Barry Unsworth - Die Masken der Wahrheit / Morality Play

  • Klappentext:


    Im späten 14. Jahrhundert erreicht eine Gruppe reisender Schauspieler eine kleine Nordenglisch Stadt. Als sie sich darauf vorbereiten, ein "Morality Play" vorzustellen, erfahren sie von einem Mord in der Stadt. Sie beschließen aus diesem Mord ein eigenes Schauspiel zu machen um ihre Einnahmen zu steigern. Als sie aber ein wenig recherchieren um das Stück glaubwürdig zu machen entdecken sie, dass die Wahrheit über diesen Mord noch darauf wartet, aufgedeckt zu werden. Und während sie damit beschäftigt sind ihr neues Stück über einen Tod darzustellen, nehmen sie in Wirklich keit an der Geburt des modernen Dramas teil.


    Eigene Beurteilung:


    Der Titel bezieht sich auf allegorischen Darstellungen der Tugenden und Laster in den "Morality Plays" in England im späten 14. Jahrhundert.


    Neben einer Darstellung eines nicht so ganz klaren Mordfalls wird mit den Morality Plays auch das Bindeglied zwischen den religiösen Mysterienspielen und den später aufkommenden Dramen Shakespeares dargestellt und ein überzeugender Einblick in das Denken und Fühlen von Menschen im ausgehenden 14. Jahrhundert gegeben. Wer sich überwindet die kommentierte Cornelsenausgabe der Originalfassung zu lesen, erhält neben den Vokabelhilfen auch noch einige Zusatzinformationen zur Pest, zum historischen Roman und zur Geschichte des englischen Dramas an sich. Eine überaus lohnenswerte Anschaffung. :study: :study: :thumleft:

  • Gestern abend haben meine Frau und ich die Verfilmung angesehen. Und hatten unsere Freude daran. Wirklich gut gemacht und Paul Bettany als Mönch und William DeFoe als Martin bringen die Sache gut rüber, auch wenn der Bösewicht gegen Ende ein wenig platt wirkt.

  • Der Priester Nicholas ist aus dem Hoheitsgebiet seines Bischofs geflohen und muss sich verstecken. Als er vor einem Mann davonläuft, dessen Ehefrau er gerade beglückte, stößt er auf eine Truppe fahrender Schauspieler und schließt sich ihnen an.


    Schauspielertruppen wie diese besaßen kein fertiges Rollen- oder Textbuch. Sie entwarfen ihre Stücke selbst und improvosierten nicht nur bei den Proben munter drauf los. Meist wurden religiöse / biblische Geschichten dargestellt, ergänzt um allegorische Figuren wie die Menschheit, die Lüge, der Tod, die Wahrheit, die durch bestimmte Masken kenntlich waren. Es ging auch weniger um eine interessante Handlung als um die Belehrung des Publikums in moralischen Fragen: Was, bzw. welche Tat war gottgefällig, was war Ausgeburt des Satans?
    Nicht nur die Masken hatten eine klare Bestimmung, auch musste jeder Schauspieler über ein beachtliches Kontingent an Gesten verfügen, die eindeutige Aussagen hatten, z.B. eine bestimmte Fingerhaltung für "Frage" oder "Bitte"; während der Aufführungen informierten die Schauspieler einander mit Gesten darüber, wenn jemand vom geprobten Text abwich, einen Hänger hatte oder improvisierte Sätze einfügte.


    Wie schon in Die Madonna versteht Unsworth es meisterhaft, eine spannende Handlung mit lehrreichem historischem Wissen zu verknüpfen, indem er die Wissensvermittlung in die Handlung einbaut.
    Herausgekommen ist ein lebendiger, farbenfroher und im letzten Drittel äußerst packender historischer Roman. Nicholas fungiert zwar als Ich-Erzähler, aber er schildert die Geschichte in der Rückschau. Auch wenn das Prinzip der Spannungserzeugung recht simpel ist (Nicholas verweist immer wieder darauf, dass nach der Aufführung über den aktuellen Mord etwas schlimmes geschehen wird), verfehlt es seinen Zweck nicht: Als Leser fiebert man dem Moment entgegen.
    Der Autor versteht es, fesselnde Passagen temporeich zu erzählen, in handlungsärmeren Abschnitten das Interesse des Lesers bei der Stange zu halten und die Stimmung zarter leiser Szenen einzufangen (besonders gelungen: Das beobachtete "Gespräch" zwischen einem der Schauspieler und einem gehörlosen Mädchen).


    @ Klaus, der Film den Du erwähnst: Ist der Titel "The Reckoning"?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Diese Rezi muss ich seinerzeit übersehen haben. Die englische Ausgabe wandert gleich auf meine Wunschliste.

    "Books are ships which pass through the vast sea of time."
    (Francis Bacon)
    :study:
    Paradise on earth: 51.509173, -0.135998

  • @ nigma,
    das Buch gehört zu den besten historischen Romanen, die ich in der letzten Zeit gelesen habe. Liegt wahrscheinlich auch am Thema, weil mich die geschichtlichen Entwicklungen in allen Bereichen der Kunst sehr interessieren. Und hier geht es um die "Frühzeit" des Theaters.
    Dass es aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben ist, hast Du gelesen? Ich sags nur deshalb noch einmal, weil ich weiß, dass Du Ich-Erzählungen normalerweise nicht bevorzugst.

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  • Dass es aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben ist, hast Du gelesen? Ich sags nur deshalb noch einmal, weil ich weiß, dass Du Ich-Erzählungen normalerweise nicht bevorzugst.

    Ich habe bei amazon in die englische Version reingelesen. Inzwischen habe ich mich schon an Ich-Erzählungen gewöhnt. Die Serie um Master Shardlake besteht auch aus Ich-Erzählungen und hat mich trotzdem begeistert.
    Das Einzige, was mich ärgert, ist der Preis. Über 10 € für ein TB von weniger als 200 Seiten finde ich ziemlich unverschämt. Trotzdem muss ich das Buch wohl in naher Zukunft erwerben, man gönnt sich ja sonst nichts... :-,


    Edit
    Meine gute Tat für heute: Ich habe den Büchertreff unterstützt und über obigen Link das Buch bestellt.
    O:-)

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    Einmal editiert, zuletzt von €nigma ()

  • "Morality play" ist gerade angekommen. :cheers:

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  • "Morality play" ist gerade angekommen.


    Dann mal los. Ich bin gespannt, ob Du Dich darüber freust, 10 € so gut angelegt zu haben. Oder ob Du mich regresspflichtig machst. :-,

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  • Oder ob Du mich regresspflichtig machst. :-,

    Da ich selbstverständlich weiß, dass es sich bei den Beiträgen in diesem Forum nur um persönliche Meinungsäußerungen handelt, würde ich mir das nie erlauben. ;)
    Ich bin auch schon sehr gespannt. Wenn ich "Dunkelziffer" beendet habe, werde ich wohl gleich damit anfangen.

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  • Heute habe ich "Morality play" beendet. Das ist wirklich ein außergewöhnlicher Roman. Die Darstellung der beginnenden Entwicklung des Theaterspiels von den althergebrachten Moralitäten mit stereotypen Handlungen und Figuren zum Schauspiel mit "realem Inhalt" ( Handlung an wirklichen Vorkommnissen orientiert) ist sehr interessant. Allerdings wird hier nur der Beginn der Entwicklung dargestellt, als allegorische Figuren und reale Persönlichkeiten vermischt werden. Ich weiß nicht genau, wann die Figuren der Moralitäten ganz aus den Theaterstücken verschwanden.
    Beeindruckend fand ich auch die Darstellung des Lebenskampfes der wandernden Schauspieltruppen, die nie wussten, woher ihre nächste Mahlzeit kommen würde. In einer Zeit, in der Obrigkeiten-Willkür und Krankheiten (Pest) das Leben bedrohten, hatten besonders die kleinen Leute (wie z.B. auch der Weber) nichts zu lachen. Dass sich überhaupt jemand um den Fall der verschwundenen Kinder aus der Unterschicht gekümmert hat, finde ich recht erstaunlich und ich bezweifle, dass man damals wirklich wegen eines solchen Kindes eine Exhumierung vorgenommen hätte, wenn man riskierte, damit den Lord zu verärgern. :-k
    Die Sprache der englischen Originalausgabe hat mich in ihrem gepflegten Stil an die Bücher von C.J.Sansom erinnert.


    Vermisst habe ich ein Nachwort mit zusätzlichen Ausführungen zur (Früh-) Geschichte des Theaters, das in einem so anspruchsvollen Roman angebracht gewesen wäre, zumal sicherlich manche Leser zuvor nie von Moralitäten gehört haben. Außerdem hätten meiner Meinung nach die lateinischen Sprüche von Nicholas in einem Glossar übersetzt werden müssen, da vermutlich auch Leser ohne Latinum dieses Buch lesen möchten. Für das Fehlen der beiden letztgenannten Dinge ziehe ich einen Stern ab und vergebe deshalb :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: .

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  • @ €nigma, freut mich, dass Du es gern gelesen hast.

    Ich hatte das Buch aus der Bücherei ausgeliehen, musste / wollte es aber unbedingt besitzen und fand eine ungelesene HC-Ausgabe für 1 Ticket.

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