Hugo Hamilton, Gescheckte Menschen

  • Org. Titel: The Speckled People
    Seitenzahl: 316


    Inhalt (Innenseite):
    Hugo Hamilton lebt in einem Land, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist: Der kleine Junge wurde in Irland geboren und wächst in Dublin auf, er geht aber jeden Abend in Deutschland zu Bett und steht morgens in Deutschland wieder auf. Keine gewöhnliche Familie in Dublin: Denn sein Vater ist Ire und seine Mutter Deutsche. So spricht er kein Englisch, dafür aber Deutsch und Gälisch. Für die anderen ist er der Junge aus der merkwürdigen Familie, für Hugo ist seine Welt ein Ort voller blinder Flecke, ungelöster Rätsel und Verwirrungen. Hugo Hamilton erzählt von seiner einzigartigen Kindheit im Irland der Fünfziger-und Sechzigerjahre und von seiner Sehnsucht nach einem Land, in dem er kein Fremder ist.


    Autor:
    Hugo Hamilton wurde 1953 als Sohn eines irischen Vaters und einer deutschen Mutter in Irland geboren. Er hat bisher fünf Romane verfasst, von denen drei auch auf Deutsch erschienen sind, und eine Sammlung von Kurzgeschichten.
    Er lebt mit seiner Familie in Dublin.


    Meine Meinung:
    Zweifellos eine hinreissende Geschichte über eine ungewöhnliche Familie in Irland.
    Der Vater in seiner Wut auf alles Englische, verbietet seiner Frau und seinen Kindern englisch zu sprechen(kein Radio, keine englischen Bücher). Er träumt von einem neuen Irland, das zu den Wurzeln seiner Geschichte zurückfindet. Als Makel erweist sich, dass viele Iren kein gälisch mehr sprechen oder verstehen. Belastend dazu kommt, dass alles Deutsche mißtrauisch beäugt wird.
    Hugo und seine Geschwister werden häufig "Nazi" gerufen. Die damals noch junge Vergangenheit hängt ihnen nach.
    Praktisch bedeutet das, Lederhosen zu tragen, die sich Hugos Mutter von Verwandten aus Deutschland schicken läßt, und dazu einen dicken, robusten, irischen Pullover.
    Doch der Vater weicht keinen Millimeter von seiner Meinung ab, wird bei Zuwiderhandeln sehr wütend und verhängt drastische Strafen. Er stellt seine Prinzipien über seine Liebe zu einer Familie. Beruflich versucht er sich mit dem Verkauf von Dingen, welche die Iren "unbedingt" brauchen. Aber wegen seines unaussprechlichen, komplizierten, gälischen Namens, den er sich zugelegt hat, sind diese Verkäufe trotz Interesse nicht vom Erfolg gekrönt.
    Die Mutter tut sich schwer mit der gälischen Sprache. Auch leidet sie unter Heimweh nach Deutschland, in das sie nicht auf Dauer zurückkehren will, weil sie ein bitteres Geheimnis plagt. Darüber spricht sie mit ihrer Familie nicht, sondern vertraut nur ihrem Tagebuch.
    Hugo Hamilton schildert in seinem autobiografischen Werk seine Familie mit viel Humor, einfühlsam und lebendig, doch die Traurigkeit sich selbst als Fremde im "eigenen" Land zu fühlen, tritt immer wieder deutlich in den Vordergrund.
    Mir tun die Kinder leid, in dieser Zerissenheit leben zu müssen.
    Oft vermisse ich die Leichtigkeit des Kindseins, dieses Unbeschwerte, worauf jedes Kind ein Anrecht haben sollte. Ich bin ständig hin-und hergerissen zwischen Situationskomik und Verbortheit, der ich fassungslos gegenüber stehe.
    Auch der meist bewußt kindlich naive Ton täuscht nicht über die Schwere und Unzulänglichkeit hinweg.
    Ein fesselndes Buch mit vielen Widersprüchen, glänzend verpackt und daher lesenswert!
    Meine Beurteilung: ****


    Gruß Wirbelwind


    :study: Anne Tyler, Kleine Abschiede

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • @ Wirbelwind,


    danke für die schöne Rezension. Nun bin ich doch sehr gespannt auf das Buch :wink:

    Liebe Grüße,
    Rita


    ~Ich wäre lieber ein armer Mann in einer Dachkammer voller Bücher als ein König, der nicht lesen mag.~
    Thomas Babington

  • Hallo Rita,
    wünsche dir nun interessante Lesestunden und bin gespannt auf deinen Kommentar! :wink:


    Gruß Wirbelwind


    :study: Anne Tyler, Kleine Abschiede

    :study: Naomi J. Williams, Die letzten Entdecker









    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

    2 Mal editiert, zuletzt von Wirbelwind ()

  • Hamilton erzählt aus der Perspektive eines Kindes, dessen Familie vom extrem nationalistischen Vater zum Außenseiterdasein gezwungen wird. Im Fall der Mutter geht die extremistische Position des Vater sogar weiter, ihr wird - unter dem Mantel des Irischseinwollens um jeden Preis - verboten, sich mit Nachbarinnen zu treffen und eigene Freunde zu haben, der Vater ist höchst eifersüchtig. Hamilton erzählt auf Umwegen vom Nationalsozialismus, indem Hugo die Erinnerungen der Mutter wiedergibt, so wie er sie verstanden hat. Da Kinder manche Dinge nur in Ausschnitten oder falsch verstehen, klingen die Geschichten aus Deutschland während des Nationalsozialismus teilweise sonderbar. Hamilton weicht von der kindlichen Perspektiv aber auch ab, z. B. als Hugo von Schutzmaßnahmen gegen einen befürchteten Atomkrieg erzählt. Der erwachsene Hugo weiß, dass die Maßnahmen Augenwischerei waren, das Kind von damals musste zunächst glauben, was man ihm erzählte. Fraglich bleibt, ob eine Mutter ihren Kindern im katholischen Irland der 50er vom Missbrauch durch ihren Chef und dessen Abtreibungsversuch an ihr erzählt hätte oder ob diese Szenen einer „gescheckten“ Familiengeschichte aus einer späteren Zeit stammen. Sehr gelungen finde ich die bildhafte Darstellung, wie Vater Hamilton die Geschichte der irischen Familienseite verdrängt, indem Erinnerungsstücke im Kleiderschrank zum Verschwinden gebracht werden. Hamiltons Blick zurück auf einen Vater, der vermeintlich Gutes mit gewaltsamen Mitteln erreichen will, stellt Themen wie Heimat und Muttersprache aus ungewöhnlicher Perspektive dar. Die in eigene Kindheitserinnerungen verschachtelten Erzählungen der Mutter aus dem Nationalsozialismus fand ich beeindruckend.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

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    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow