Antonio Tabucchi - Erklärt Pereira. Eine Zeugenaussage

  • Originaltitel: Sostiene Pereira


    Inhaltsangabe (nach Amazon von Buch der 1000 Bücher, gekürzt)
    Schauplatz ist Lissabon im Sommer 1938 zur Zeit der Salazar-Diktatur. Pereira, verantwortlich für die neue Kulturseite der katholischen Abendzeitung Lisboa, sucht einen freien Mitarbeiter, der Nachrufe auf bedeutende Schriftsteller schreiben soll. Er stellt den begabten, jungen Monteiro Rossi an, der gerade seine Dissertation in Philosophie publiziert hat und dringend Geld benötigt. Sein erster Nachruf auf den spanischen Schriftsteller Federico Garía Lorca (1898–1936), der von seinen politischen Gegnern ermordet wurde, ist wegen seiner antifaschistischen Ansichten »nicht zur Veröffentlichung geeignet« und würde niemals die Zensur passieren. Obwohl Pereira auch alle weiteren Nachrufe Monterios wegen ihres revolutionären Inhalts für unbrauchbar hält, bewahrt er sie auf und bezahlt Monteiro für seine Arbeit.
    Das bisher ruhig verlaufene Leben des unpolitischen Pereira, der in der Vergangenheit lebt, wird durch die Nachrufe seines Mitarbeiters und durch weitere Begegnungen mit regimekritischen Menschen in seinen Grundfesten erschüttert. Die Freiheitsideale Monteiros erwecken das Interesse des alternden Journalisten am Leben und an den gegenwärtigen politischen Ereignissen. Monteiro gelingt es, ihn zu überreden, einem spanischen Widerstandskämpfer ein sicheres Versteck zu besorgen.


    Pereira ist ein Mann im Alter von ca. 50 Jahren, ein Einzelgänger, der das, was ihn bewegt, mit einem Foto seiner verstorbenen Frau bespricht, der immer dasselbe Café besucht, dort immer das gleiche isst und trinkt (Omelette und Limonade). Er ist übergewichtig, kurzatmig, herzkrank und übersetzt für seine Zeitung französische Literatur ins Portugiesische. Von den politischen Umwälzungen bekommt er nur am Rande etwas mit; sie interessieren ihn zunächst nicht.


    Pereira erklärt, er habe ihn an einem Sommertag kennengelernt. ... Pereira scheint sich in der Redaktion aufgehalten zu haben, er wußte nicht, was er tun sollte, der Herausgeber war auf Urlaub, und er befand sich in der unangenehmen Situation, die Kulturseite zusammenstellen zu müssen, ... So beginnt das Buch. Es scheint also einen unbekannten Erzähler zu geben, dem Pereira erklärt, was in den letzten Monaten geschehen ist.
    Durch diese ungewöhnliche Erzählperspektive erreicht der Autor sowohl die Unmittelbarkeit einer Ich-Erzählung als auch die Sicht von außen durch einen unbeteiligten Zuhörer. Man fragt sich das ganze Buch über, wer es ist, der Pereiras Zeugenaussage aufnimmt, aber erst im Nachwort lüftet der Autor sein Geheimnis, das gleichzeitig Pointe ist und den Leser rundherum zufrieden stellt.
    (Leider wird es von Amazon in der Artikelbeschreibung und dem Zitat aus dem Buch der 1000 Bücher verraten.)


    Ein Buch, das mir rundherum gut gefallen hat, trotz des schweren Themas leicht und trotz des politischen Inhalts persönlich. Sehr empfehlenswert.



    Zum Autor:
    Antonio Tabucchi (* 23. September 1943 in Vecchiano bei Pisa) ist ein italienischer Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer.
    Tabucchi studierte Geisteswissenschaften in Paris und Pisa. An der Universität Genua wurde er Professor für die portugiesische Sprache und Literatur. Sein Werk Erklärt Pereira (Sostiene Pereira), das in der Zeit der Salazar-Diktatur spielt, machte ihn bekannt und gilt bis heute als seine wichtigste Arbeit. Es wurde 1995 von Roberto Faenza mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt. (kopiert bei wikipedia)
    Der Film wird am 6.11. um 23.25 in Bayern 3 gesendet.


    Das Buch gibt es auch als Taschenbuch für 8,00 €; diese Ausgabe habe ich wegen des passenderen Covers gewählt.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Hallo Marie,


    die Rezension zieht einen schon in den Bann, wirft Fragen auf und macht neugierig.


    Warum finde ich solche Bücher nicht? Warum ist die Trefferquote der BücherTreffler mindestens genauso hoch wie meine eigene? Ich verbringe so viel Zeit in Buchhandlungen oder bei Amazon... *seufz*


    VG Tanni

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • Stimmt, Marie! Ich habe dieses Buch vor einiger Zeit auch gelesen und hervorragend gefunden. Die ungewöhnliche Erzählperspektive und der dadurch verbundene Erzählstil "erleichtern" die Behandlung des und das Verständnis für das eigentlich doch sehr ernste Thema.

  • Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine mich erinnern zu können, dass übernächstes Wochenende - oder im Verlaufe der dazugehörigen Woche auf irgendeinem Programm eine Verfilmung des Buches im Spätprogramm kommt. Oder war es die Besprechung einer Neuverfilmung. Es müsste aber auf jeden Fall in der neuen HÖRZU gewesen sein. :scratch:

  • Zitat

    Original von Marie
    Es wurde 1995 von Roberto Faenza mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt. (kopiert bei wikipedia)
    Der Film wird am 6.11. um 23.25 in Bayern 3 gesendet.


    wie ich bereits sagte.


    Marie

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  • Nach eineinhalb Jahren wird es Zeit, den Fred wieder mal hervorzuholen! Hatte damals dieses Buch vorgemerkt, aber eben erst jetzt gelesen (was lange währt...), und kann mich nur der Beschreibung Maries und den Empfehlungen anschliessen.


    Es ist ein langsames Wachsen an politischer Aufmerksamkeit, das hier geschildert wird! Zunächst scheint Pereira auf einem anderen Planeten zu leben, kriegt nichts mit, obwohl er doch "für die Zeitung" schreibt. Selektive Wahrnehmung? Bewußtes Weghören, -sehen? Dann scheint er fast nur mitzurutschen, in einer ersten Zeit, in einer rein menschlichen Solidarität mit dem politisch aktiven Monteiro. Irgendwo wächst nun aber nicht nur eine politische Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch fast eine neue Art zu leben, Leben zu genießen. Bedarf es dann des gewaltsamen Todes eines Aktivisten, um den ehemals trägen Pereira zum Brüllen und Handeln zu bringen?


    Beeindruckend und empfehlenswert! Entdeckt das Buch selbst!

  • Das Buch habe ich vor vielen Jahren gelesen -und habe es in sehr guter Erinnerung :thumright: . Ich habe es damals meinem Vater geschenkt -vielleicht leihe ich es mir zum "Wiederlesen" mal aus.


    :winken:

  • ich hatte mir das Buch auch nach Maries Rezension besorgt, es musste viel zu lange auf meinem SUB verweilen!


    Ich kann mich den anderen Postings nur anschließen, ein großartiges Buch, bei dem die leichte Lesbarkeit (ich hatte es in einem halben Vormittag durch) nicht über den Anspruch des Inhalts hinwegtäuscht. Die politische Bewusstseinswerdung vom zurückgezogen, einsamen, in der Vergangenheit lebenden Pereira zum regimekritischen, und letztlich auch aktiven Widerstandskämpfer wird ganz subtil und in kleinen Schritten in Form eines Protokolls erzählt, das mit den Worten „Pereira erklärt...“ beginnt und mit „... erklärt Pereira“ endet. Dazwischen wiederholen sich diese beiden Worte ständig, degradieren aber niemals zur nervigen Wendung sondern geben dem Bericht den Anschein eines Verhörs und entwickeln eine beklemmende Sogwirkung, der man sich nur schwer entziehen kann.



    Absolut empfehlenswert!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

    Einmal editiert, zuletzt von Rosalita ()

  • Mittlerweile habe ich auch die Verfilmung gesehen (mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle) und fand sie sehr gelungen! Tolle Kameraführung, tolle Schauspieler, mit der Musik von Ennio Morricone. Der Film hält sich sehr streng an die literarische Vorlage, wenn auch die Entwicklung des Protagonisten im Film format-/zeitbedingt nicht so tastend, nicht so überzeugend rüberkommt wie im Buch. Trotzdem sehr sehenswert!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


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  • Pereira erklärt, das er ein in die Jahre gekommener Journalist ist und als Redakteur eines "Kultur" Teils einer portugiesischen Zeitung im Jahr 1938 arbeitet. Als solcher ist er meist nur mit Übersetzungen aus der Französischen Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt und führt diese als Serien zusammen mit dem gelegentlichen Nachruf einiger Schriftsteller die verstorben sind.


    Tabucchi erklärt dies nicht unbedingt in so vielen Worten, aber es ist offensichtlich das Pereira nicht wirklich in Kontakt ist mit dem was rund um ihn gerade passiert; um solche Dinge wie den Spanischen Bürgerkrieg zu bemerken oder das sich sein eigenes Land in eine faschistische Diktatur gewandelt hat. Bis er einen jungen Mann anheuert ihm zu helfen die Todesanzeigen zu schreiben. Man will ja schließlich vorbereitet sein. Dieser liefert einige Stücke umstrittener (realer !), Schriftsteller des 20.sten Jahrhunderts wie Federico Garcia Lorca oder Wladimir Wladimirowitsch Majakowski die Pereira erklärt nicht drucken zu können. Warum? Nun, weil...


    ...weil eine Stärke, eine Macht ist in Literatur in Zeiten von Unterdrückung, wie er selbst entdeckt als er "seine" alte Franzosen wieder beginnt zu lesen, im Licht dessen was die jungen Leute die er trifft ihm über Spanien erzählen, und von Europa. Und die Frage ist wie neutral kann man selbst angesichts dessen bleiben?!


    Pereira ist ein liebenswerter Charakter, allerdings lebt er auch in einer gewissen Selbstgefälligkeit und tut so als ob die Welt um ihn herum keinen Einfluß auf ihn hat. Die Art wie er denkt und handelt ist apolitisch, trügerisch sich selbst gegenüber aber wahrscheinlich gar nicht so weit hergeholt wenn man bedenkt in welcher Zeit der Roman spielt.


    Siebentagebuch erklärt das es ein wunderbarer und auch sehr wichtiger Roman ist den er sehr schätzt.

  • Am letzten Sonntag, den 25.3. ist Antonio Tabucchi im Alter von 68 Jahren gestorben, hier nachzulesen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Doktor Pereira ist Leiter der Kulturredaktion der neuen, kleinen und katholischen Lissaboner Abendzeitung Lisboa, die hauptsächlich Gesellschaftsnachrichten bringt und samstags eine Kulturseite. Doktor Pereira ist einziger Mitarbeiter der Abteilung und sein Büro befindet sich in einem kleinen 1-Zimmer-Apartment, abseits der Verlagsbüros.

    Es ist der 25. Juli des Jahres 1938 in Lissabon und rein zufällig blättert Doktor Pereira in einer avantgardistischen Literaturzeitschrift, die auch einen Philosophieteil hat und liest einen Artikel über den Tod von Francesco Monteiro Rossi. So kommt ihm der Gedanke, dass die Kulturredaktion einen freien Mitarbeiter bräuchte, der eine ständige Kolumne betreute und zwar jene der Nachrufe.

    Er trifft sich mit dem jungen Philosophen und lernt auch Marta kennen. Doktor Pereira und der junge Philosoph kommen ins Gespräch und Monteiro Rossi nimmt sein Angebot an und verspricht, gute Texte zu verfassen. Doch was kommt, ist unbrauchbar und kann nicht veröffentlicht werden.

    Portugal befindet sich politisch im Umbruch. Diktator Salasar hat die Macht an sich gerissen, man unterstützt die Nationalisten in Spanien und ist dem Deutschen Reich wohlgesonnen.

    Auf der Zugfahrt zu seinem Freund lernt Doktor Pereira eine jüdische Deutsche kennen wird durch sie bei einem Gespräch direkt mit der Realität konfrontiert, vor der er sich in seiner Kulturredaktion zu verstecken scheint.

    "Sie sind Intellektueller, sagen Sie, was in Europa vor sich geht, machen Sie von Ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch, mit einem Wort, tun Sie was."

    Doch noch kann sich Doktor Pereira der Wirklichkeit entziehen. Erst sein Aufenthalt in der Klinik für Thalassotherapie, in der er sich wegen seiner gesundheitlichen Probleme begibt, wird das Bewusstsein in ihm wecken.

    "Und wenn die beiden jungen Leute Recht hätten? Dann hätten sie recht, sagte Doktor Cardoso gelassen, aber das wird die Geschichte entscheiden, nicht Sie, Doktor Pereira."

    Er wird sich bewusst, dass es keinen Sinn macht, einen Kulturteil zu leiten, in dem er seine Meinung nicht zum Ausdruck bringen darf und dass er auf diese Weise gezwungen ist, seine 30jährige Journalistentätigkeit zu verleugnen.

    Als an einem Spätsommertag zur Abendessenszeit 3 Männer in seine Wohnung eindringen um Monteiro Rossi, den er für einige Tage bei sich untergebracht hatte, die patriotischen Werte in Erinnerung zu rufen und dabei auch gegen ihn handgreiflich werden, wird Pereira reagieren.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Es ist ein sympathischer älterer, gesundheitlich angeschlagener Doktor Pereira, dem ich in diesem Roman begegne und ich mag ihn auf Anhieb. Er lebt isoliert vor dem wirklichen Leben und arbeitet in seiner abgeschiedenen Kulturredaktion, die ihn vor der Realität des Regimes beschützt. Er bemerkt das Klima der Gewalt und Einschüchterung zuerst gar nicht und wähnt sich mit seinen Übersetzungen französischer Schriftsteller des 19. Jahrhundert von aller Zensur befreit.

    Doch dann beginnt Doktor Pereira an sich zu merken, dass ein innerer Wandel stattfindet. Er ignoriert das zwar am Anfang, er schiebt es auf seine Krankheit und ab diesen Moment denke ich ab und an: eine Heldengeschichte ist das nicht.

    "Nun gut, sagte Pereria, es ist eine merkwürdige Empfindung, die sich am Rande meiner Persönlichkeit befindet, weshalb ich sie al peripher bezeichne, Tatsache ist, dass ich einerseits froh bin, mein Leben so geführt zu haben, wie ich es geführt habe, dass ich in Coimbra studiert und eine kranke Frau geheiratet habe, die ihr Leben im Sanatorium verbracht hat, dass ich viele Jahre lang als Lokalreporter für eine große Zeitung gearbeitet und jetzt zugesagt habe, den Kulturteil in dieser bescheidenen Abendzeitung zu leiten, gleichzeitig ist es jedoch so, als ob ich Lust hätte, mein Leben zu bereuen, ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke."

    Es braucht ein Verbrechen, in das er unmittelbar hineingezogen wird, damit er die Kraft findet zu handeln. Ich habe den Eindruck, dass er bis dato wirklich nicht realisieren wollte, was in Portugal vorgeht. Seine Courage besteht darin, seine ganze Schreibkunst in den Nachruf von Monteiro Rossi einzubringen und somit in subtiler und geschickter Ironie eine Kritik gegen das Gewaltregime in Portugal in der Zeitung veröffentlichen zu lassen. Er ist kein Held, er flieht um sich und sein Leben zu retten. Mehr sieht er sich nicht imstande zu tun.


    Fazit

    Ein niveauvoll geschriebener Roman über den Widerstand gegen das Regime und ein Kampf für die Freiheit. Es ist unmöglich, in schwierigen Zeiten neutral durchs Leben zu schreiten. Irgendwann muss jeder reagieren und Doktor Pereira tut es erst am Ende, als es ein Opfer gibt, das er ins Herz geschlossen hat und dessen Tod er nicht verhindern konnte. Eine Lektion fürs Leben, eine Hommage an die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Rechtsstaatlichkeit und dass es nie zu spät ist, sich gegen etwas aufzulehnen, auch wenn dies der Verlust von vielem Persönlichem bedeutet. Der Roman ist ein Bekenntnis und eine Lektion über Menschlichkeit und dem Bewusstsein, dass sich jeder nach seinen Möglichkeiten für Freiheit einsetzen kann und muss.