Lionel Shriver - Wir müssen über Kevin reden / We Need to Talk about Kevin

  • Kurzmeinung

    Sushan
    Eines der besten Bücher die ich überhaupt gelesen habe. Sprachgewaltig, eiskalt, hoch emotional. Ein grandioses Buch!
  • Ich habe das Buch auch gelesen vor einiger Zeit und bin hin- und hergerissen wie ich es finden soll. Mich stört sehr in dem Buch, dass es so hingestellt wird, als sei er von Grund auf böse und keiner könnte etwas dafür. Als sei es halt so und man hätte auch nichts tun können. Auf der anderen Seite zeigt das Buch sehr gut die Machtlosigkeit einer Mutter und die grosse Last, die sie zu tragen hat, nachdem die Tat passiert ist.

  • Was mich tierisch nervt: "Kevin".
    Und wieder wird dieser Name in die "untere Schublade" gesteckt.


    Ich glaube, der Prolo-Schwererziehbar-Kevin ist ein Klischee, das es eher im deutschen Sprachraum gibt.


    Mir hat das Buch sehr gut gefallen:


    Eva Khatchadourians Leben hat sich von einem Tag auf den anderen brutal verändert. Sie ist eine dieser Mütter, über die man überall spricht: ihr Sohn Kevin hat an seiner Schule mehrere Mitschüler getötet oder schwer verletzt. Sie zieht sich vor den gaffenden Blicken und den betroffenen Konversationsversuchen ihrer Mitmenschen zurück, lebt alleine, ohne den Ehemann und die Tochter und natürlich ohne Kevin. In Briefen an ihren Mann rekapituliert sie das Geschehene.


    Einst hat sie sich quasi aus dem Nichts einen Verlag für alternative Reiseführer aufgebaut, ihr Mann Franklin ist Location Scout für die Werbe- und Eventbranche. Eva jettet für ihre Recherchen um die Welt, sie und Franklin treffen Freunde, gehen aus, genießen das Leben. Doch eines Tages spürt Eva wider jedes Erwarten ihre biologische Uhr ticken und möchte doch noch schwanger werden. Was auch klappt. Doch von Anfang an empfindet sie ihre Schwangerschaft als beschwerlich und unangenehm, kommt mit den körperlichen und seelischen Veränderungen nicht zurecht.


    Und dann, am 11. April 1983, wird Kevin geboren. Ein seltsames Baby – ständig brüllt es wütend, lehnt seine Mutter ab, trinkt nicht an der Brust. Als er größer wird, hockt er apathisch auf dem Boden, statt zu spielen, zerstört liebgewonnene Dinge, ist nach wie vor kalt und abweisend zu seiner Mutter, kann nicht mit anderen Kindern umgehen und hat nur zu seinem Vater einen gewissen Draht. Eva ist entsetzt und weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Franklin glaubt ihr nicht, wenn sie ihm die schlimmsten Episoden des Tages erzählt, weil Kevin anders ist, wenn sein Vater in der Nähe ist – worunter die Beziehung zwischen den Eltern natürlich leidet.


    Acht Jahre nach Kevin kommt Celia zur Welt, ein süßes, anhängliches Baby, all das, was Kevin niemals war. Auch zu seiner Schwester findet er keine Beziehung. In der Schule bleibt er ein Außenseiter und hat nur wenige, schwache Freunde. Und eines Tages kommt es zu der schrecklichen Tat, die keiner kommen sah.


    Das Buch ist wirklich keine leichte Kost. Schonungslos gewähren uns die Briefe Einblick in Evas Leben und lassen sie dabei wahrlich nicht immer sympathisch erscheinen. Diese unglaubliche Negativität während der Schwangerschaft, die drastischen Beschreibungen, wie sie ihren Körper hasst und auch das „Ding“, das die Veränderungen hervorruft, machten mir schwer zu schaffen, ich war sogar nahe daran, das Buch wegzulegen.


    So wenig ich Evas ablehnende Haltung in ihrer Schwangerschaft begreifen konnte, so sehr habe ich mit ihr unter Kevins Wesensart gelitten. Dieses Kind war nie ein knuddeliges, süßes, liebes, lustiges Kerlchen, sondern ein zorniges, abweisendes, berechnendes Wesen, ein Alptraum von einem Jungen, der genau zu wissen scheint, wie er anderen Leid zufügen kann.


    Das Buch entwickelt einen unheimlichen erzählerischen Sog. Die Geschichte schlägt unerwartete Haken, erzählt von Brutalität, Ablehnung, Ängsten, Sehnsüchten, ohne pathetisch oder gar schmalzig zu werden. Abgesehen von Kevins Bluttat gibt es einige schlimme Ereignisse in dem Buch, aber die sachliche, scharf beobachtende Erzählweise ließ es nie zuviel werden, wie es oft bei schicksalsgebeutelten Tränendrüsenbüchern passiert.


    Man fragt sich mit der Protagonistin, ob man das hätte verhindern oder voraussehen können. Woher kommt Kevins Wesen? Ist es angeboren, anerzogen, hat er die negativen „Schwingungen“ in der Schwangerschaft gespürt? Eine Horrorvorstellung, ein solches Kind zu bekommen, das mich teilweise an Ben aus „Das fünfte Kind“ von Doris Lessing erinnert hat.


    Das einzige, was mich gelegentlich wirklich gestört hat, waren Fäkalausdrücke, die nicht immer hätten sein müssen. Ansonsten lautet mein Fazit: Kein schönes, aber ein gutes und lesenswertes Buch, das mir an die Nieren ging und das ich so schnell sicher nicht vergessen werde.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Ich hebe das Buch vor ein paar Monaten gelesen. Der Einstieg war schwierig aber nach so vielen guten
    Meinungen habe ich mich durch die ersten Seiten gequält und es hat sich auf alle Fälle gelohnt.
    Ein fesselndes Buch auch wenn der Schreibstil ungewohnt ist.
    Und immer wieder stellt man sich die Frage...wie kann ein Kind so böse sein? Schon im Kleinkindalter
    so berechnend? Ich habe mit der Mutter mitgefühlt denn meiner Meinung nach hat sie sich alle
    Mühe gegeben an Kevin heranzukommen ihn auf ihre Weise ihre Liebe zu zeigen.
    Ganz anders der Vater , der alles verharmlost hat und nichts sehen wollte.
    Jetzt lese ich gerade 19 Minuten von Jody Picoult...gleiches Thema aber ganz anderer Schreibstil.

  • Etwas wirklich Neues habe ich zu diesem Buch nicht wirklich zu sagen, sondern kann mich eigentlich nur auf die Seite derer Stellen, die von diesem Roman wenig begeistert waren. Auch ich fand den Schreibstil sehr zäh und konnte mich wirklich erst so auf den letzten 50 bis 100 Seiten einigermaßen damit anfreunden, sodass ich nicht mehr für jede Seite eine halbe Ewigkeit brauchte. Evas Art, über ihren Sohn zu reden, hat mich auch wahnsinnig gestört. Ich fand sie sehr Ich-bezogen und kaum willens, auf andere einzugehen - irgendjemanden - wenngleich sie ja nur allzu oft so tat, als wenn sie genau das tun würde. Oftmals kam sie mir wie eine Heuchlerin vor. Außerdem frage ich mich auch, ob es einen Charakter wie den von Lionel Shriver erschaffenen Kevin so wirklich geben kann. Irgendwie fand ich ihn sehr unrealistisch dargestellt. Das könnte natürlich auch Absicht gewesen sein, aber ich fand es einfach nur eigenartig. Überhaupt fand ich das Buch an einigen Stellen einfach nur überzogen und daher litt es an Glaubwürdigkeit. Dass es so einseitig, das heißt nur aus Evas Warte geschrieben wurde, hat mich auch streckenweise gestört,

    Das eigentliche Ende des Buches fand ich auch etwas unrealistisch, weil ich mich ebenfalls einfach nicht vorstellen kann, dass ein Typ, wie ihn Eva ja nun über so viele Seiten hin beschrieben hat, auf einmal so handelt und scheinbar

    Dieses Ende hat auf mich irgendwie den Eindruck gemacht, als wollte Shriver doch noch so etwas wie ein kleines Happy End - oder doch wenigstens einen Hoffnungsschimmer - kreieren, was dann wiederum etwas unecht wirkte.

    With freedom, books, flowers, and the moon, who could not be happy? ― Oscar Wilde

  • Das Buch hat mich voll gepackt! In der Briefform verfasst fand ich Eva überhaupt nicht sympathisch, ich konnte sie nicht leiden und würde privat niemals mit so einem Menschen verkehren wollen. Aber ich fand den Charakter hochinteressant. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass einen dieses Buch kalt lässt. Wie die Umstände erzählt werden wie Kevin zu einem Amokläufer geworden ist, der mehrere Menschen getötet hat, war einfach faszinierend. Ich kam mir teilweise wie ein Stalker vor oder wie ein Gaffer, der einen schlimmen Unfall "bestaunt" und einfach nicht wegsehen kann trotz der schlimmen Bilder. Immer thront die Frage über dem Leser: Kann ein Mensch böse geboren werden oder ist er immer ein Produkt seiner Umwelt und seiner Einflüsse? Eine konkrete Antwort wird man nicht bekommen, aber auf jeden Fall eine Menge Denkanstöße. Am Ende geht es wohl wissend in den Abgrund, man weiß größtenteils worauf es hinauslaufen wird, aber man wird trotz allem geschockt wenn man Einzelheiten zur Tat erfährt. Mir hat diese Geschichte den Atem stocken lassen und ging mir stärker an die Nieren als so ziemlich alles, was ich an Brutalitäten zuletzt in Horrorromanen oder Thrillern gelesen habe. Dieses Buch wird lange nachhallen.
    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • vielen Dank für den Tipp! Ich habe "We need to talk about Kevin" mit der fantastischen Tilda Swinton als Eva vor ca. 2 Jahren im Kino gesehen und wusste gar nicht, dass der Film auf einem Buch beruht. Das kommt jetzt auf jeden Fall auf meine Leseliste, denn auch der Film hat noch Wochen bei mir "nachgewirkt" ...
    Interessant allerdings, dass Kevin im Buch anscheinend als das Böse schlechthin dargestellt wird, beim Schauen des Films hatte ich eher den Eindruck, es ginge um die Folgen unbehandelter postnataler Depressionen; aber vielleicht lässt mich meine Erinnerung da auch im Stich, ist ja auch schon 2 Jahre her :-k

    “My experience of life is that it is not divided up into genres; it’s a horrifying, romantic, tragic, comical, science-fiction cowboy detective novel. You know, with a bit of pornography if you're lucky.” (Alan Moore)


    ... und auch mein Blog freut sich über ein bisschen Besuch: www.comicromane.com ...

  • Interessant allerdings, dass Kevin im Buch anscheinend als das Böse schlechthin dargestellt wird, beim Schauen des Films hatte ich eher den Eindruck, es ginge um die Folgen unbehandelter postnataler Depressionen; aber vielleicht lässt mich meine Erinnerung da auch im Stich, ist ja auch schon 2 Jahre her

    Dass Kevin im Buch als böse dargestellt wird, ist zwar korrekt, aber man muss auf jeden Fall anmerken, dass der komplette Text ja in der Briefform von der Mutter verfasst worden ist. Somit ist das eigentlich nur ihre Sicht der Dinge und sie führt ja auch an, dass Ihr Ehemann das ganz anders gesehen hat.
    Postnatale Depressionen sind auch im Buch ein wichtiges Thema, wenn auch nicht die Hauptthematik.


    Ich werde es umgekehrt machen und mir demnächst den Film besorgen. :wink: Es beruht ja alles ja nur auf Ansichten und Meinungen von Eva und ich bin gespannt wie das umgesetzt wurde.

  • Als ich den Titel las, dachte ich, das ist so ein Humorbuch, wo der Name Kevin mal wieder für Minderbemitteltheit verwendet wird und hab mich gewundert, dass @Kapo so etwas liest. :wink:
    Naja, scheint nicht so lustig zu sein. Aber so verbindet man manchmal nur durch einen Namen Dinge, die gar nicht zutreffend sind.

  • Ich weiß nicht, wo ich das denn posten sollte..., doch hier schauen vielleicht Leute rein, die sensible sind für die Stimme von Lionel Shriver. Und ich erhielt da ein Interview mit ihr über den Umgang mit Corona, insbesondere gegen Ende des Gesprächs: unserem Umgang mit dem Tod. Finde ich ganz interessant:

    https://www.youtube.com/watch?v=a6YYI7nPy-0

  • Es gibt Bücher, die sind grandios gut. Dabei geht es eigentlich immer um Emotionen:

    Sie regen zum Nachdenken an, bringen dich zum lachen, zum weinen, unterhalten so kurzweilig, dass sie sich quasi von selbst lesen.

    "Wir müssen über Kevin reden" ist all das auf einmal und gleichzeitig nichts davon. Es ist eines dieser seltenen Bücher, die einer emotionalen Achterbahnfahrt gleichen, mich bis ins Mark erschüttern und einen derartigen Nachhall haben, dass ich sie nie wieder vergesse.

    Tatsächlich habe ich nun mehrere Monate gebraucht, um dieses Buch zu verdauen.


    Ich hatte Spaß beim Lesen, obwohl dieses Buch toternst gemeint ist.

    Stellenweise fühlt es sich nach Arbeit an, aber auf die gute Art, und erzeugt dabei eine solche Wucht, dass ich oftmals Angst hatte, auf die nächste Seite zu blättern.

    Lionell Shriver hat hier etwas geschaffen, das mich noch immer in emotionalen Aufruhr versetzt und im Rückblick wie ein gähnender Abgrund wirkt. So denke ich tatsächlich daran zurück, dieses Buch macht mir Angst.

    Wer bei diesen Schilderungen an plakative Exploitation denkt und primitive Gewaltorgien, welche im Krimi und Horror Segment mittlerweile zum Standard gehören, könnte falscher nicht liegen.

    Dieses Buch gleicht einem Seelenstriptease, bis hinein in die tiefsten menschlichen Abgründe und noch darüber hinaus - erzeugt mit einer Subtilität und einer Wortgewalt, die ihres Gleichen sucht. Ich habe irgendwann aufgehört, mir Zitate abzuspeichern, einfach weil es eine derartige Häufung an sprachlicher Schönheit und bemerkenswerten Gedanken gibt, dass es mich zu oft herausgerissen hat.


    Stück für Stück lässt Lionell Shriver die bürgerliche Fassade abblättern und zieht die Leser in ein Geflecht aus bedingungsloser elterlicher Liebe, Lust, Leidenschaft, Selbsterkenntnis, Selbstbetrug, Lügen, Schein und unvorstellbarer Gewalt. Das alles empfand ich als besonders schrecklich, gerade weil es Zweifel an Dingen weckt bzw. diese pervertiert, die für mich einen natürlichen Zustand darstellen. Etwa die bedingungslose Liebe der Eltern, aber auch den Eltern gegenüber. Das konnte ich kaum ertragen.

    Aus diesen Zutaten ergibt sich ein logisch aufgebautes Konstrukt, das seine Protagonisten nur um so glaubhafter erscheinen lässt. Lionell Shriver baut das Grauen sehr langsam auf, dekonstruiert die scheinbar heile Welt fast in Zeitlupe und lässt nur zwischendurch aufblitzen, was dahinter noch lauert. Wodurch sie eine beängstigende Atmosphäre schafft und düstere Spannung erzeugt. Ich hatte irgendwann regelrecht Angst vor dem Gesamtbild und selbst nachdem es mir dann präsentiert würde, schaffte es die Autorin immer wieder, noch einen draufsetzen und mich zu erschüttern.

    Ich wollte das alles irgendwann nicht mehr lesen und konnte es doch nicht aus der Hand legen.


    Fazit:

    Eines der besten Bücher die ich jemals gelesen habe. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen, denn hier passt einfach alles.

    Gleichzeitig hat es mir eine Heidenangst eingejagt, weil es Gedankengänge verfolgt, die jeder Mensch am liebsten weit von sich schiebt.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: ( :bewertung1von5: :bewertung1von5:)

    "Ich bin eitel, hochmütig, tyrannisch, blasphemisch, stolz, undankbar, herablassend - bewahre aber das Aussehen einer Rose" Pita Amor