Günter Grass - Unkenrufe

  • Rückentext
    Eine Polin und ein Deutscher, sie Restauratorin, er Kunsthistoriker, begegnen sich am Allerseelentag 1989 in Danzig. Es ist die Zeit der großen Umwälzungen in Osteuropa. Alles scheint plötzlich denkbar, nichts mehr unmöglich....


    Inlet
    Dem Erzähler (*) wird von einem ehemaligen Klassenkameraden ein Paket mit Archivalien - abgesandt am 19. Juni 1999 - zugeschickt, mit deren Hilfe er die Geschichte einer "schönen Idee und deren entsetzlicher Fleischwerdung schreibt." Am Allerseelentag 1989 treffen sich in Gdansk ein Witwer und eine Witwe, ein deutscher Kunsthistoriker und eine polnische Restauratorin. Beide sind Vertriebene; und beider Eltern haben sich gewünscht, einst in ihrer Heimaterde zu ruhen. So kommt es zur Idee einer "Deutsch-Polnischen Friedhofsgesellschaft" - die Vertriebenen sollen als Tote auf "Versöhnungsfriedhöfe" zurückkehren dürfen. Untermalt von den Unkenrufen des Erzählers entwickelt sich daraus in den nächsten Jahren ein florierendes Wirtschaftsunternehmen und eine neue deutsche Landnahme in Polen bis hin zu Altersheimen für die "Beerdigungswilligen" und "Bungagolf-Anlagen" für ihre Enkel. Mit heiterer Gelassenheit und unaufdringlicher Satire wird im Gesamtkunstwerk dieser spätmeisterlichen Herbst-Erzählung (Iris Radisch) vom Sterben, von der Würde und von der Ruhe des Todes gesprochen, und ein Auferstehungsengel erinnert an die alte Botschaft: "Wirst sehen, wird sein wie neugeboren."


    Meine Meinung
    Anfänglich liest es sich etwas schwer, weil Günter Grass sich innerlich weigert, der Bitte seines Klassenkameraden nachzukommen. Zu lange ist das doch alles her und so gut war man ja schließlich nicht befreundet und überhaupt, wieso kommt "Aleksander" auf ihn? Wo die Beiden doch eigentlich nichts verband...
    Er entschließt sich aber dennoch die ganzen Briefe, Gesprächsnotizen, Tonbandaufnahmen, Bilder, Aufzeichnungen, Protokolle, Rechnungen, etc. aufzugliedern und sich zu opfern. Am anfänglichen Schreibstil, merkt man den Unmut der von ihm ausgeht und die Person Aleksander wird nicht mit großer Freude und tiefer Freundschaft dargestellt, sondern eher beschrieben für den Leser, damit dieser weiß, um wen es geht. Aleksandra wird da schon mit etwas mehr Aufmerksamkeit bedacht, wenngleich sie im Zuge des Buches immer etwas zu kurz kommt, was wohl daran liegt, dass sämtliche Unterlagen von Aleksander geschrieben und hinterlegt wurden und er ferderführend war.
    Es beginnt die Annäherung der beiden, das Kennenlernen, der Wunsch, die Idee, das Manifest und schließlich die Umsetzung. Aleksander ist Professor und alles recherchiert er, wägt er ab, lotet eraus, schreibt ernieder, analysiert er kühl, kalkuliert er und macht er mit großem Eifer, einer gewissen Euforie und Profess(or)nalität! Melancholisch ist er zuweilen auch. Aleksandra kommt kindlich und kleinbürgerlich rüber, ist aber entschlossen, mutig, tatkräftig, selbstsicher und sagt, was sie denkt. Sie ergänzen sich perfekt. Liebe entwickelt sich.
    Mit zunehmenden Seiten spürt man den Konflikt Grass' mit Aleksander und der immer noch anhaltenden Frage, warum hat er ihn auserkoren, was verband sie. Grass wird aber schlauer durch die Unterlagen und es kommen längst begrabene Erinnerungen hoch an viele gemeinsame Zeiten mit Aleksander. Sie waren doch eine Zeit lang Freunde. Der Erzählstil wird "treu"...er beginnt ihn zu verstehen und zu mögen und weiß nun auch wie es zu den "Unkenrufen" kam.
    Alles nimmt seinen Lauf und läuft gut an, jedoch sind die beiden leider nur guter Ideen, nicht aber voller Geschäftssinn, was ihren eigenen Standpunkt und die Sicherung ihrer Ideen angeht und so wird aus der Idee ein Projekt und aus dem Projekt eine Geldquelle und der entspringt Gier, Macht, Kalkül, Besessenheit, nur leider nicht der Fall, der auf soviel Hochmut folgen müsste...
    Die Konsequenzen ziehen Aleksander und Aleksandra daraus und Grass' ist zum Ende hin betroffen, bedauert und man hat das Gefühl er hat einen Freund verloren, als das Buch zu Ende war.


    Die gesamte Entwicklung finde ich einfach absolut lesenswert und empfehlenswert, nicht nur für Grass'-Kenner und -Liebhaber, sondern auch für Liebhaber von zwischenmenschlichen Beziehungen, deutsch-polnischer Geschichte, Liebes- und Geschäftsbeziehung, etc. Dieses Buch vereint so viel.


    (*) Und hier nun endlich die Begründung, bzw. Aufklärung für das Sternchen ganz oben. Es wird vom Erzähler gesprochen, von einer herbstlichen Erzählung - ich wiederspreche da ganz kühn, denn es sind Wiedergaben von Aleksanders Unterlagen und seinen persönlichen Worten und Gesprächen und Notizen. Grass' hat sie überwiegend übernommen und hier und da, wo Lücken in Zeiträumen entstanden sind, versucht getreu zu ersetzen, im Sinne Aleksanders und der bisherigen Geschichte, ohne dabeizudichten oder zu erfinden! Also keine reine Erzählung.


    Ich freue mich, Grass' erneut für mich entdeckt zu haben! :thumleft:

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


    2 Mal editiert, zuletzt von Tanni ()

  • Es bereitet Vergnügen, dieses Buch zu lesen, in dem Grass in einem ironischen Rundumschlag zu Politik, Geschichte und Wirtschaft Stellung nimmt. Das Buch spielt zur Zeit der Wende und unmittelbar danach, die Grenzen sind geöffnet, aber einiges scheint gleich zu bleiben: Deutsche und Polen können sich im Einzelfall ineinander verlieben, aber sie mögen sich im Grunde nicht. Die deutsche Wirtschaft zückt den dicken Geldbeutel, und in Polen greift man zwar erfreut, aber misstrauisch danach.


    Grass' Sprache, mit wenigen Sätzen und manchmal nur einem einzigen treffenden Wort eine Sache auf den Punkt zu bringen, ist großartig.


    In einem Punkt muss ich Tanni widersprechen: Grass erzählt die Geschichte mit der Stimme eines fiktiven Ich-Erzählers, von dem man nur erfährt, dass er ein Klassenkamerad Alexanders war. Weil er aber Alexanders sämtliche Unterlagen zur Hand hat, übernimmt er auch die Erzählperspektive eines allwissenden Erzählers, kann also kurze Abstecher in eine zukünftige Handlung machen und Kommentare zum Geschehen abgeben. Ein gelungenes Stilmittel, durch das die ironische Distanz erst richtig zum Tragen kommt.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Mir geht es genauso wie tom fleo. Obwohl ich Literatur studiert habe, kenne ich von Grass nur "Die Blechtrommel". Ich habe mich mit dem Buch schwer getan, vielleicht auch deswegen, weil keine der Figuren mir so recht symphatisch war. Ausserdem fand ich, dass der Roman auf den letzten hundert Seiten stark nachliess, als ob Grass die Luft ausgegangen waere.


    Aber nun werde ich es zunaechst mit seiner Biographie versuchen (die habe ich gerade da) und dann mit "Unkenrufe". Danke und Gruss!


    Monika

    :study: Olga Tokarczuk - Gesang der Fledermäuse

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • @ mofre, mir ging es genauso. Ich habe "Die Blechtrommel" vor ca. 20 Jahren gelesen. Sie gefiel mir, trotzdem habe ich seitdem nur Erzählung und Lyrik von Grass gelesen. Seine Lyrik ist nicht so bekannt, aber ich mag sie sehr.


    Über "Unkenrufe" bin ich in der Bücherei gestolpert, kurz nachdem ich Tannis Rezension gelesen hatte, und nahm es mit. Besonders gereizt hat es mich, einen politischen Roman zu lesen, an dessen Zeitgeschichte ich mich gut erinnere, auch wenn uns hier im äußersten Westen des Westens die deutsch-französische Geschichte und Beziehung näher ist als die deutsch-polnische.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Zitat

    Original von Marie
    Besonders gereizt hat es mich, einen politischen Roman zu lesen, an dessen Zeitgeschichte ich mich gut erinnere, ...


    Hallo!


    So war es bei mir auch. Nicht, dass ich mich daran erinnern würde, mit meinen heutigen 35, aber mich interessierte das politische Thema in diesem Fall sehr!

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • ich hatte mir das Buch vor einiger Zeit aus einem öffentlichen Bücherregal gefischt.

    Hatte mich gerfeut ... Günter Grass ... kennt man natürlich ... trotzdem noch nie ein Buch von ihm gelesen.

    Nun ja...ich kam mit seiner Schweibweise von der ersten Seit nicht klar.

    Ich kam überhaupt nicht rein, in die geschichte. Das passiert mir äusserst selten.

    Hat mir nicht zugesagt und nach kurzerZeit habe ich das Buch enttäuscht wieder in's Bücherregal gestellt.

    Bestimmt freute sich dann jemand anderst darüber, es lesen zu können