein Rückblick auf sein Leben als Einzelgänger im Exil in Frankfurt scheint mir etwas zu romantisch zu sein, denn eigentlich ist er verzweifelt auf der Suche nach Liebe und auch seine Schreibblockade löst sich erst wieder in Kars. Es gibt viele Motive, die zunächst freundlich beschrieben werden – und die dann in der Realität ganz anders erscheinen (teils erst im Nachhinein, teils haben sie direkt einen „Gegenpol“). Allerdings passt das auch ein wenig zu Kas Auffassung, dass Glück und Unglück, Gutes und Schlechtes, sich immer in Waage halten.


    Jetzt ist mein Kommentar schon deutlich länger geworden als geplant, aber einen weiteren Aspekt möchte ich doch noch nennen: das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit. Ka fallen in Kars Gedichte ein, wie der Schnee vom Himmel. Überhaupt ist deren Anordnung als Schneekristall ein Thema für sich. Interessanter noch fand ich die Auswirkungen der beiden Theaterstücke auf das Leben im Dorf (ich möchte hier nicht zu viel verraten, aber wer den Roman gelesen hat, würde sagen, das ist ja wohl naheliegend). Allerdings gefiel mir die „Pointe“ der zweiten Aufführung, in der sich der erfolglose Schauspieler Sunay die Rolle seines Lebens zurecht schreibt. Genialer Einfall auch, dass der Zeitungsverleger Artikel für die Ausgabe des nächsten Tages schreibt, und dabei seherische Fähigkeit entwickelt, oder zumindest die weitere Entwicklung mitgestaltet.


    Thematisch habe ich die Handlung wohl genug umrissen. Zur Struktur kann ich sagen, dass der gut 500 Seiten starke Roman in 44 leicht lesbare Kapitel unterteilt ist. Es finden ein paar Zeitsprünge und Perspektivenwechsel statt, allerdings lässt sich das Buch erstaunlich leicht lesen. Als Leser muss man sich dennoch wegen der Thematik und den vielen Anspielungen und Leitmotiven konzentrieren, ein Buch zum nebenher lesen ist es mit Sicherheit nicht.
    Auf jeden Fall gehört der Roman zu meinen Jahreshighlights. Pamuk schafft es mit überraschender Leichtigkeit ein komplexes Bild über das Leben in Kars zu erstellen, und erfreulicherweise auch alle Seiten zu Wort kommen zu lassen; er richtet und bewertet nicht, sondern lässt alle Gruppierungen irgendwie ihre Sichtweise darstellen.
    Wenn man dann noch, wie ich, Freude an Farbsymbolik (grüne Augen, das grüne Gedichtheft, blau leuchtender Schnee, Lapislazuli, lila Kopftuch, usw) und Leitmotiven (Schnee, überall und als Metapher für Individualität) hat, der sollte hier zugreifen. Ähnlich wie bei Kafka, kann man daher sehr viel in die Erzählung hinein interpretieren, beim erstmaligen Lesen etwas übersehen, oder nach ein paar Jahren neue Perspektiven entdecken.
    Sehr empfehlenswert!

  • Der türkische Dichter Ka kehrt anlässlich des Todes seiner Mutter nach Jahren in Deutschland in die Türkei zurück, zunächst nach Istanbul, später reist er nach Kars/Ostanatolien, vorgeblich um über die Selbstmorde junger Frauen und die regionalen Wahlen zu berichten, in erster Linie jedoch um seine Jugendliebe Ípek wiederzusehen und vielleicht für sich zu gewinnen.


    Kaum ist Ka in Kars angekommen, wird der Ort durch starken Schneefall von der Umwelt abgeschnitten und Ka wird in die Probleme der verschiedenen örtlichen Gruppierungen – Säkularisten, Islamisten, Kurden, religiöse junge Frauen, Vorbeter- und Predigerschüler etc. – hineingezogen. Schließlich kommt es sogar zu einer Revolution.


    Orhan Pamuk, der 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt, hat diesen Roman bereits 2002 geschrieben. Als Leser erfährt man viel über die Geschichte der Türkei und ihre Probleme, es wird viel diskutiert über Religion und Glauben, der Roman bietet Stoff zum Nachdenken und animiert durchaus dazu, sich selbst ein bisschen weiter zu informieren.


    Was genau der Autor mir sagen will, konnte ich jedoch nicht ermitteln, klar scheint jedoch eine sozialkritische Komponente zu sein. Es fiel mir sowieso relativ schwer, den Roman zu Ende zu lesen, denn Orhan Parmuk schreibt sehr ausführlich, geradezu ausschweifend, kommt oft nicht zum Punkt, einiges wiederholt sich, manches erscheint mir wenig nachvollziehbar, dann wieder kommen Passagen, die mich doch fesseln und zum Weiterlesen bringen. In der Mitte des Buches kommt sogar so etwas wie Spannung auf, es wird geschossen, Menschen sterben, es gibt eine Revolution, leider hält diese Spannung nicht lange an.


    Leider blieben mir alle Charaktere seltsam fremd, fast schienen sie Stereotypen und keine echten Menschen zu sein. Die gesellschaftlichen Probleme nehmen den größten Teil der Handlung ein, die Liebesgeschichte wirkt daneben fast schon störend, etwas interessanter sind da schon die Selbstfindungsprobleme Kas. Nicht Ka ist der – oft vorgreifende – Erzähler, sondern Pamuk selbst, der einige Jahre nach den Ereignissen auf Kas Spuren wandelt, Ka persönlich gekannt haben will und nun die Geschehnisse aufzeichnet. Gut gefallen hat mir der Humor, der immer wieder zu erkennen ist, leider hat auch er die Geschichte nicht gerettet.


    Die Geschichte selbst ist eigentlich interessant und spannend, leider nimmt die Erzählweise nahezu jegliche Spannung und dem Leser auch ein gut Teil Lesefreude. Ich vergebe daher nur 2,5 Sterne, die ich nicht aufrunden möchte. Empfehlen kann ich den Roman nicht, obwohl es sicher Leser geben wird, die ihn gerne lesen.