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  • Hallo zusammen.
    In der zweiten Einteilung geht es turbulent weiter.
    Ian von Schuldgefühlen geplagt sucht Hilfe in einer Sekte mit strikten geradezu irrsinnigen Geboten. Kein Zucker, kein Koffein, kein Sex vor der Ehe - absurd, unzeitgemäß. Wen wundert es, dass Cicely sich langsam zurückzieht.
    Reverend Emmetts Äußerung Gott wolle von ihm als Schadenswiedergutmachung, dass er an seine Grenze geht. Einfach unverantwortlich.
    Ian läßt sein Studium sausen, nimmt eine Stelle als Tischler an um sich intensiv um die Kinder kümmern zu können. Man stelle sich vor welch eine Verantwortung für einen 19 Jährigen. Ob den drei Heranwachsenden, Thomas, Agatha und Daphne in all den Jahren klar ist, was er für sie opfert?
    In den ersten Jahren hat er kaum Zeit für sich. Alle klammern sich an ihn. Als die Drei dann keinen Babysitter mehr brauchen, haben sich seine Freunde längst zurückgezogen.
    Per Zufall lernt er einen Privatdetektiv kennen, findet bei Agatha endlich Papiere, die es ermöglichen die Adresse und Identität des Vaters von Agatha und Thomas zu ermitteln. Leider ist dieser bei einem Motorradunfall gestorben, aber seine Mutter lebt noch. Ian besucht sie und erfährt einiges. Sympathisch kommt sie bei mir nicht rüber. Sie läßt an Lucy kein gutes Haar. Sie vermutet, dass Agatha nicht von ihrem Sohn ist. Auch, dass sie bereits damals schon geklaut hat.
    Lucy - ein ganz schön durchtriebenes Persönchen für die Männer nur Mittel zum Zweck sind, aber kein glückliches Händchen bei ihrer Wahl hat.
    Stellt sich die Frage warum die "Großmutter" nicht zur Stelle war.
    Ian wollte seine Zöglinge nicht abgeben, aber Antworten für später, wenn sie mal fragen. Ich bewundere ihn wie er alles meistert, kritisiere aber, dass er die Kinder in die Sekte mit einbringt. Schlimm genug, dass er dort Halt sucht.
    Amüssant ist die Freundschaft seines Vaters zu den "Ausländern" und deren Erfahrungen mit der modernen Technik. Lachen musste ich bei der Vorstellung des geteilten Autos bei der Montage eines elektrischen Garagetors.
    Die dritte Einteilung wird sich wohl mehr wieder Ian zuwenden, der ein bißchen Glück verdient hat. Das will ich heute Abend angehen.
    Gruß Wirbelwind


    :study: Anne Tyler, Fast ein Heiliger

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    Bücher sind die Hüllen der Weisheit, bestickt mit den Perlen des Wortes.

  • Tja, Ian sucht Halt in der Kirche zur zweiten Chance. Kein anderer ist für ihn wirklich da, hat für ihn ein offenes Ohr. Die Gebote dort sind zum Haareraufen und für mich überhaupt nicht nachvollziehbar. Für mich spielte diese Kirche/Sekte eine etwas zu große Rolle in diesem zweiten Leseabschnitt. Aber natürlich ist mir auch klar, dass sie für Ian von größter Bedeutung ist, weil er dort das findet, was ihm keiner aus der Familie geben kann. Trotzdem, mir war es etwas zuviel. Dass er dann auch noch die Kinder dorthin schleppt, aus seiner Sicht nachvollziehbar, aus meiner Sicht sträflich.


    Ich bin der Meinung, die drei Kinder können nicht einschätzten, was Ian für sie alles opfert. Generell kann ein Kind wohl erst richtig einschätzen, was die eigenen Eltern getan/geopfert haben, wenn es selbst in der Situation ist und Kinder hat und das Leben ähnliche Entscheidungen von ihm fordert.


    Aber trotz seiner Zuwendung zur Kirche der zweiten Chance ist mir Ian recht sympathisch. Bewundernswert wie er in so jungen Jahren diese Lebenssituationen meistert.


    Die Frage, warum die Großmutter nicht hilfreich eingesprungen ist, habe ich mir auch gestellt, die passende Antwort habe ich nicht gefunden, vielleicht doch, weil sie Lucy nicht sonderlich mochte.


    Die Ausländer haben auch bei mir für Schmunzler gesorgt, sie sind immer für eine Überraschung gut und die Technik scheint nicht das zu sein, was sie beherrschen. Als dann das neue Garagentor eingebaut wurde, konnte es eigentlich nur schief gehen.


    Mit diesem Buch von Anne Tyler haben wir uns ein wirklich gutes Leserundenbuch gewählt. Ich bin nun auch langsam auf den Geschmack gekommen und werde mich sukzessiv dran machen, ihre anderen Bücher auch zu lesen.

  • Hallo Karthause,
    für die Enkelkinder nicht da zu sein und später auch nicht nach deren Verbleib zu forschen nur weil sie die Schwiegertochter nicht mochte - ein schwaches Argument. Nun ja Herzenswärme scheint bei ihr wohl nicht angesagt.
    Was mich irgendwie wundert ist, dass von behördlicher Seite nichts geschah.
    Und du hast recht - die Sekte ist auch mir ein Dorn im Auge.
    Schön, dass du jetzt auch auf dem Anne Tyler Tripp bist. Fezzig hatte mal angesprochen "Atemübungen" gemeinsam zu lesen (habe ich bereits hier liegen). Wie wär's? Ist aber noch Zukunftsmusik. :lol:
    Gruß Wirbelwind


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  • Ich sehe die Sekte nicht ganz so negativ. Was wäre geworden, wenn Ian nicht den Referend getroffen und seinen Rat befolgt hätte? Die Kinder wären wahrscheinlich im Heim gelandet oder auf der Strasse und Ian hätte lebenslang an seiner Schuld getragen (was auch immer man darüber denken mag, er empfindet es jedenfalls so). Die Essenseinschränkungen sind natürlich nervig, aber es wird auch mehrmals erwähnt, dass sich die wenigsten hundertprozentig daran halten. Ian ist da wohl der vorbildlichste, eben fast ein Heiliger ;) Der Referend gibt später selbst zu, dass an den Regeln einiges zu verbessern wäre.


    Die Ausländer: lustig ja. Aber irgendwie auch diskriminierend, wie sie da alle in einen Topf geworfen werden und keiner wirklich als eigenständige Persönlichkeit auftritt. Aber wahrscheinlich will die Autorin damit nur darstellen, wie die Einwohner über Ausländer denken, nicht wie sie wirklich sind.

  • Hallo zur zweiten Runde! :flower:


    Also als ich gelesen habe, dass der Reverend meint, Gott hätte ihm nicht verziehen und er sollte vom College abgehen, hab ich schon erstmal geschluckt. :shock: Ian hätte eigentlich klar sein müssen, dass ein Pfarrer ihm gesagt hätte, er wäre nicht Schuld an dem Tod seines Bruders. Schön fand ich ja, dass er in die Kirche gegangen ist, um sich dort "Luft" zu machen (auch wenn ich nicht kirchlich bin) und ich dachte erst, dass er sich nach der Beichte beim Reverend besser fühlt. Mitunter tut er das ja auch, aber die Konsequenzen sind, dass er sich jetzt um die Kinder kümmert und arbeiten geht. Ein völlig anderes Leben wie er es sich immer vorgestellt hatte. Ich bin gespannt wie es weiter geht und werd gleich weiter lesen.


    Genau wie Karthause werde ich ihre anderen Bücher auch lesen und gleich beim nächsten Besuch in der Bücherei welche mitnehmen. Falls nochmal eine Leserunde mit Anne Tyler startet, bin ich sicher wieder dabei! :thumright:


    Lg, Lorelai

  • Hallo berita, hallo Lorelai,
    wenn es um Sekten geht bin ich immer skeptisch, manchmal reagiere ich mit totaler Ablehnung, weil sie auch eine gewise Art von Gehirnwäsche und Fanatismus in sich bergen.
    Ian findet in der Gemeinschaft Trost und Halt, wie er selbst sagt. Ich lasse es einfach mal so stehen.
    Nur stellt euch mal vor der Rat des Reverenden wäre ins Gegenteil umgeschlagen. Ian wäre mit der neuen, schweren Situation nicht fertig geworden. Er hätte zu den Schuldgefühlen wegen seines Bruders auch noch das Versagen als "Erzieher" vor Augen gehabt. Mit 19 Jahren kann man nicht unbedingt Lebenserfahrung erwarten. Nicht auszudenken was dann geschehen wäre.
    Auf die Ausländer ist Anne Tyler bis auf die erheiternde Technikepisode nicht einzeln eingegangen. Diskriminierung kann ich da nicht entdecken. Ihr Schicksal hätte doch zu weit vom eigentlichen Thema weggeführt. Und überhaupt-sie waren zu allen Festlichkeiten der Familie mit viel Herzlichkeit eingeladen. Für mich verkörpert das eher Offenheit.
    Ich habe das Buch inzwischen fertig gelesen. Dazu morgen mehr in der 3.Einteilung. :)
    Gruß Wirbelwind


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  • Puh, im zweiten Teil geht es heftig weiter.
    Die Kirche/Sekte/was auch immer tritt immer mehr in den Mittelpunkt.


    Die Kinder verbringen dort die Ferien. Welche Möglichkeit hätte es sonst zur Kinderbetreuung gegeben? Ian hatte vielleicht keine andere Wahl. Und da er Halt in dieser Gemeinschaft findet, ist es für ihn vermutlich eine naheliegende und gute Lösung.


    Zitat

    Original von Karthause
    Aber trotz seiner Zuwendung zur Kirche der zweiten Chance ist mir Ian recht sympathisch. Bewundernswert wie er in so jungen Jahren diese Lebenssituationen meistert.


    Das stimmt, manchmal gerät es in den Hintergrund, ich habe es z. B. zwischenzeitlich beinahe vergessen, dass er noch so jung ist.

    Liebe Lesegrüße
    Eure Süße
    :study::)


    Erinnerungen, die unser Herz berühren, gehen niemals verloren.

    Einmal editiert, zuletzt von Süße ()

  • Ein HALLO in die Leserunde!


    Ich meinte in meinem Beitrag natürlich nicht, dass es die logische Schlussfolgerung sei, die Großmutter konnte Lucy nicht leiden - deshalb kümmert sie sich nicht um ihre Enkel. Es war nur der einzige Ansatz, der mir dazu einfiel. Verständnis bringe ich dafür nicht auf.


    Dieser Religionsgemeinschaft stehe ich auch mit äußerster Skepsis gegenüber, wohl auch weil die Grundsätze für mich nicht verständlich sind. Aber ich sehe auch, dass Ian in seiner Situation eine Stütze brauchte.


    Auch ich sehe in den lustigen Episoden über die Ausländer nichts Diskriminierendes. Sie sind von ihrer Umgebung m.E. anerkannt. Sonst würden sie an den Feiern nicht teilnehmen. Ich habe das eher so eingordnet wie das "frischvermählte Paar", das ja auch schon seit Jahren verheiratet ist und in Ermangelung von neueren Frischvermählten diesen Status nicht los wird.


    Wirbelwind
    Bei einer weiteren Tyler-Leserunde z.B. Atemübungen wäre ich, wenn es zeitlich passt, dabei.

  • Ich habe gestern abend das 5. Kapitel beendet und bin somit auf Seite 193 angelangt. Am liebsten möchte ich gar nicht zu lesen aufhören, muss mich aber doch zurückhalten, um hier ab und an zu posten. Es tut mir leid, dass ich mich bisher so wenig eingebracht habe und auch jetzt nichts zum Inhalt sage, weil ich gleich zur Arbeit muss.


    Bitte seid mir nicht böse. Der Zeitpunkt der Leserunde fällt leider unerwarteterweise auf einen Termin, an dem plötzlich sehr viel in meinem Leben passiert und lesen eher zweitrangig ist. Heute abend werde ich mir aber die Zeit nehmen, meine bisherigen Eindrücke zu schildern.


    Was ich an dieser Leserunde so interessant finde, ist die unterschiedliche Wahrnehmung der Handlung : sei es die VErantwortlichkeiten der Bedloes, die Einstellung gegenüber der Sekte etc. Das macht es so spannend, diesen Thread zu lesen!

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Hallo! :flower:


    Ich hatte mich erstmal erschrocken, als Ian Eli beauftragte, den Vater von Agatha und Thomas zu suchen. Für einen Moment dachte ich: Will er die Kinder jetzt doch noch loswerden? Aber soweit kam es nicht. Er wollte nur, dass sie später wußten, wer ihr Vater war und sie sich evtl. mit ihm in Verbindung setzen wollten. Doch dazu würde es gar nicht kommen, denn er ist kurz nach Lucys Tod ebenfalls verstorben.


    Besonders schön fand ich auf Seite 217: "Man konnte es wirklich keine Buße nennen, für diese drei zu sorgen. Sie waren alles, was seinem Leben Farbe und Energie und ... nun, Leben gab."


    So, ich beschäftige mich dann mal mit dem 7. Kapitel und bin schon gespannt, denn anscheinend wollen die Kinder Ian unter die Haube bringen.


    Lg, Lorelai

  • Hallo Maedels!


    Was die Sekte "Kirche der zweiten Chance" betrifft, sehe ich es aehnlich wie berita. Die Regeln der kleinen Sekte kommen mir nicht ungewoehnlich oder uebermaessig streng vor. Alkohol ist in vielen Religionen verboten, Sex vor der Ehe wird auch in der katholischen Kirche nicht gern gesehen, und dass Industriezucker und Koffein von Uebel seien, das predigen weiss Gott nicht nur die Religionen. Das Besondere an dieser Sekte ist der Gedanke der Wiedergutmachung, d.h. jeder soll fuer seine Taten und ihre Folgen einstehen und aktiv Verantwortung uebernehmen.


    Reverend Emmett scheint mir auch nicht der uebliche charismatische, indoktrinaere und despotische Sektenfuehrer zu sein, sondern ein netter, bemuehter Mann, den auch die Kinder moegen. Es ist doch wirklich nicht anzunehmen, dass Ian dem Rat des Reverend gefolgt waere, wenn er diesen Entschluss nicht selbst schon laengst innerlich gefasst haette.


    Dafuer gibt es etliche Anzeichen: Die Geborgenheit und den Frieden, die er beim Gesang der Gemeinde auf der Beerdigung Lucys fuehlt, die Erkenntnis, dass seine Mutter mit der Betreuung der Kinder heillos ueberfordert ist, die Beobachtung, dass die Kinder ungluecklich sind, weil sie spueren, dass sie unerwuenscht und nur eine Belastung fuer Bee sind und seine Faszination von der stillen, die Welt ausschaltenden, ganz der Bearbeitung des Holzes gewidmeten Taetigkeit des tauben Tischlers. Ian war ein ziemlich schlechter Schueler und hat das College, auf das er nur mit Ach und Krach aufgenommen wurde, nur besucht, weil die Eltern es so vorgesehen hatten. Ich finde, es ist einer sehr reife und erwachsene Entscheidung von ihm, seinen eigenen Weg zu gehen.


    Menschen, die von starken Schuldgefuehlen gequaelt werden, finden oft im Leben keinen Halt mehr. Ich kann mir vorstellen, dass Ian das College irgendwann geschmissen, immer wieder die Jobs gewechselt und keine Beziehung lange durchgehalten haette.


    Er ist zu der Sekte gekommen, weil er sie gesucht und - jedenfalls in diesem Moment seines Lebens - dringend gebraucht hat.


    So, nun habe ich das fuenfte Kapitel fast durch. Jetzt kommt endlich auch der Vater ins Spiel. Bis spaeter! Monika

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  • Hallo mofre,
    nun ich stimme dir zu,dass Reverend Emmett hier in gemäßigter Form dargestellt wird und besonders in der letzten Einteilung auch positive Punkte in meiner Beurteilung erhält. Gebote und Verbote von seiten einer Kirche oder Sekte kann ich aber nur begrenzt akzeptieren. Sobald sie mein Privatleben unangebracht beeindrächtigt, reagiere ich darauf mit Nichtbeachtung oder im Extremfall mit totaler Ablehnung. Die zweite Chance mit dem Gedanken der Wiedergutmachung birgt Gefahren, die zunächst so mancher nicht überblickt. Und Gemeinschaft kann etwas sehr Schönes sein,doch Zusammengehörigkeit und Abhängigkeit liegen nah beieinander.
    Vielleicht bin ich in dem Punkt zu kritisch und schon möglich, dass ich überzogen reagiere. :-?
    Gruß Wirbelwind


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  • Ich will versuchen, all meine Gedanken zu notieren, aber hier wurde bereits soviel angesprochen, dass ich Angst habe, den Überblick zu verlieren.


    Ich hole Mofres These aus dem 1. Thread herüber, weil es in diesem Teil noch mehr dazu zu sagen gibt:


    Zitat

    Original von Mofre
    Ich halte es aber nach wie vor fuer ein entscheidendes Charakteristikum der Familie Bedloe, dass sie nicht ernsthaft miteinander reden kann und dass vor allem Bee Probleme nicht wahrhaben will.


    Bees Einstellung zum Leben hat mich beim Lesen sehr stutzig gemacht, passt aber in das Schema:


    Zitat

    "Wir hatten so ungewöhnlichen Kummer [..], aber irgendwie sind wir dadurch gewöhnlich geworden. Das ist es, was so schwer zu verstehen ist. Wir sind keine besondere Familie mehr. [...] Wir sind unsicher geworden. Wir sind Pessimisten geworden."
    S. 189f


    Wenn es nach Bee ginge, bliebe alles oberflächlich, ungesagt und auf der heiteren Seite. Denn dann hebt sie sich von der Masse ab. Diese Aussage widerspricht den Erwartungen des Lesers, dem doch durch Medien und Gesellschaft vorgegaukelt wird, die Vergangenheit der Bedloes sei der amerikanische Traum. Und dann stellt sich heraus, dass es ihn nicht so häufig gibt. "Applepie-Familien" leben auch in ihren glücklichen Zeiten eine Lüge. Interessanter Gedanke!
    Vor diesem Hintergrund verstehe ich endlich den Sinn, die Ausländer in die Geschichte einzubringen. Sie sind unkonventionell, aber leben den "American way of life".


    Ich schließe mich berita und mofre mit meiner Meinung zur "Kirche der zweiten Chance" an. Für jemanden in Ians Situation gibt es sicher kein generelles "Richtig oder Falsch". Dass Ian sich der Kirche (Sekte?) zuwendet, ist für mich nur natürlich. Dort findet er ein Verständnis, dass ihm niemand in seinem Umfeld geben kann. Der Reverend hört ihm zu und versucht nicht, alles schön zu reden. Die Schuld, die Ian empfindet ist real. Als er versucht, darüber zu reden, nimmt ihn niemand ernst. Ich glaube daran, dass man in der Situation das Bedürfnis hat, sich auszusprechen und mit seinen Ängsten ernst genommen zu werden. Wenn Dinge ausgesprochen sind, werden sie weniger bedrohlich und es gelingt einem, Situationen objektiv anzugehen und zu handeln.


    Jede Handlung birgt Konsequenzen in sich. Die "Lösung", die der Reverend vorschlägt, ist natürlich ungemein hart (Ian kann sicher selbst nicht abschätzen, was er aufgibt), aber stellte euch doch sein Leben mit den Schuldgefühlen vor! Was für ein Leben hätte so ein sensibler Charakter wohl gehabt? Wer weiß, ob er nicht an seinem Schweigen, dem Schicksal der Kinder und seiner Schuld zerbrochen wäre und Danny in den Freitod gefolgt wäre...


    Was mir an der Kirche gefällt, ist, dass sie nicht in Traditionen und steifen Ritualen erstarrt ist, sondern alle Gemeindemitglieder im Notfall etwas zum Gemeinschaftsleben beitragen. In solch einer kleinen Gruppe ist dies noch überschaubar und hält den Alltag flexibel. Keine Ahnung, was noch kommen mag, aber abgesehen von den Essens- und Verhaltensregeln scheint es doch nichts anderes zu sein als eine gut funktionierende Kommune. Natürlich gibt es auch schlechte Beispiele solcher Glaubensgemeinschaften. Aber alle vorab als schlecht abzustempeln, halte ich für voreilig. Außerdem glaube ich nicht, dass die Kinder allzu großen Schaden davontragen. Sie scheinen mit etwaigen Verboten ganz gut umgehen zu können (sprich: sie biegen zu können). Bees ständiges Gemäkel an den Handlungen ihres Sohnes Ian und ihre fehlende Bereitschaft, an Dannys Selbstmord zu glauben, finde ich viel verheerender.

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  • Zitat

    Original von Wirbelwind
    Hallo Karthause,
    [...] Fezzig hatte mal angesprochen "Atemübungen" gemeinsam zu lesen (habe ich bereits hier liegen). Wie wär's? Ist aber noch Zukunftsmusik. :lol:
    Gruß Wirbelwind


    Ich habe auch Interesse, kann aber frühestens wiede aber ab September. Das neue Buch der Autorin, das Marie in einem anderen Thread vorstellte, würde ich auch mitlesen. Ich hatte die englische Version letztens in der Hand und werde es kaufen, wenn ich umgezogen bin.


    Im zweiten Halbjahr sollte ich wieder an mehr Leserunden teilnehmen können! :D

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  • Zitat

    Original von Lorelai


    Besonders schön fand ich auf Seite 217: "Man konnte es wirklich keine Buße nennen, für diese drei zu sorgen. Sie waren alles, was seinem Leben Farbe und Energie und ... nun, Leben gab."


    Den Satz und die Beschreibungen, die ihm vorangehen, fand ich auch besonders schön. Leider schleiche ich noch immer hinter euch her und habe gerade erst das 6. Kapitel beendet.


    Ian hat Zweifel an Gott, der Kirche und seiner Entscheidung, die Kinder groß zu ziehen. Meiner Meinung nach ist das ganz normal. Er ist jetzt 26 Jahre und realisiert, was er verloren hat und kann sich noch nicht mit der Zukunft abfinden, die vor ihm liegt. Zusätzlich hat er sich selbst noch immer nicht für seine Handlungen als 16-Jähriger vergeben, aber ich bin sicher er kommt noch dahin, mit seiner Schuld zu leben.


    Insgesamt ist Ian ein großer Sympathieträger.

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  • Nach den schlimmen Ereignissen im ersten Teil ist nun Ruhe eingekehrt. Die Kinder haben ein geregeltes Leben bei den Bedloes, und Ian findet in den taeglichen harten Anforderungen, die die Kindererziehung und die Arbeit an ihn stellen, sein inneres Gleichgewicht wieder. In dieser Phase des Romans kommen nun auch einige komische Szenen vor (der Ferienkindergarten der "Kirche der zweiten Chance", das Picknick der Sektenmitglieder mit ihren Angehoerigen, die Auslaender und ihre Besessenheit von der amerikanischen Technik).


    Endlich tritt auch Vater Bedloe staerker in Erscheinung. Seit seiner Pensionierung weiss der stille, unauffaellige Mann nichts Rechtes mit seinem Leben anzufangen. Er verbringt den Tag damit, den Hund spazierenzufuehren und bei den Auslaendern vorbeizuschauen. Es ist richtig, dass sie als gesichtslose, auswechselbare Stereotypen erscheinen, aber das gilt doch fuer die ganze Nachbarschaft. Selbst Mrs Jordan, die als pars pro toto steht (ja, jetzt kann ich endlich mal meine Bildung an den Mann bringen!), wird nicht naeher beschrieben. Die Auslaender und ihre Technikmacke sind wohl auch eher als eine Art running gag zu werten.


    Bee und Doug Bedloe sind ueber den Verlust ihres Sohnes nicht hinweggekommen. Alter und Krankheit machen ihnen zu schaffen, sie haben einen Punkt erreicht, "an dem einfach nichts mehr der Muehe wert zu sein schien" (S. 180), sind "unsicher" und "zu Pessimisten" (S. 190) geworden. Doug vermisst Danny, weil er mit ihm im Gegensatz zu dem stillen, wortkargen Ian reden konnte. Bee leidet darunter, dass die Familie nicht mehr ist, wie sie war: Danny ist tot, Ian voellig veraendert, Claudia laesst sich kaum noch blicken. Und die drei Kinder sind ihnen kein Quell des Trostes und der Freude, sie bleiben "anderer Leute Kinder " (S. 189).


    Die schon von Fezzig angefuehrte Stelle, in der Bee davon spricht, dass ihre Familie durch den Schicksalsschlag "gewoehnlich" geworden sei, hat bei mir eine Wandlung in der Beurteilung der Bedloes, insbesondere Bees bewirkt, die der Fortgang des Romans bestaetigt hat. Zunaechst: Bee hat doch Recht, Leid adelt nicht. Im Unglueck, Kummer und Tod holt einen die triste, schaebige Wirklichkeit ein, man fuehlt sich doch regelrecht vom Leben weggeworfen. Und es ist doch auch so: Erst wenn etwas Schlimmes unser Leben veraendert hat, wird uns bewusst, wie gut wir es vorher hatten. Das Besondere an Bee und den Bedloes war doch, dass sie sich dessen schon vorher bewusst waren. War das wirklich Selbstbetrug oder Luege? Es ging ihnen doch wirklich gut. Sie waren eine intakte, gesunde Familie, die sich gut verstand und gerne zusammen war. Und ueber die ueblichen Schwierigkeiten und Probleme, die in einer Familie vorkommen, mit Humor hinwegzugehen, ist das nicht am Ende die richtige Einstellung? Und beweist es nicht grosse Staerke, dass Bee ihre Enttaeuschungen und Bedenken ueber manche Dinge unterdrueckt und fuer eine heitere, harmonische Atmosphaere gesorgt hat?


    Was haette es genuetzt, wenn sie ihren Kindern Vorwuerfe gemacht haette, weil sie trotz guter Voraussetzungen beruflich so wenig zustande gebracht hatten? Oder wenn sie sich darueber mokiert haette, dass ihr Sohn eine geschiedenen Frau mit zwei Kindern heiraten wollte? Was haette es gebracht, wenn sie die Vaterschaft Dannys ganz offen in Frage gestellt haette? Es waere nur zu Kraenkungen, Verbitterungen und Misstrauen gekommen, die die Familie nachhaltig belastet haetten. Die Beziehungen zwischen den Menschen ist ein Drahtseilakt und zudem staendig vom Schicksal bedroht. Ist es nicht sehr weise von Bee, den Zustand von Glueck und Zufriedenheit nicht zu gefaehrden? Und was dabei herauskommt, wenn man bestimmte Probleme anspricht, zeigt ja das krasse Beispiel mit Ian und Danny. Das falsche Wort zur falschen Zeit hat - unabsichtlich - ein Leben und eine Familie zerstoert.


    Ich versuche in den naechsten Tagen, meinen Eindruck zum dritten Teil und mein Gesamtfazit zu posten. Ich habe leider wenig Zeit, habt also bitte etwas Geduld!


    Gruss mofre

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  • Sehr interessant fand ich auch den Auftakt zu Kapitel 6 (Proberegen), in dem die Mitglieder der Kirche beim Anstrich von Reverend Emmetts Haus helfen. Irgendwie mag ich die Gemeinschaft. Wie später auch klar wird, nimmt sich jeder die Freiheiten, die er braucht, um mit seinem Glauben glücklich zu werden und nicht allein zu sein. Es gibt zwar die Regeln - ein gutgemeinter Ratschlag des Reverends, Sünden von seinen Anhängern fern zu halten - doch diese werden selbst von Emmett später hinterfragt und als unnütz eingestuft.


    Wie zu erwarten, fehlt bald der Nachwuchs in dieser Gemeinschaft von Außenseitern. Wahrscheinlich überlebt sich die Kirche mit Emmetts Tod. Schade eigentlich...


    Aber was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass Ian Eli kennenlernt, einen streng gläubigen Christen. Obwohl er missionarisch denkt, benimmt er sich doch recht zurückhaltend und anscheinend fasziniert von der Gemeinde. Ich fand ihn irgendwie sympathisch, in seiner neugierigen Art und seinem offenen Interesse an Ian.


    Noch lebt Bee, aber sie lebt zunehmend beeinträchtigter. Meiner Meinung nach bleibt alle Arbeit und Verantwortung auf Ian haften. Sein Vater sieht die Belastung anscheinend nicht - wie er sie schon bei seiner Frau übersehen hat. Er ist ganz "Mann seiner Generation". Auf mich wirkte es so, als ob Ian sein eigenes Leben hinten an stellt und ganz in seiner Arbeit und Familie aufgeht. Erst zu spät merkt er, was er vermisst. Etwas, das auch später von den Kindern bemängelt wird: er ist eigenbrödlerisch, eigensinnig und langweilig. Trotz allem scheint seine Kollegin Jeannie von ihm fasziniert - und er zumindest ansatzweise auch von ihr. Doch zu einer Beziehung kann er sich nicht durchringen und eine Liebelei verbietet ihm sein Glaube. Er versteckt sich vor seinem Leben. Etwas, dass auch Reverend Emmett bemerkt und ihm vorhält. Er drängt ihn, sich selbst zu vergeben.


    Ich bin wirklich froh, dass es auch für ihn ein gutes Ende gibt...


    Zitat

    Original von mofre
    Die Beziehungen zwischen den Menschen ist ein Drahtseilakt und zudem staendig vom Schicksal bedroht. Ist es nicht sehr weise von Bee, den Zustand von Glueck und Zufriedenheit nicht zu gefaehrden? Und was dabei herauskommt, wenn man bestimmte Probleme anspricht, zeigt ja das krasse Beispiel mit Ian und Danny. Das falsche Wort zur falschen Zeit hat - unabsichtlich - ein Leben und eine Familie zerstoert.


    Ich verstehe was du meinst, denke aber doch, dass man gerade auch durch Schweigen sehr verletzen kann. Und da kann das dann Leben zerstören - hier im Roman ist es Ian, der gern über seine Schuld sprechen möchte, aber nicht weiß wie (zum Glück kriegt er die Kurve, aber sein Leben hätte auch anders laufen können). In einem anderen Schicksal/Leben ist es das fehlende Engagement z. B. gegenüber einem Alkoholiker oder Esssüchtigen etwas, dass im schlimmsten Fall zum Tod führt.


    Dein Vergleich mit dem Drahtseilakt trifft es sehr schön. Schweigen oder Kommunikation - was richtig ist, weiß man zumeist erst, wenn man sich für eine Option entschieden hat.


    Anne Tylers Romane spielen immer mit den Formen und Ausprägungen der Kommunikation. Das gefällt mir so daran! Alltäglich und doch immer verschieden!

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  • Fezzig, die Figur des Eli sehe ich etwas anders. Eigentlich ist er doch recht unsympathisch. Er verkörpert den selbstgerechten Christen, der nur seinen Glauben für den alleinseligmachenden hält und andere Glaubensrichtungen kritisiert. Allerdings ist es nett und menschlich, dass er sich in der "Kirche der zweiten Chance" mit ihrer familiären Atmosphäre, der gegenseitigen Hilfsbereitschaft und den nicht allzu streng gehandhabten Regeln offensichtlich viel wohler fühlt, sonst wäre er nicht bei jeder Gelegenheit dort. Aber das gibt er natürlich nicht zu.


    Gruß mofre

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