Geiger, Arno - Es geht uns gut

  • Es geht uns gut – Arno Geiger


    Kurzbeschreibung von Amazon:
    Philipp Erlach hat das Haus seiner Großmutter in der Wiener Vorstadt geerbt, und die Familiengeschichte, von der er definitiv nichts wissen will, sitzt ihm nun im Nacken. Arno Geiger erzählt sie, als sei sie gegenwärtig: Von Alma und Richard, die 1938 gerade Ingrid bekommen und nichts mit den Nazis zu tun haben wollen. Vom fünfzehnjährigen Peter, der 1945 mit den letzten Hitlerjungen durch die zerbombten Straßen läuft. Von Ingrid, die mit dem Studenten Peter eine eigene Familie gründen will, und von Philipp, dem Sohn der beiden. Arno Geiger gelingt es, ein trauriges und komisches Jahrhundert lebendig zu machen.




    Aus der Kurzbeschreibung entnimmt man: „Arno Geiger erzählt sie, …“, aber eben nicht Philipp, und das ist eine sehr gelungene Erzählform. Nach und nach kann sich der Leser ein Bild von der Familiengeschichte machen, lediglich der Protagonist tappt im Dunkeln.
    Auch hat es mir sehr gefallen wie Geiger diese Geschichten erzählt: Er lässt die einzelnen Figuren wie in einem Tagebuch einen Tag Revue passieren. Dabei werden oft banale Alltagsgeschehnisse beschrieben, aber gerade das bringt Nähe und erweckt die Menschen. Es gab Tage (1945), die haben mich sehr bewegt, andere waren humorvoll, und immer waren sie voller Gefühl und Lebendigkeit.


    Mir hat dieses Werk außerordentlich gut gefallen, und ich kann es gerne weiterempfehlen :thumleft:

  • Jetzt habe ich gesucht und gesucht - tatsächlich, es gab (bis jetzt) gar keinen Rezensions-Thread zu diesem Buch! :shock:


    Allerdings gibt es im Ich lese gerade ...-Unterforum ausführliche Wortmeldungen zum Buch, und natürlich im Thread zur Leserunde im April 06


    Ich fand das Buch ganz großartig!
    Es werden so viele Themen angesprochen, die Geschichte ist so schön verwebt, man erfährt erst nach und nach und mit großen Zeitsprüngen von der Familie. Die traurigen Momente überwiegen, was dem Buch doch eine melancholische Stimmung verleiht, dennoch bleibt Hoffnung und Zuversicht.


    Vieles bleibt offen und doch ist am Ende alles gesagt. Geiger verzichtet auf genaue Details, Mutmaßungen und Spekulationen bleiben großteils dem Leser überlassen.


    Das Hauptthema - wie gehen wir mit der Vergangenheit und mit Erinnerungen um, sind sei Teil unseres Lebens oder können wir sie verwerfen, uns ihrer entledigen - wird von vielen Seiten beleuchtet. Es geht um vertane Chancen, vergeudete Zeit, um Fehler, die nicht mehr gutzumachen sind und Gelegenheiten, die verpasst wurden.


    Doch auch der Humor kommt nicht zu kurz und für mich gab es viele Erinnerungen an meine Kindheit (Geiger ist fast mein Jahrgang), die schon in Vergessenheit geraten sind.


    Für mich ganz große Literatur mit österreichischer Färbung! Empfehlenswert!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

    Einmal editiert, zuletzt von Rosalita ()

  • Und wieder einmal konnte man sich auf den Lese-Tip von Rosalita verlassen! "Es geht uns gut" ist mehr als nur ein gutes Buch, das zu recht einen Preis erhalten hat und auf das wir Österreicher ähnlich stolz sein dürfen, wie heute noch auf dieses Fußballspiel in Cordoba ;)* Man könnte wohl sehr viel über dieses Werk schreiben, werde es hier und jetzt aber unterlassen, da dies anlässlich der schon oben erwähnten Leserunde* schon ausführlich geschen ist!

  • Mein Fall war dieses Buch nicht. Ich habe es zwar fertig gelesen, aber sonderlich begeistert war ich wirklich nicht. Bis zum Schluss hatte ich Schwierigkeiten mit dem Schreibstil, sodass es mir immer wieder passierte, dass ich Passagen zwei Mal lesen musste, weil mir ihr Sinn beim ersten Mal nicht aufgegangen ist. Ich glaube nicht, dass ich dieses Buch jemals wieder lesen werde, denn zum einen hat mir die Lektüre keinen Spaß gemacht und zum anderen hat mich der Inhalt des Buches auch nicht sonderlich angesprochen. Daher bekommt das Buch von mir auch nur einen einzigen Stern. :bewertung1von5:

    With freedom, books, flowers, and the moon, who could not be happy? ― Oscar Wilde

  • Philipp Erlach (36) lebt als Schriftsteller in Wien. Was er schreibt bzw. geschrieben hat, wird nicht einmal angedeutet, man bekommt den Eindruck, dass er nicht wirklich erfolgreich ist oder aber in einer Schaffenskrise. So wie er sich in den Monaten Mai und Juni des Jahres 2001 durch sein Leben wurstelt, wäre das auch gar nicht verwunderlich.


    Philipp Erlach hat in Hietzing, einer Wiener Nobelgegend, die alte Villa seiner Großeltern geerbt. Wohl hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen nimmt er dieses Erbe an, aber er wehrt sich auch dagegen. Denn alles, was diese Villa an Familiengeschichte atmet, allem, was sich auf dem tatsächlichen und dem virtuellen Dachboden versteckt, begegnet er feindlich.


    Sein Privatleben ist genauso ungeordnet und unklar, wie ihm seine eigene Vergangenheit und erst recht seine persönliche Zukunft erscheint.
    „Insgeheim möchte doch jeder wissen, wie die Zukunft sein wird, und sei es nur, damit es in der Gegenwart leichter fällt sich einzubilden, dass man weiß, was man tut.“
    So formuliert er in seinen persönlichen Notizen, als er beginnt, das Haus zu entrümpeln. Seine verheiratete Freundin Johanna, zu der er nicht wirklich eine tiefe Bindung aufbauen kann, schickt ihm zwei Schwarzarbeiter, Steinwald und Atamatov, ein Ukrainer. Sie tut das, weil sie ihren Philipp kennt: alleine wäre er nicht imstande, irgendetwas an den Haus zu machen.


    Vor allen Dingen nicht, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren, die in dem Haus lebt und „aufbewahrt“ ist. Und so müssen die beiden Schwarzarbeiter, mit denen er im Laufe der Zeit, die sie für ihn arbeiten, ziemlich hilflos eine Freundschaft anknüpfen will, den Dachboden entrümpeln, in denen sich eine Menge Tauben ein neues Zuhause eingerichtet haben.


    Kistenwiese verschwinden Sachen, Bücher und Einrichtungsgegenstände, die auf dem Boden zum Teil über Jahrzehnte gelagert waren, in den bestellten Containern. Steinwald und Atamatov entwickeln noch das realistischste Verhältnis zu den Hinterlassenschaften: sie schaffen alles, was noch irgendeinen Wert haben könnte, in Steinwalds gebrauchten Mercedes und verhökern es auf Flohmärkten.


    Philipp Erlach will und kann sich nicht mit der Vergangenheit seiner beiden Herkunftsfamilien auseinandersetzen, vielleicht weil er so gar keine Vorstellung hat von seiner Zukunft und seine Gegenwart so trostlos.


    Wie reich an menschlichem Schicksal und politischer Bedeutung seine Familiengeschichten sind, erzählt Arno Geiger in literarischen Blitzlichtern, in denen er in einem Zeitrahmen zwischen 1938 und 1989 immer wieder an einen Tag in der Vergangenheit zurückkehrt und schildert, was passiert.


    Hier, in diesen Kapiteln, hat man das Gefühl, dass die beschriebenen Menschen leben, ihr Leben gestalten, und dort , wo sie keine Macht darüber haben, sich wenigstens mit ihrem Schicksal auseinandersetzen, anders als Philipp Erlach im Jahre 2001. Dem Leser entschlüsselt sich nicht die Antwort auf die Frage, welche Details aus der beschriebenen Familiengeschichte ihm tatsächlich bekannt sind. Diese beziehungslose Aneinanderreihung der aktuellen Kapitel und denen aus der Geschichte verstärkt noch den Eindruck, dass Erlach ein Mensch ohne wirkliche Wurzeln ist, und dass darin auch sein eigentliches menschliches und wohl auch schriftstellerisches Dilemma begraben liegt.


    Für einen Leser aus Deutschland, der sich mit der österreichischen Geschichte nicht so auskennt wie mit der des eigenen Landes, ist das Buch auch als Informationsquelle über das Land und seine Menschen aufschlussreich.


    Arno Geiger liebt seine Personen, die er schildert, er liebt und leidet mit ihnen. Sein Buch ist eine Einladung an seine Leser, die eigene Lebensgeschichte ernster zu nehmen.

  • Bei diesem Roman hatte ich ein paar Startschwierigkeiten. Aber als ich mich an den Erzählstil Arno Geigers gewöhnt hatte, war es, als würde ich die Familie schon lange kennen. Die Rahmenhandlung bildet die vom 16. April bis 20. Juni 2001 spielende Geschichte um Philipp Erlach, der ein Verhältnis mit der verheirateten Johanna hat. Er hat kein Ziel, ihm fehlt der Halt, er tändelt durchs Leben. Doch das von seiner Großmutter geerbte Haus muss entrümpelt werden und so muss Philipp sich nun, obwohl die Familienbande bei ihm nicht sonderlich ausgeprägt sind, der Vergangenheit seiner Familie stellen. In diesen Handlungsstrang um Philipp wurde die Geschichte der Familie gewoben. Beginnend mit dem Jahr 1938 wird in jedem Jahrzehnt an einem für Österreich und/oder für die Familie bedeutenden Tag Rückschau gehalten. So kann der Leser verfolgen, wie aus dem ehemaligen Minister ein an Demenz erkrankter alter Mann wird und wie sich eine brave Tochter zu einer aufmüpfigen jungen Frau entwickelt. Dabei werden immer wieder Informationen zum gesellschaftlichen und politischen Geschehen eingestreut, die die Ereignisse im Familienleben unterstreichen sollen. Alle Familienmitglieder, zu den meisten fiel es mir schwer Sympathien zu entwickeln, wirken lebensecht und sehr natürlich und entsprechen dem jeweiligen Zeitgeist. Daraus wird sehr gut sichtbar, wie sich das Leben in der Familie im Laufe der von Autor betrachteten 70 Jahre gewandelt hat, wie wesentlich weniger streng auf die Einhaltung und das Erhalten von Werten geachtet wurde.


    Dabei erzählt Arno Geiger seinen Roman in dem für ihn so typischen Stil mit Einklammerungen und Einfügungen so gleichmäßig ruhig und unaufgeregt, nicht ohne Witz, detailgetreu und mit viel Empathie, so als würde man mit ihm bei einer Tasse Kaffee sitzen und er lediglich auf die Frage ‚Wie geht es euch?‘ antworten.


    „Es geht uns gut“ habe ich mit viel Freude gelesen. Die Familiengeschichte wirkt leicht erzählt, folgt aber konsequent einer Struktur und einem roten Faden. Einzig die speziellen österreichischen Begriffe und Wendungen ließen mich gelegentlich innehalten, störten im Textverständnis aber nicht.


    Mit diesem Roman ist Arno Geiger ein beachtenswerter Familienroman gelungen, der ohne Pathos und Sentimentalitäten auskommt und sowohl unterhaltsam als auch anspruchsvoll ist. Mir bescherte er sehr angenehme Lesestunden.