Edward P. Jones - Die bekannte Welt / The Known World

  • Ich möchte euch diesen überaus beeindruckenden Roman vorstellen und hoffe, dass meine Rezension diesem Werk gerecht werden kann!


    Originaltitel: Unknown world


    Inhalt:


    Die "bekannte Welt" hier ist das fiktive Manchester County, Virginia zwischen 1830 und 1855.


    Im Mittelpunkt des Romans steht der ehemalige Sklave Henry Townsend. Er wurde als Junge von seinem Vater freigekauft, sehnt sich aber sein ganzes Leben nach dem geregelten, hierarchischen Leben auf der Plantage seines ehemaligen Herren William Robbins. Als er genug gespart hat, kauft er auf Vermittlung von Robbins Land und seinen ersten Sklaven, Moses. Leben die beiden anfänglich freundschaftlich zusammen (balgen sich, teilen sich ein Zimmer im Rohbau des Herrenhauses etc.), wandelt sich Henrys Verhalten nach einer Strafpredigt seines Mentors zu dem eines weißen Sklavenhalters. Später führt dies dazu, dass er einen seiner Sklaven für einen Fluchtversuch damit bestraft, ihm ein Drittel des Ohres abzuschneiden.


    Ausgangssituation der Handlung ist der Tag, an dem Henry Townsend stirbt. Ein Tag, der in der Folge zu schicksalshaften Ereignissen führt, aber auch dazu angetan ist, die Konstellationen rund um die Farm aufzuzeigen. So lernt der Leser viele wichtige Personen kennen:
    den bereits erwähnten ergeizigen Aufseher Moses (inklusive seiner Frau Priscilla und seinem Sohn Jamie), die verwirrte Sklavin Alice, den rebellischen Elias und seine Familie, Henrys Witwe Caldonia (sowie ihre Mutter Maude, ihren Zwillingsbruder Calvin), die Erzieherin Fern, den Sheriff John Skiffington und viele andere...


    Meine Meinung:


    Wie aus der Aufzählung der oben beispielhaft Genannten ersichtlich wird, wird der Leser mit sehr vielen Einzelschicksalen vertraut gemacht. Neben den häufigen Perspektivwechseln gibt es zudem auch viele Vor- und Rückschauen, die mitunter bis ins Jahr 1994 reichen. Im Wesentlichen beschränken sich diese zeitlichen Vorschauen auf die Schicksale nach dem amerikanischen Bürgerkrieg.


    Ich mag solche Zeit- und Perspektivwechsel, aber natürlich wird dadurch das Lesen anspruchsvoller. Deshalb solltet ihr euch viel Zeit nehmen, um den Roman zu lesen. Wer sich darauf einlässt, wird ein besonderes Highlight erleben!


    Ich fand sowohl die Handlung als auch die Art, in der sie beschrieben wurde, sehr beeindruckend! Hier geht es um eine Minderheit, von der kaum jemand etwas ahnte. Der Fokus liegt auf den "priviligierten" Schwarzen, die über ihre Freiheit, Bildung und einigen Reichtum verfügt und dennoch in der Gesellschaft unterhalb der "Hillbilles" angesiedelt ist. Eine wichtige Rolle spielt der Glaube, sei es der christliche Glaube der Weißen oder der eher mythische Glaube der Schwarzen. Einige mystische Einschübe verleihen manchen Schlüsselszene einen speziellen Charakter.


    Die Wünsche, Hoffnungen und Ideale der einzelnen Charaktere werden sehr deutlich. Mitunter glaubt man fast, jeder von ihnen hätte tatsächlich gelebt. Unterstrichen wird dieser Eindruck auch durch zahlreiche Fakten, Statistiken, historische Zeugnisse und Dollarangaben zum Wert einzelner Personen. Da es sich um ein fiktives Gebiet handelt, sind natürlich auch diese Angaben fiktionalisiert, aber ihr Einsatz at mir trotzdem sehr gut gefallen!


    "Die bekannte Welt" gehört eindeutig zu meinen Jahreshöhepunkten! :thumleft:


    :arrow: Ergänzend: Austausch zum Buch im "Ich lese gerade..."-Archiv

    She wanted to talk, but there seemed to be an embargo on every subject.
    - Jane Austen "Pride and prejudice" - +

  • Klappentext/Verlagstext
    Henry Townsend, ein ehemaliger Schuhmacher und Sklave, ist selbst Sklavenhalter und Besitzer einer Farm geworden. Als er stirbt, zerbricht das fragile Gefüge. Seine Witwe Caldonia erstarrt in Trauer; Sklaven entfliehen; Familien, die unter dem Gewicht der Unfreiheit zusammenhielten, beginnen einander zu betrügen; weiße Patrouillen sehen zu, wie freie Schwarze in die Sklaverei verkauft werden.

    Edward P. Jones’ Meisterwerk handelt davon, wie die Institution der Sklaverei ihre eigene Welt errichtet, wie sie die Gedanken, Körper und Seele eines jeden Menschen – frei oder unfrei – durchdringt. Die bekannte Welt ist einer der bedeutendsten amerikanischen Romane der vergangenen Jahrzehnte – eine bleibende, leuchtende Charakterstudie, die eine ganz und gar spezifische, glaubwürdige und komplexe Welt in vollendet schöner Prosa erschafft.


    Der Autor
    Edward P. Jones, 1951 geboren, arbeitete über zehn Jahre lang als Lektor und Korrektor bei dem Wirtschaftsmagazin "Tax Notes". Für sein Romandebüt "Die bekannte Welt" erhielt er 2004 den Pulitzerpreis für Literatur. 2015 wurde dieser Roman von der BBC-Auswahl der besten 20 Romane von 2000 bis 2014 zu einem der bislang bedeutendsten Werke dieses Jahrhunderts gewählt. Jones lebt in Washington, D.C.


    Inhalt
    In den 50ern des 19.Jahrhunderts konnte im Manchester County von Virginia der Schwarze Henry Townsend als Schumacher Ansehen und Wohlstand erwerben. Eine Generation zuvor hatte sein Vater Augustus eisern gespart, um sich, Frau und Sohn aus dem Sklavenverhältnis beim extrem wohlhabenden Master Robbins freizukaufen. Am Beispiel seines Sohnes musste Henry lernen, dass Freiheit auf dem Papier noch lange keine persönliche Freiheit und keine Gleichberechtigung bedeutete. Zu dieser Zeit konnte ein freigekaufter Ehemann zugleich beurkundeter Besitzer seiner Frau und seiner Kinder sein. Weil der Stallbursche Henry ein kluger Junge ist und für seinen Master eine nahezu magische Bedeutung hat, steigt sein Verkaufspreis und durch die lange Trennung entfremdet er sich seinen Eltern. Der erste Sklave, den der erwachsene Henry kaufen sollte, war Moses, der Henrys Verwalter sein und die Arbeit der Feldsklaven einteilen wird. Moses, schockiert, dass sein Herr ebenfalls Schwarz ist, fragte sich, ob „Gott da oben sich überhaupt um seine Angelegenheiten kümmert“ …


    Am Beispiel der Townsend-Plantage erzählt Edward P. Jones in seinem Romandebüt von einer Plantagenbesitzerfamilie zur Zeit der Sklaverei (Offiziell abgeschafft wurde die Sklaverei in den USA 1865 nach einem blutigen Bürgerkrieg.) Mit den Robbins und Townsends verbunden sind u. a. die Schicksale der Lehrerin Fern Elston, die bei sich zuhause Kinder wohlhabender Schwarzer unterrichtet, Sheriff John Skiffington, Barnum Kinsey, der auf eigene Rechnung entlaufene und freie Schwarze fängt und verhökert, verarmte Weiße, die sich als Sklavenjäger verdingen, sowie Anderson Frazier, ein Autor, der in der Region zum Thema (freie) Schwarze Sklavenbesitzer recherchiert und der theoretisch Fakten und historischen Hintergrund gesammelt haben könnte, die auch Jones benutzt. Jones‘ Zahlenangaben wirken akkurat wie aus der Volkszählung und den Geschäftsbüchern der Plantagen entnommen. Diese authentische Wirkung hat mich sofort in Jones‘ Klassiker hineingezogen.


    Mit vielen untereinander verbundenen Figuren, zahlreichen Rückblenden und verschiedenen Zeitebenen ist „Die bekannte Welt“ eine komplexe Lektüre, die meine Sicht auf das Thema Sklaverei entscheidend verändert hat. Zeigt das Buch doch berührend wie eindringlich, dass es zu Henry Townsends Zeit nicht genügte, für oder gegen die Sklaverei zu sein. Eine Plantage bedeutete für die Besitzer und ihre Erben Verantwortung für viele Menschen, deren Lebensunterhalt der Betrieb zunächst einmal erwirtschaften musste. So wirkten neben den Einzelschicksalen für mich die Gespräche am eindringlichsten, in denen es um die mit dem Erbe verbundene Verantwortung ging. Dass man als „Master“ seine Sklaven nicht ohne Not verkaufte und sie damit aus ihrer Familie und vertrauten Umgebung riss, war für Jones‘ Figuren selbstverständlich. In diversen Szenarien wird im Roman Hautfarbe diskutiert, es geht u. a. um den Aufstieg durch Heirat mit hellhäutigen Partnern, um Personen, die spontan für Weiße gehalten werden oder um die Willkür, mit der bei einer Volkszählung einer Person eine falsche Hautfarbe zugewiesen wird, die sie vermutlich nie wieder aus ihren Papieren tilgen kann. Beeindruckend fand ich die Erziehung zum praktischen Leben, die Fern ihren Schülern bietet und die sie als abhängiger „Besitz“ auf einer Plantage nicht erhalten würden und die Chronistentätigkeit in der Figur des Moses, ohne die wir heute kaum etwas über Sklaverei wüssten.


    Fazit

    Ein weit ausholender, wirklich Horizont erweiternder Roman aus dem Virginia des 19. Jahrhunderts.



    °°°°°
    Die Ausgabe
    Die leicht angepasste Neuausgabe der deutschen Ausgabe (Hoffmann und Campe 2004, 978-3455036961). Authentisch für die Epoche wird das N-Wort in Dialogen der literarischen Figuren benutzt.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Edward P. Jones - Die bekannte Welt“ zu „Edward P. Jones - Die bekannte Welt / The Known World“ geändert.