Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt

  • Das Ende der Welt: der Sertao im brasilianische Bundestaat Bahia.
    Der Krieg: das brasilianische Militär gegen die Kommune des religiösen Fanatikers Ratgeber.
    Die Drahtzieher: Großgrundbesitzer und Politiker in der jungen Republik Brasilien.
    Die Zeit: Ende des 19. Jahrhunderts.


    Der "Ratgeber" ist ein Wanderprediger, der im Laufe der Zeit eine Schar von Jüngern - Ausgestoßenen, Mißgebildeten, ehemaligen Verbrechern, den Ärmsten der Armen - um sich versammelt. Die Einführung der Steuern und der Zivilehe sehen sie als Teufelswerk an und gründen in Canudos eine Siedlung, die schon bald großen Zulauf erhält. Der Ratgeber wird als eine Art neuer Messias verehrt.
    Doch nicht nur Baron de Canabrava, dem die Fazenda Canudos gehörte, hat etwas gegen diese Gemeinschaft, auch die Progressive Republikanische Partei versucht die Situation für ihre politischen Ziele auszunützen und der Kirche ist sie sowieso ein Dorn im Auge. Und dann ist da noch Galileo Gall, der schottische Weltenbummler und Revolutionär, der glaubt, die Gemeinschaft in Canudo seht für die Ideale des Kommunismus. Im Hintergrund werden Intrigen geschmiedet und an versteckten Strippen gezogen und schnell wird klar, Canudo muss weg, schon haben Tausende Menschen dort ein neues Zuhause gefunden, entziehen sich den herrschenden Autoritäten.
    Der "Krieg" gegen die Gemeinschaft, der von Beginn an für die Militärs mit all ihrer Erfahrung und Waffen schon gewonnen zu sein scheint, zieht sich in die Länge, denn die Jaguncos aus Canudo kämpfen um ihr Leben mit allem Geschick, mit ihrer Ortskenntnis und allen Waffen, die sie auftreiben können.


    Wie bei Vargas Llosa nicht anders zu erwarten, ist diese umfangreiche Geschichte nicht chronologisch erzählt, sondern sprunghaft und aus Sicht vieler verschiedener Figuren ohne dass der Leser den roten Faden verliert. Seine Erzählweise passt zur chaotischen Kriegsführung und dem Durcheinander, das in und um Canudos herrscht - auch zur unsicheren politischen Situation im Lande.


    Über 700 Seiten lang wird gekämpft für Ideale, um das nackte Leben, vergewaltigt, gelitten, intrigiert - blutig und lebensnahe. Um so bedrückender als der Roman auf einer wahren Begebenheit beruht. Der Autor vernachlässigt dabei weder das große Ganze noch die Einzelschicksale: eine Fülle von Figuren verfolgt der Leser mit ihrem ganz individuellen Schicksal durch die Wirren der Zeit.


    Mag auch die heitere Note fehlen, die ich bei Vargas Llosa so mag (z.B. die wunderbare "Tante Julia und ihr Kunstschreiber"), so hat mich dieses Buch doch sehr nachhaltig beeindruckt. Zwar hatte ich beim Lesen immer wieder den Eindruck, das Buch habe Längen und hätte auch knapper erzählt werden können, aber bei Nachklingenlassen hat sich dieser Eindruck verflüchtigt: Vargas Llosa schafft einen kompletten menschlichen Rahmen um die historischen Fakten - er hat diesem unwürdigen Krieg nicht ein sondern die vielen Gesichter gegeben, die er hatte.
    Ein ernstes und bewegendes Buch von einem meiner Lieblingsautoren, das ich nur mit einer dicken Empfehlung versehen kann!


    Katia

  • Ein großartiger Roman! Mario Vargas Llosa gelingt es, eine Fülle von Figuren und Schauplätzen, verschiedene Handlungsstränge und ständig wechselnde Erzählperspektiven miteinander zu verknüpfen, ohne dass man beim Lesen die Übersicht verlöre. Die Geschichte ist erschreckend grausam und gewalttätig, aber man hat an keiner Stelle den Eindruck, der Autor zeige mehr an Brutalitäten, als unbedingt nötig wäre. Ebenso wenig führt er seine seltsamen Romangestalten als ein Panoptikum skurriler Typen vor. All diese Banditen, Mörder, Verkrüppelte, Zwerge und Schlangenmenschen, deformiert und verhärtet durch die trostlosen Existenzbedingungen im Sertão, einem bitterarmen Landstrich Brasiliens, haben ihr eigenes, trauriges Schicksal, jeder von ihnen hängt dennoch mit leidenschaftlicher Zähigkeit am Leben, getrieben von der dunklen Sehnsucht nach einem besseren, gerechteren Dasein.


    Man kann das „Entzücken der Seele“ nachempfinden, das diese benachteiligten und ausgestoßenen Menschen fühlen, als der charismatische Ratgeber unter ihnen auftaucht und ihnen einen Ausweg aus ihrem irdischen Elend verheißt. Mario Vargas Llosa lässt unter den vielen fiktiven Biographien, die er schildert, die Herkunft und Lebensumstände des historischen Antônio Conselheiro bewusst im Dunkeln, so dass er dem Leser ebenso rätselhaft und entrückt erscheint wie seinen Anhängern. Die „Gemeinschaft der Ärmsten“, darunter brutale Mörder und Vergewaltiger, lebt, von der Hoffnung auf einen gerechten Lohn im Jenseits erfüllt, in christlicher Eintracht zusammen, lässt dem Feind gegenüber aber keinerlei christliche Milde walten. Der „Antichrist“ wird nicht nur abgeschlachtet, seine Leiche wird auch noch durch das Abschneiden von Nase und Genitalien geschändet, was besonders perfide ist, da ihm dadurch jegliche Möglichkeit auf göttliche Gnade genommen wird.


    Beim Kampf um die Siedlung Canudos kommt es zum blutigen Zusammenprall ganz unterschiedlicher Weltbilder und Handlungsweisen, wobei alle Beteiligten, ob es die Aufständischen, das Militär oder die verschiedenen politischen Gruppierungen sind, Recht und Unrecht zugleich haben. Denn jede Partei beurteilt die Lage zum Teil durchaus realistisch und kann gute Argumente gegen die Gegenseite ins Feld führen, aber gleichzeitig wird ihre Einschätzung von Irrtümern, Lügen, Unwissenheit und Fanatismus getrübt. Da jeder seine - in großen Teilen fiktive - Weltsicht für die einzig richtige hält, ist eine Verständigung von Anfang an nicht möglich, es wird nicht einmal der Versuch dazu unternommen. Am Ende wird Canudos mit ihren nahezu fünfundzwanzigtausend Bewohnern auf brutale und völlig sinnlose Weise ausgelöscht.


    Sehr gekonnt hält der Roman die Balance zwischen der Schilderung der vielen einzelnen Schicksale und Episoden, die einen von Seite zu Seite fesselt, und der zugleich ständig steigenden Spannung, die mit jedem Versuch des Militärs, Canudos einzunehmen, größer wird und schließlich in der letzten entscheidenden Schlacht gipfelt. Dabei ist er von einer solchen Intensität und vor allem auch Plastizität, dass ich besonders im zweiten Teil wiederholt das Gefühl hatte, mitten im Sertão zu stehen und das Geschehen unmittelbar um mich herum zu erleben.


    Es war mein erstes Buch von Mario Vargas Llosa. Ich freue mich schon auf die anderen!


    Gruß
    mofre

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  • @ mofre,
    die Atmosphäre des Buches erinnert mich an Tod in den Anden. Seitdem ich es gelesen habe, liebäugle ich zwar manchmal mit "Der Krieg am Ende der Welt" (meine Bücherei hat es), aber dazu brauche ich die Bereitschaft, dass mir ein Buch aufs Gemüt drückt. Und die habe ich nicht immer.


    Freuen kannst Du Dich aber auch auf leichte, heitere Romane des Autors wie Tante Julia und der Kunstschreiber (dicke Empfehlung, wunderbar ironisch) oder das hinterhältige Lob der Stiefmutter.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • liebäugle[…]zwar manchmal mit "Der Krieg am Ende der Welt" (meine Bücherei hat es), aber dazu brauche ich die Bereitschaft, dass mir ein Buch aufs Gemüt drückt. Und die habe ich nicht immer.


    Marie, obwohl die Geschichte sehr blutig, grausam und dazu noch wahr ist, ist sie mir nicht aufs Gemüt geschlagen, dazu ist sie einfach zu farbig und spannend geschrieben. Mario Vargas Llsosa ist ein Vollbluterzähler, der schon dafür sorgt, dass die Unterhaltung nicht zu kurz kommt. Die Aufständischen in der Siedlung Canudos werden ausgelöscht, als sie gerade begonnen haben, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen und in einer friedlichen Gemeinschaft zusammenzuleben, andererseits gehen sie mit dem festen Glauben in den Tod, ein besseres Leben im Jenseits zu finden. Der Roman beruht übrigens auf der Schilderung des Zeit- und teilweise auch Augenzeugen Euclides da Cunha, der bei Vargas Llosa als Romanfigur wieder auftaucht.

    Freuen kannst Du Dich aber auch auf leichte, heitere Romane des Autors wie Tante Julia und der Kunstschreiber (dicke Empfehlung, wunderbar ironisch) oder das hinterhältige Lob der Stiefmutter.


    Von „Tante Julia“ habe ich nur Gutes gehört und sie daher bei meinem letzten Besuch in Deutschland aus dem Bücherschrank meiner Eltern entwendet. :-,


    Gruß
    mofre

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  • Bei knapp 120 von über 700 Seiten gebe ich auf. Der Krieg am Ende der Welt packt mich nicht. Die Guerra de Canudos ist mir bereits mehr oder weniger ein Begriff, sodass ich mich, wie öfter mal bei historischen Romanen an den fiktiven Charakteren wie Galileo Gall ein bisschen störe, weil ich immer den Eindruck habe, dass jemand, der die Umstände dieses geschichtlichen Ereignisses nicht kennt, Menschen wie Maria Quadrado oder João Satanás für reale Personen halten könnte. Aber das ist ein Problemchen, das ich generell mit diesem Genre habe. Wenn eine Geschichte jedoch der Lebendigkeit ihrer Charaktere oder Atmosphäre wegen es schafft, mich in ihren Bann zu ziehen, wie z.B. in Hilary Mantels Wolfhall, dann kann ich einen historischen Roman durchaus genießen. Bisher ist in Mario Vargas Llosas Der Krieg am Ende der Welt jedoch eher das Gegenteil passiert.


    Man kann das „Entzücken der Seele“ nachempfinden, das diese benachteiligten und ausgestoßenen Menschen fühlen, als der charismatische Ratgeber unter ihnen auftaucht und ihnen einen Ausweg aus ihrem irdischen Elend verheißt.

    Möglicherweise bin ich ein unsensibler Trampel, aber genau das, was mofre hier lobt, habe ich auf den 120 gelesenen Seiten nicht gefunden:


    Von Maria Quadrado heißt es, dass sie drei Monate lang ein Holzkreuz mit sich herumgeschleppt, ihre Kleidung verschenkt hat, unterwegs viermal vergewaltigt wurde und dann lange Jahre in völliger Demut und hingebender Nächstenliebe an einem Wallfahrtsort verbracht hat. Und dann kam der Ratgeber und die zwei haben in Marias Grotte die ganze Nacht geredet. Als der Conselheiro weiterzog, zog sie mit. Warum? Keine Ahnung …


    Joãos Onkel und Tante wurden in seiner Kindheit verraten und grausam umgebracht. Als junger Mann rächt er seine Verwandten auf grausame Weise, und auch sonst verbringt er seine Zeit als Bandenführer mit Gewalt und Greueltaten, sodass man ihn João Satanás nennt. Dann kommt der Conselheiro und es heißt im Buch:

    Zitat

    João fühlte, dass etwas Schwindelerregendes in seinem Hirn brodelte, während er hörte, was der Heilige sagte. Er erzählte die Geschichte eines Sünders, der jede nur erdenkliche Untat beging, dann aber alle Sünden bereute, wie ein Hund auf allen vieren lief, endlich bei Gott Vergebeung erlangte und in den Himmel kam. Als er die Geschichte zu Ende erzählt hatte, ging er auf Joao zu, der den Blick gesenkt hielt. »Wie heißt Du?« fragte er ihn. »João Satanás«, murmelte der Cangaceiro. »Besser, du nennst Dich João Abade, das heißt, der Apostel des guten Jesus«, sagte die heisere Stimme ...

    Und von da an war João eben der fromme Apostel des guten Jesus.
    Das ist mir zu einfach, das ist mir zu sehr frömmelnde Kaffeekränzchen-Mystik. Was wird von einem als Leser hier erwartet? Soll man da die Handflächen aneinanderlegen, den Kopf zur Seite neigen und die weit aufgerissenen Augen in geheuchelter Verzückung rollen? Bei mir springt da nicht der geringste Funke eines Echtheitsgefühls über. Viel zu langweilig, um noch weiter zu lesen.



    Edit: Dieser Thread gehört eindeutig in den Beriech der historischen Romane. Könnte einer der Mods ihn bitte verschieben?

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

    Einmal editiert, zuletzt von Hypocritia ()

  • O je, Hypocritia, Mario Vargas Llosa scheint Dir wirklich nicht zu liegen. Langweilig kam mir die Geschichte keinen Augenblick vor, im Gegenteil: Mit ihren vielen Figuren und Handlungssträngen empfand ich sie als ausgesprochen lebendig und intensiv. Vielleicht probierst Du es noch mal mit seinem humoristischen Roman "Tante Julia und der Kunstschreiber". Wenn der Dir auch nicht gefällt, wird es für Mario und Dich wohl kein Happy End geben. :(


    Gruß
    mofre

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  • Vielleicht probierst Du es noch mal mit seinem humoristischen Roman "Tante Julia und der Kunstschreiber". Wenn der Dir auch nicht gefällt, wird es für Mario und Dich wohl kein Happy End geben.


    Mofre, ich bin relativ begeistert von der frechen Idee und der kreativen Ausführung in seinem literarischen Schelmenstreich Das Lob der Schwiegermutter, aber im Krieg am Ende der Welt ist mir der Stil definitiv zu wenig kreativ. Diese Art von kleinen und netten Sünderbekehrungsgeschichtchen existieren in Lateinamerika zu Tausenden und werden alle mehr oder weniger in genau dem gleichem Stil erzählt, sodass Vargas Llosa dabei auf mich abgelatscht wirkt. Und dann auch noch dieser fiktive Phrenologe! Phrenologie ist ein Paradebeispiel dafür, was sich Männer an Schwachsinn zusammenphantasiert und mit vollster Überzeugung als "Wissenschaft" präsentiert haben - nur wird für mich der Roman durch so etwas eher langweiliger statt interessanter.
    Ich gebe Vargas Llosa nicht auf: Wenn ich mal Das grüne Haus in die Finger kriege (am liebsten im spanischen Original La Casa Verde), dann probiere ich es damit, denn das ist ein Buch, das vielen Lesern nicht gefallen hat, weil es angeblich zu verwirrend wegen vielfacher und verflochtener Erzählstränge ist.

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