Pascal Mercier - Lea

  • Unsagbar gefühlvoll geschrieben, lebendig und tief!


    In einem Café in der Provence lernen sich der Protagonist Martijn van Vliet und der Erzähler kennen. Beide sind Ende Fünfzig und haben ein bewegtes Leben hinter sich. Sie verabreden sich zu einem gemeinsamen Diner, wo van Vliet seine Geschichte zu erzählen beginnt:
    Als Lea, seine Tochter, acht Jahre alt war, starb ihre Mutter, und von da an war das Mädchen ruhiger und zurückgezogen, nicht mehr das lebhafte Kind, sondern irgendwie leer. Nach der Schule holte Martijn sie oft ab, und sie gingen zusammen nach Hause. Eines Tages trafen sie in der Bahnhofspassage eine Geigenspielerin. Sie blieben stehen und lauschten ihrer Musik. Martijn bemerkte sofort den klaren Blick in Leas Augen; etwas fing wieder an zu leben in ihr; und so brauchte es auch kaum 24 Stunden, dass er mit einer Geige nach Hause kam. Lea strich liebevoll über das Holz und zupfte zögernd an den Saiten.
    Etwas schwieriger war es, die geeignete Lehrerin zu finden, da Lea nur eine weibliche Ausbildnerin erwünschte. Doch diese fand sich mit Marie. Und seit dem ging es schnell aufwärts mit Lea: Ihre Züge wurden selbstbewusster und selbstsicherer; es gab nur noch die Geige, das Üben und Marie. Schon nach drei Jahren hatte sie ihren ersten Auftritt.
    Martin jedoch fühlte sich zurückversetzt, und wetteiferte mit Marie. Er buhlte seit diesem Tag in dieser Bahnhofpassage um die Zuneigung seiner Tochter, kaufte ihr eine neue, sehr teure Geige, und erkannte, dass in dieser Konstellation, in diesem verwobenen gemeinsamen Schicksal, auch die Geburt einer Tragödie lag.
    Hin und Her gerissen, und mit dem vollem Bewusstsein, dass er in eine Sackgasse hineingeraten war, und dennoch nicht dazu fähig irgendeine Wendung herbeizuführen …


    Sprachlich hat mich dieses Werk sehr beeindruckt, zu einem weil es so gefühlvoll geschrieben ist: “Sie hatte gespielt, als baute sie sich eine imaginäre Kathedrale aus Tönen, in der sie einmal geborgen sein könnte, wenn sie das Leben nicht mehr ertrüge.” Und weil das wirklich Menschliche von Mercier so absolut lebendig und tief transportiert wird, man kann die Handlungen der Figuren ohne zu zögern nachvollziehen, obwohl es eine Farce ist.
    Die ganze Atmosphäre in dieser Novelle ist dicht und treffend! Schade eigentlich nur, dass sie lediglich 250 Seiten hat, ich hätte gerne weitergelesen! =D>

  • Leider konnte ich mich für dieses Buch bis zur letzten Seite nicht begeistern und es ist meiner Meinung nach in keinster Weise mit dem "Nachtzug nach Lissabon" vergleichbar. Hat "Nachtzug nach Lissabon" schon phasenweise Platitüden und aufgewärmte Klischees vermittelt, so schießt dieses Buch meiner Meinung nach den Vogel ab.


    Über 250 Seiten werden nichts als Banalitäten beschrieben. Jeder versinkt in Selbstmitleid, besonders der Protagonist und Vater von Lea sieht sich sehr gerne in der "Opfer- und Märtyrerrolle". Mit solchen Menschen habe ich "im wirklichen Leben" ein Problem, und auch im "Buchleben". Merciers ausgefeilte Sprache versinkt hier im Melodramatischen, Trübsinnigen, Sentimentalen und Pathetischen.
    Außerdem hätte ich mir gewünscht, ein bisschen mehr von Adrians Schicksal zu erfahren. Er bleibt zu sehr im Hintergrund und seine Vergangenheit wird nur angedeutet.


    Für mich war es leider ein Flop.

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Ich habe "Lea" gestern Abend in einem Rutsch durchgelesen, und war begeistert :thumright:.
    Auch ich fand es sehr gefühlvoll und nachvollziehbar geschrieben. Vorallem Leas Schicksal und van Vliets Reaktionen darauf. Ich stelle es mir für einen allein erziehenden Vater schwer vor, solch ein "Wunderkind" groß zu ziehen. Streckenweise habe ich mit Lea gelitten, denn so stelle ich mir den Aufstieg und den Untergang einens solchen "Stars" vor, wie Lea einer war. Allerdings hätte ich mir hier den "Untergang" etwas ausführlicher gewünscht. Das ging alles recht schnell. Lea war ja eine ganze Weile in einem Hospitz untergebracht. Davon hat man leider überhaupt nichts gelesen. Oder habe ich da was überlesen? :-k


    Allerdings, finde ich, muss man für dieses Buch in der richtigen Stimmung sein. Denn der Hang zum Trübsinnigen, Melodramatischen ist natürlich da.
    Ich habe es genossen :D

    Narkose durch Bücher - Das Richtige ist: das intensive Buch.
    Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt, zerrt und nicht mehr losläßt.


    :study: Sarah J. Mass - Throne of Glass / Die Erwählte :study:

  • Interessant, wie unterschiedlich die Reaktionen auf dieses Buch sind!


    Mir hat das Buch ähnlich gut gefallen wie Heidi - und auch so ziemlich aus den gleichen Gründen.
    Trotzdem kann ich nicht sagen, dass Lea mir sympathisch gewesen wäre... und auch ihr Vater ist für mich eine sehr ambivalente Persönlichkeit - dennoch gefiel mir die Art, wie die Erzählung sich aufbaute, wie man immer wieder Vorausdeutungen eingestreut bekam und wie sich so nach und nach daraus ein Bild ergab. Ein Bild, das auch am Ende des Buches nicht "fertig" ist. Auch ich hätte gern mehr über die ein oder andere Stelle erfahren, aber das Lücken, die ich mir als Leser in meiner Phantasie selbst füllen muss. Manchmal muss auch nicht alles ausführlich dargestellt sein, denn man begreift ja auch so...

  • Also ich könnte dir dieses Buch wärmstens empfehlen , wenn da nicht wieder andere etwas dagegen hätten

    :wink: Du kennst ja meine Meinung zu Lea

    Zitat von 'Buchkrümel

    Also ich fand "Lea" bisher am besten von Pascal Mercier, in diesem Werk hat er sich nicht verzettelt, es liest sich rund und hat ganz eindeutig ein Thema, und das dann sehr genau abgehandelt: inwieweit man sich in eine Abhängigkeit unterwerfen lässt (Freiheit). Wenn ich so manche Rezensionen zu "Lea" lese, dann muss ich manchmal mit den Kopf schütteln, weil die Leser angeblich nur Pathos oder Schnulz heraus lesen, das trifft es aber nicht meiner Meinung nach nicht.
    Das Buch "Handwerk der Freiheit" vom gleichen Autor unter seinen richtigen Namen Peter Bieri erklärt dann eigentlich seine Werke "Lea" und "der Nachtzug ... ", die anderen habe ich nicht gelesen.


    Zitat

    Ich sage, nicht dass „Lea“ schlecht war, sondern schlicht und einfach enttäuschend. Bei dieser Geschichte geht es nur um Leben und Tod und zwar fast in unerträglicher Weise reflektiert, etwas viel Pathos welche dem Leser zugemutet wird. Es fehlen die Zwischentöne, es fehlt aber auch die Kreativität.
    Mercier lässt dem Leser nicht viel Freiraum für die eigene Phantasie, zu offensichtlich zeigt er mit Andeutungen den Verlauf der Geschichte auf.


    Ich hoffe jetzt nicht, dass ich jedesmal bevor ich ein Buch von Pascal Mercier lese, zuerst zu seinem Buch "Handwerk der Freiheit" greifen muss damit ich die Intention des Autors verstehe.


    Ich vergass zu erwähnen, dass ich mich ziemlich gelangweiligt habe beim Lesen, es kam mir vor wie eine Abhandlung von traurig, traurige, traurigen, trauriger, trauriges... [/quote][/quote]
    :friends: Bin jedoch absolut deiner Meinung das man ein Buch empfiehlt dass gefiel, darum würde ich einem Erstleser von Mercier Nachtzug nach Lissabon vorschlagen :wink:
    LG
    Serjena


    :-? Erster Link "Lea" scheint nicht zu klappen, vielleicht kann ein Admin helfen- sollte zu "Der Klavierstimmer" führen wo wie diese Diskussion geführt haben. Danke

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

    Einmal editiert, zuletzt von serjena ()

  • wenn da nicht wieder andere etwas dagegen hätten :loool:


    Ha, bin schon zur Stelle! Ich kenne "Lea“ zwar nicht, ex libris, aber wenn Dir schon "Nachtzug nach Lissabon" nicht gefallen hat, wird es mit Dir und Pascal Mercier wohl nichts mehr werden, fürchte ich. Ich habe den "Nachtzug" seinerzeit gern gelesen, obwohl ich den zweiten Teil schlecht und die Figur des Arztes völlig überzogen fand. Die Pleite mit dem „Klavierstimmer“ (hier) hat mir so einen Widerwillen gegen den Autor eingeflößt, dass ich im Moment jedenfalls keine Lust verspüre, noch irgendetwas von ihm zu lesen. Ich frage mich auch, was eigentlich am „Nachtzug nach Lissabon“ dran war. Ich glaube, mich hatte damals einfach die Tragik eines Mannes berührt, der den Lebenspuren eines Verstorbenen nachspürt und dabei erkennt, dass er sein eigenes Leben nicht gelebt hat. Und dass es fraglich bleibt, ob er noch die Zeit hat, das nachzuholen.


    Du siehst ja, die Meinungen zu „Lea“ sind gemischt. Zum „Klavierstimmer“ gibt es nur zwei sehr negative Urteile. „Perlmanns Schweigen“ gilt allgemein wohl als sein bestes Buch und wurde hier auch positiv bewertet (hier). Versuch es doch mal damit. Wenn Du es auch so gut findest wie serjena, kann man vielleicht wieder Vertrauen schöpfen.


    @ serjena, im Thread "Gottes Werk und Teufels Beitrag" schreibt @ ex libris, dass ihr "Nachtzug nach Lissabon" nicht gefallen hat.


    Gruß
    mofre

    :study: Willa Cather - Meine Antonia

    :study: Wolfgang Herrndorf - Tschick

    :study: Reiner Stach - Kafka. Die Jahre der Entscheidungen

    :study: James Wood - Die Kunst des Erzählens















  • @ serjena, im Thread "Gottes Werk und Teufels Beitrag" schreibt @ ex libris, dass ihr "Nachtzug nach Lissabon" nicht gefallen hat.

    :uups: Das habe ich wohl überlesen.
    Na ja dann gibt es tatsächlich nur noch eins "Perlmanns Schweigen" :wink:

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Ich habe "Lea" eben beendet und es vorher in einen Rutsch durchgelesen. Auch wenn es mir am Anfang etwas schwer fiel mich in die Geschichte hinein zu finden, hat sie mich dennoch immer mehr in den Bann gezeogen.
    Besonders gut konte ich mit van Vliet mitleiden und mitfühlen, während ich Lea erst irgendwie recht seltsam fand, sie mir dann aber auch immer mehr Leid tat, je mehr sich der psychische Abrutsch abzuzeichnen begann.
    Gerade für das hohe Mitfühlen was zumindest mir mit van Vliet möglich war, verdient sich das Buch meiner Meinung nach grossen Respekt- auch wenn ich mit dem eigentlichen Protagonisten, André, dem van Vliet seine Geschichte erzählte, nicht wirklich etwas anfangen konnte, wahrscheinlich weil van Vliet ja einen viel höheren Erzählerteil im Buch beinhaltet- aber der Autor hat das ja auch im Nachwort noch begründet, dass stört mich also nicht sonderlich.
    Auch die immer bedrückendere und fast verzweifeltere Atmosphäre fand ich gut gelungen- ein einziger grösserer Kritikpunkt, der mir aufgefallen ist waren die französischen Textstellen, die ich fast nie verstanden habe. Aber das empfand ich nicht so störend, dass es dem Lesefluss einen grossen Abbruch getan hätte.


    Für eben diese Textstellen ziehe ich einen Stern ab- es werden also insgesamt 4 Sterne von mir, aber mit durchaus guter Tendenz zu 5.

    Things need not have happened to be true. Tales and dreams are the shadow-truths that will endure when mere facts are dust and ashes, and forgot.

    Neil Gaiman


    :study: T.R.Richmond - What she left




  • Nach dem Tod seiner geliebten Frau Cécile bleibt Martijn van Vliet nur noch seine kleine Tochter Lea, mit der er plötzlich alleine im Leben steht. Dabei waren Kinder nie Teil seines Planes, er fühlte sich ihrer Liebe und Erziehung nie gewachsen. Ähnlich ergeht es ihm mit Leas Erstarrung nach dem Tod der Mutter. Als sie schließlich der Klang einer Geige in einer überfüllten Bahnhofshalle wieder ins Leben zurückholt, ist es für Martijn van Vliet selbstverständlich, dass er alles tut, um diese Lebendigkeit seiner Tochter festzuhalten:
    Er kauft ihr ihre erste Geige, er engagiert die faszinierende wie anspruchsvolle Marie Pasteur als ihre Geigenlehrerin, er reist mit ihr um die Welt und feiert ihre Erfolge. Zumindest solange und nur dann, wenn Lea ihn lässt, denn das Talent des Mädchens wächst sich in Sphären aus, die Martijn van Vliet auch als Vater nicht mehr zu greifen weiß. Ihr verrutschen die Sätze, aus ihrem Können heraus entfaltet sich die Arroganz der Perfektion, Lea stellt ausnahmslos alles andere hinter ihre Geige und sich selbst. Das geht solange gut, wie das Mädchen und ihr Geigenspiel von Erfolgen begleitet werden. Als diese nachlassen, verlieren Martijn und Lea beide plötzlich jeglichen Blick für die Realität.


    Ich muss zugeben, dass Merciers Lea eine starke Faszination auf mich ausübte, aber es war eher eine Faszination im negativen Sinne:
    Oft erschienen mir die Geschichte, ihre Charaktere und die Art, wie sie erzählt wurde, allzu pathetisch. Gleichzeitig hafteten aber genau diesem besonderen Erzählstil eine Selbstverständlichkeit der Dinge und eine Gefühlsdichte an, die mich vor allem in den letzten Passagen sehr getroffen haben, anders kann ich es kaum sagen. Lea - sowohl das Buch, als auch die Protagonistin - ist wie ein zweischneidiges Schwert, glaube ich. Auf der einen Seite bleibt sie einem durch die Überheblichkeit ihrer Kunst, die aus ihrer Perfektion resultiert, stets ein wenig fremd. Sie strahlt emotionale Kühle aus, die nicht nur ihr Vater Martijn van Vliet spüren muss, auch beim Leser kommt diese an. Und dann wieder gibt es Momente, in denen das kleine Mädchen, das sie einst war, weinend in einer Umarmung Trost sucht. In seinem Nachwort sagt Pascal Mercier etwas zum Subjekt seiner Novelle Lea und ich glaube, mit diesen Worten trifft er die Entwicklung der Charaktere und den Verlauf der Geschichte selbst perfekt:


    "Dieses Buch handelt von einer Erfahrung, die wir uns ungern eingestehen:
    Auch diejenigen Menschen, mit denen wir durch große Intimität verbunden sind, können uns fremd werden. Ein unerwartetes Ereignis, eine unmerkliche Veränderung der Situation, eine überraschende Bemerkung:
    Mit einemmal erscheint eine Person, mit der wir uns eng verbunden fühlten, fremd, und wir haben das Gefühl, sie zu verlieren."


    Im Licht dieser Worte erscheint einem alles, was Martijn van Vliet in seiner Rolle als liebender Vater getan hat, erschreckend selbstverständlich. Rational gesehen weiß man natürlich, wie verhängisvoll jeder seiner Schritte letztlich hätte werden können oder geworden ist, aber im Moment des Sprechens hat man einen ganz anderen Blick auf die Dinge. Man hört dem groß gewachsenen Mann zu, der seine Hände vom Steuer nehmen muss, wenn ihm ein LKW entgegenkommt - aus Angst, er könnte es herumreißen und dem Tod entgegensteuern. So ist Martijn van Vliet, so sind seine Ansichten, das ist die Geschichte, die er erzählt. Dicht, pathetisch, menschlich, emotional und nahe. In diesem Sinne ist Lea nicht das beeindruckendste Buch, das ich jemals gelesen habe, aber es trifft einen sehr.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    merveille.


    It was that kind of a crazy afternoon, terrifically cold, and no sun out or anything,
    and you felt like you were disappearing every time you crossed a road.


    Catcher in the Rye. ♥

  • Zwei Männer treffen sich in einem Urlaubsort in Südfrankreich, eine Zufallsbegegnung im Café, und kommen ins Gespräch. Einer war ein begnadeter Chirurg, der andere ein erfolgreicher Naturwissenschaftler - und Vater von Lea van Vliet, die als Geigen-Wunderkind berühmt wurde.


    Stark traumatisiert vom Krebstod der Mutter waren Vater und Tochter am Bahnhof unterwegs, als dort eine Straßenmusikerin eine Partita von Bach spielte und Lea wie angewurzelt stehenblieb, so fasziniert von der Musik, dass sie auf der Stelle lernen wollte, selbst Violine zu spielen. Lea bekam eine Geige und Unterricht und entwickelte sich zum neuen Stern am Klassikhimmel. Bis sich die erst kaum merklichen "Aussetzer" des Mädchens zu häufen begannen. Verzweifelt versucht der Vater gegenzusteuern, ergreift immer verzweifeltere Maßnahmen, geht selbst bis an seine Grenzen und muss doch eingestehen, dass nicht alles in seiner Macht liegt.


    Die Grundidee hinter dieser Novelle ist vielversprechend, ein Wunderkind, das dem Druck nicht standhält, dessen geistige Gesundheit unter den eigenen Ansprüchen und denen des Publikums zusammenbricht. Leider hat Pascal Mercier die Ausführung in meinen Augen ziemlich vergeigt, um im Bild zu bleiben.


    Die Rahmenhandlung um die beiden Männer fand ich vollkommen überflüssig (obwohl ich solche Konstrukte normalerweise mag). Martijn, Leas Vater, erzählt die Geschichte seiner Tochter am Cafétisch - dafür sind seine Sätze aber viel zu gedrechselt und geschliffen. Es wäre glaubhafter gewesen, das Buch einfach als Martijns Geschichte anzulegen, ohne das Drumherum.


    Leas plötzliche Begeisterung für die Musik, ihren Fanatismus, schildert Mercier eindringlich, aber in einer Weise, die mich eher gegen als für das Mädchen eingenommen hat, und die Versuche Martijns, seiner Tochter zu helfen, wurden immer abstruser. Die gedrückte Stimmung des Buches empfand ich als durchaus zum Inhalt passend, aber sie wirkte dennoch gewollt auf mich. Jedes kleine Detail ist mit tiefer Bedeutung aufgeladen, bis hin zu den Namen. Das nervte irgendwann.


    Merciers philosophierenden, eher ruhigen Stil muss man generell mögen - viele fanden seine längeren Romane langweilig, die mir gut gefallen haben - aber hier hat er den Bogen in meinen Augen tatsächlich überspannt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

  • Mir hat das Buch sehr gut gefallen und ich fand die Geschichte wunderschön und anrührend erzählt.


    Da ist zum einen Lea, die sich nach dem Tod der Mutter vollständig von der Außenwelt abgeschottet hat. Erst durch den Klang einer Geige und durch ihren eigenen Geigenunterricht findet sie wieder ins Leben zurück. Ich hatte beim Lesen oft den Eindruck, als wäre dies ihre einzige Möglichkeit, richtigen Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Gleichzeitig jedoch macht sie das Geigespielen und der Erfolg, den sie damit hat, wiederum zu einer Außenseiterin.


    Auf der anderen Seite steht Martijn. Zuerst ist er froh darüber, dass seine kleine Tochter wieder einen Lebensinhalt und ein Ziel hat. Gleichzeitig klingt jedoch an, dass er auch ein wenig darüber verärgert ist, dass sie, indem sie nicht mehr länger nur an ihrer Trauer festhält, die Mutter bzw. die Frau irgendwie aus beider Leben verdrängt und sich auch von ihm immer mehr entfernt. Und obwohl Martijn erkennt, dass das alles nur tragisch enden kann, ist er doch nicht in der Lage, anders zu handeln.


    Ich hätte auch gerne mehr über Leas Aufenthalt im Hospiz gelesen und mehr darüber erfahren. Aber dass diese Zeit so kurz abgehandelt wurde, ist für mich der einzige Kritikpunkt an dem Buch und ich vergebe :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    "Vergiss nie, was du bist, denn die Welt wird es ganz sicher nicht vergessen. Mach es zu deiner Stärke, dann kann es niemals deine Schwäche sein. Mach es zu deiner Rüstung, und man wird dich nie damit verletzen können."
    (Aus "Die Herren von Winterfell" von George R. R. Martin)


    :study: "Auris - Die Frequenz des Todes" von Vincent Kliesch

  • Die Mutter stirbt, zurück bleibt Martijn van Vliet mit seiner eigentlich unerwünschten Tochter Lea. Das 8-jährige Mädchen kapselt sich ab, bis es auf einem Bahnhof eine Geigerin hört und so fasziniert ist, dass Geigespielen zunächst sein einziger Wunsch ist, dann zum Lebensinhalt und am Ende zur Obsession wird. Der Vater versucht, seine Tochter zu unterstützen, mit ihr und ihrer Entwicklung Schritt zu halten, doch rennt er schnurstracks in eine Katastrophe.
    Diese Geschichte seines Lebens und Scheiterns erzählt van Vliet dem ihm anfänglich unbekannten Arzt Adrian Herzog, der kürzlich sein Skalpell an den Nagel gehängt und Probleme mit Tochter Leslie hat. Aus dem Mund von Adrian erfährt der Leser Martijns und Leas Geschichte.


    Lea und ihren Vater verbindet eine Beziehung, die pathologische Züge trägt. Er weiß, dass er sie loslassen muss, aber er kann nicht. Nach außen hin überlässt er sie ihrer Musik, doch immer wieder greift er ein. Angeblich zu ihrem Besten. Auch als sie nicht mehr im Elternhaus lebt, steht sie von fern unter seiner Beobachtung.
    Es ist sicher kein Zufall, dass Lea ihren Lebenssinn in einem Bereich findet, zu dem ihr Vater keinen Zugang hat.


    Dass Lea nach erfolgreichen Jahren, die sie von Bühne zu Bühne führen, der Geige entsagt, ist eigentlich nichts anderes als

    Aber der Vater hängt alles, was seine Tochter angeht, einfach zu hoch.


    Zugegeben, ich habe das Buch fieberhaft gelesen, es fesselte mich auf eine besondere Art, die weniger mit der Tragik der Vater-Tochter-Beziehung zu tun hat als mit Leas Ehrgeiz und ihrer Besessenheit.
    Die Autoren-Tricks hätte die Handlung nicht nötig: Ständig weist der erzählende Martijn darauf hin, dass das nächste Ereignis letztendlich zur Katastrophe führte; dann wieder ein Ereignis, das unwiderruflich zur Katastrophe führte; dann wieder … bis die Katastrophe tatsächlich eintrifft.


    So viele Dummheiten kann doch eigentlich kein Mensch hintereinander machen wie Martijn gegenüber seiner Tochter, und manchmal will man einfach aufhören zu lesen, weil eine Dummheit unerträglicher ist als die nächste. Dabei wäre die Sache so einfach: Mit einem Gespräch und Ehrlichkeit wäre die ganze Verstrickung aufzudröseln. Und wenn jemand das Mädchen vom Sockel, auf den Vater und Lehrer es stellen und auf dem es sich oft nicht wohlfühlt, herunter holen würde.
    (Ja, ich weiß, es geht in solchen Büchern genau darum, dass man zwar viel spricht, aber nicht miteinander. Doch irgendwie bin ich die Personen leid, die daran kranken. )


    Ob es klug vom Autor war, zwei Männer in Lebenskrisen ins Zentrum der Handlung zu befördern? Die beide problematische Tochter-Beziehungen pflegen? Deren Töchternamen beide mit L beginnen?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)