Peter Stamm: Agnes

  • In Peter Stamms Agnes geht es um einen Ich-Erzähler, der sich in der Bibliothek von Chicago in die Doktorandin Agnes verliebt. Das Besondere an dieser Liebe (und an diesem Buch) ist wohl die Idee, parallel dazu einen Roman im Roman über diese Liebe zu schreiben. (Obwohl es im Grunde kein Roman ist, sondern eine kurze Erzählung.)

    Ich bin schlußendlich ziemlich enttäuscht, über diesen Roman. Stamm schreibt in einfacher Sprache, was sehr angenehm zu lesen ist. Seine Dialoge verdienen ein dickes Lob. Subtil und knackig. Aber seine Figuren bleiben mir erschreckend distanziert, die gesamte Geschichte eigentlich. Große Gefühle werden quasi mit Nebensätzen behandelt. Da schwängert er sie z.b, und freut sich nicht auf das Kind, worauf sie auszieht. Ein ganz großer Konflikt - dem sich die Figuren nicht stellen. Und solche Konflikte gibt es mehr, die unter anderen verdeutlichen, dass es zwei ganz schwache Protagonisten sind. Immer den leichtesten Weg gehen.
    Dabei wünsche ich mir Romane, die von starken Figuren erzählen - und die vielschichtiger sind.
    Einen zusätzlichen Minuspunkt gibts für die fehlende Atmosphäre. Räumlichkeiten wie auch Figuren bleiben Konsequent blass. Und so paradox es klingen mag, gibts für diese Konsequenz einen Pluspunkt, weil es einen eigenen Reiz verströmt.
    Dieses Buch wirkt dadurch auf mich wie eine Skizze. Alles wird nur angerissen, daher wahrscheinlich auch nur 170 Seiten.

    Fazit: Ein ungewöhnlich geschriebenes Buch, das von einer ungewöhnlichen Idee zehrt, leider aber ohne Farbe und Tiefe ist, mit gleichgültigen Figuren und mich daher nicht sonderlich berührt.
    Es hinterläßt keinerlei Eindrücke - ist aber dafür flüssig zu lesen.

  • Ich selber habe den Roman in zwei Tagen mit viel Interesse und Spannung gelesen. Dabei steht die Spannung nicht beim Ausgang der Geschichte: schon in den ersten drei Sätzen wird kurz zusammengefasst, dass der Ich-Erzähler jene Agnes vor neun Monaten in der Bibliothek kennen gelernt hatte und sie nun tot ist. Na gut, stellt sich die Frage, wie es dazu kam? Das aber umschreibt Stamm meisterlich. In diesem von Quidam vorgestellten "Roman im Roman" geht es nicht nur um die Beschreibung der Vergangenheit, sondern - einmal in der Jetztzeit angelangt - um einen Ausblick auf die Zukunft. Und da wird es subtil und gefährlich! Ich selber stellte mir bei diesem Planen der Zukunft allerdings vor, dass ab einem gewissen Zeitpunkt die Wirklichkeit nicht mehr die Fiktion korrigiert, sondern die Fiktion Ausgangsunkt wird für also geschaffene Wirklichkeit.
    Davon ausgehend finde ich dann nämlich die Lektüre, trotz einer "einfachen Sprache", nicht gar so einfach. Man könnte sich fragen, inwieweit das Schreiben der Zukunft hier wirklich positiv zu bewerten ist...
    Was mir als ein Grundthema des Buches vorkommt ist sicherlich der Tod in den verschiedensten Formen! Insbesondere Agnes wird von diesem Gedanken "verfolgt", während der Ich-Erzähler dem eher aus dem Wege geht. Die eine zerbricht am Tod, der andere nimmt ihn kaum wahr.
    Zurecht kann man sich erschrecken, wie von Quidam angedeutet, über die Reaktionen des Ich-Erzählers, seinen Egoismus. Von sich selber und anderen kann man zurecht was anderes erwarten. Doch SIND wir heute nicht oft so? (Wahrscheinlich sollte man bei der Beurteilung des Ich-Erzählers aufpassen, die Fiktion nicht mit der Meinung des Autors gleichzusetzen???)
    Auf diesen Ebenen finde ich den Roman sehr zeitgenössisch und aktuell. Ist das nicht auch eine Bestandsaufnahme der heutigen Befindlichkeiten?


    Ich denke, dass Peter Stamm hier mit seinem ersten Roman ein großer Wurf gelungen ist! Von mir gibt's auf einer gleitenden Skala ****/* und eine dicke Empfehlung!



    [

  • Diese Erzählung versöhnt mich nach der etwas enttäuschenden Lektüre des Buches „An einem Tag wie diesem“, mit Peter Stamm.


    Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet.
    Nichts ist mir von ihr geblieben als diese Geschichte.


    Diese kurzen Sätze zu Beginn der Erzählung welche ja schon den Schluss vorwegnehmen zwingen den Leser sich ganz intensiv mit dem weshalb zu beschäftigen.
    Agnes die sensible leicht verletzbare Studentin und der Ich-Erzähler, welcher über Luxus-Eisenbahnen recherchiert.
    Das die beiden in ihrem Wesen doch sehr verschieden sind begreift man sehr schnell. Agnes die über den Tod und das sterben reflektiert und der Erzähler welcher lakonisch sagt:

    Zitat

    „…es gibt Themen, die mich mehr interessieren.“


    Wie Agnes ihn nun bittet, über sie eine Geschichte zu schreiben, sieht das nach etwas leichtem Spielerischen aus, entwickelt sich und irgendwann hat die Geschichte die Gegenwart überholt.
    Allmählich erkennt der Schreibende, dass seine Liebe zu Agnes nicht so intensiv und tief ist, wie er anfänglich glaubte.
    Treffend beschreibt der Satz die Empfindungen des Ich-Erzählers

    Zitat

    “Es ist schwer zu erklären, obwohl ich sie liebte, mit ihr glücklich gewesen war, hatte ich nur ohne sie das Gefühl, frei zu sein. Und Freiheit war mir immer wichtiger gewesen als Glück.“


    Der sachliche, pragmatische Schreibstil, in der die Handlung beschrieben wird, täuscht nicht über die Tragödie dieser zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichte hinweg. Indem man die reale und fiktive Geschichte liest, entstehen im Kopf die unterschiedlichsten Bilder und in diesen liegt die Faszination des Buches. Es ist ein gekonntes Zusammenspiel zwischen Wunschdenken und Realität.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Dieses Büchlein hat es in sich! Es wurde in diesem Thread schon viel gesagt, mir fällt gar nicht mehr viel Neues ein. Die Idee des "Entwerfens" eines Lebenslaufes, die Vermischung von Fiktionalem und Realem sowie die Tatsache, dass man vom Leben ohnedies überholt wird, wird von Peter Stamm grandios umgesetzt! In den ersten Sätzen wird das Ende vorweggenommen: Agnes ist tot, die Beziehung dauerte nur 9 Monate. Somit ist das Stöcklein geworfen, und der Leser macht sich neugierig daran zu erfahren, wie denn die Beziehung verlief, wie es soweit kommen konnte.
    Peter Stamm ist ein Meister der "vermeintlich einfachen Sprache". Seine Charaktere (in diesem Fall besonders Agnes) würde ich fast schon als "sagenumwoben" bezeichnen, vieles wird angedeutet, vieles bleibt im Dunklen, oder wird von der Ferne gezeichnet. Auffallend ist immer wieder die Konfrontation mit dem Tod (der, so schien mir, irgendwie an Agnes' Person hing), und der Umgang mit demselben.



    Was mir als ein Grundthema des Buches vorkommt ist sicherlich der Tod in den verschiedensten Formen! Insbesondere Agnes wird von diesem Gedanken "verfolgt",


    Das ist mir auch aufgefallen. Der Tod scheint irgendwie an Agnes' Person zu "hängen", fast möchte ich sagen: wo sie auftaucht, stirbt jemand.



    Der sachliche, pragmatische Schreibstil, in der die Handlung beschrieben wird, täuscht nicht über die Tragödie dieser zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichte hinweg. Indem man die reale und fiktive Geschichte liest, entstehen im Kopf die unterschiedlichsten Bilder und in diesen liegt die Faszination des Buches. Es ist ein gekonntes Zusammenspiel zwischen Wunschdenken und Realität.


    Das habe ich genauso empfunden! Der vermeintlich "einfache" Stil darf hier nicht unterschätzt werden, der hat es in sich!


    Starkes Buch, starke Empfehlung von mir!!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

  • Im Herbst 2012 wird das Stück im Staatstheater Karlsruhe aufgeführt. Premiere ist am 24. November 2012.
    Wir haben "Agnes" im Literaturkreis gelesen, und jetzt gehen wir alle gemeinsam hin.
    Wer mitkommen möchte, ist herzlich eingeladen!
    [-X
    viele Grüße
    Frühlingsfee

    Nicht jeder, der das Wort ergreift, findet ergreifende Worte :-,


    (frei nach Topsy Küppers)


  • Zwei Personen, die sich eigentlich nur in den intellektuellen Gefilden ihrer jeweiligen Fachgebiete zuhause fühlen, beide ohne nennenswerte Sozialkontakte und Interesse für andere Menschen. Diese beiden verlieben sich. Und auch die Liebe ist eher ein Gedankenspiel als ein auf Gemeinsamkeit gerichtetes Gefühl.


    Kein Wunder, dass sich der Ich-Erzähler in der Geschichte, die er über sich und Agnes spinnt und schreibt, mehr zuhause fühlt als in der Realität. Unfähig, Konflikte miteinander auszutragen oder gemeinsam Krisen durchzustehen wird keiner der beiden dem anderen gerecht - sich selbst auch nicht.


    In zarten Tönen schildert der Autor eine Liebe, die von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Er vermeidet Reflexionen, Erklärungen und Introspektion. Und gerade aus diesem Grund lässt er viel Platz für den Leser, dem er ein paar Gedanken zu Zukunft, Gegenwart, Abschied und Liebe liefert und ihn dann seinen Phantasien überlässt.


    Ein Roman, der erst im Kopf des Lesers als Ganzes entsteht.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • :-k So viele gute Meinungen über das Buch, und ich kann wieder mal nur mit den Schultern zucken :lol: . Mir ging es beim Lesen eigentlich ganz genauso wie Quidam - ich fand die dem Buch zugrunde liegende Idee sehr schön, doch die Figuren ebenso wie die ganze Handlungsabfolge erschienen mir hölzern und mechanisch. Schade.


    Peter Stamms Ungefähre Landschaft fand ich zwar auch nicht unbedingt begeisternd, in diesem Buch war jedoch für mich entschieden mehr Atmosphäre zu verspüren als in Agnes. Insgesamt bezweifle ich eher, dass ich mit diesem Autor allzuviel anfangen kann - da er sich jedoch sehr leicht lesen lässt, würde ich es noch einmal mit einem neueren Buch von ihm probieren, wenn mir eines günstig in die Finger gerät.

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Agnes ist unser Sternchenthema für das Abitur, meines derzeitigen Wissens zumindest.
    Ich habe es mit in eine Probe zum lesen genommen und wurde auch recht fix fertig (Naja, wenn man auch 6h nichts zu tun hat :lol: )


    An sich finde ich die Grundidee wirklich gut und auch der Anfang hat mich doch irgendwie bewegt. Der erste Satz und dann die Art wie es womöglich ausging.
    Zu den Figuren konnte ich keine Beziehung aufbauen, auch wenn die Grundidee interessant war und man immer mal wieder zwischen durch aufhören konnte zu lesen, um zu überlegen, warum und wieso. Interessant finde ich den Schluss den der Ich-Erzähler von seiner Beziehung schreibt. Ich hätte auch gerne mehr über Agnes selbst erfahren, weil ja doch oft nur ein paar Brocken hingeworfen wurden und mehr nicht. Auch das Ende fand ich klasse. Es hat mich doch mit einem gewissen flauen Gefühl im Magen zurückgelassen.