Willem Frederik Hermans - Nie mehr schlafen

  • Kurzbeschreibung Amazon:
    »Nie mehr schlafen« ist ein großes Buch über menschliche Eitelkeit: Auf einer Expedition in Norwegen werden dem ehrgeizigen Geologen Alfred Issendorf die Grenzen menschlichen Tuns aufgezeigt. In einem verzweifelten Akt der Selbstüberschätzung beschwört er eine Katastrophe herauf.


    Diese Beschreibung hat mich total in die Irre geführt. Ich dachte, in dem Buch geht es um einen wahnsinnigen Wissenschaftler, der in der Einöde herumexperimentiert und dadurch eine Katastrophe auslöst - ja so kann man sich irren!


    In Wirklichkeit handelt die Erzählung von einem Geologiestudenten, der in seiner Dissertation eine Theorie seines ihn betreuenden Professors belegen will. Dazu schließt er sich einer 4-Mann-Expedition in eine einsame unerforschte Gegend Norwegens an. Das Buch zeigt, wie er völlig unvorbereitet mit den Härten einer solchen Expedition klarkommen muss, und dabei immer wieder an seine Grenzen stößt.
    Mir hat es sehr gut gefallen, da ich mir ständig überlegt habe, dass ich in seiner Situation genauso gehandelt hätte, und damit ebenso wie er gescheitert wäre.
    Meiner Meinung nach ein sehr empfehlenswertes, nachdenklich machendes Buch. Und nachdem ich es gelesen hatte, habe ich dann auch endlich kapiert, was das Cover darstellt! :D



    LG schnakchen

  • Welchen Sinn machen die Suche und das Drängen des Menschen nach Erkenntnis angesichts einer übermächtigen Natur, welche, durch den Menschen unberührt, sein Anbeginn der Zeit existiert und des Menschen nicht bedarf; einem Kosmos, der nicht darauf wartet, daß ihm durch die Menschen ein Zweck zugeteilt wird ?


    Hermans schickt seinen Helden Alfred Issendorf, einen niederländischen Studenten der Geologie, in seinem 1966 erschienenen Roman „Nie mehr schlafen“ auf die Reise in die norwegische Finnmark, eine unbesiedelte Tundra hart unter dem Polarkreis. Auf Empfehlung seines Professors und Doktorvaters will Issendorf in dieser übermächtigen Landschaft Beweise für die Theorie finden, daß einige der namenlosen Seen in diesem Gebiet durch Einschläge von Meteoriten entstanden sind.


    Issendorf schleppt bereits vor seinem Aufbruch nach Norwegen eine denkbar schwere Bürde mit sich herum: die Erwartungen seiner Mutter, ein bedeutender Wissenschaftler zu werden, etwas Herausragendes zu entdecken und die Karriere seines Vaters zu vollenden, der seinerseits bei einer Expedition ums Leben gekommen ist, als der junge Alfred 7 Jahre alt war. Issendorf hat diese Erwartungen verinnerlicht und zu seinen eigenen gemacht: ein Scheitern der Expedition ist nicht akzeptabel.


    Doch schon die Vorbereitungen stehen unter unguten Vorzeichen: Die Luftaufnahmen, welche Issendorf so dringend benötigt, erhält er nicht, weil er in das eitle Ränkespiel konkurrierender und langzeitbeleidigter Professoren gerät. Und schon am ersten Tag der Wanderung in die Wildnis merkt er, daß er seinen norwegischen Kommilitonen, mit denen er gemeinsam in das unwegsame Gelände aufbricht, in keinster Weise das Wasser reichen kann: Der Rucksack so schwer, daß man nur mühsam einen Fuß vor den anderen setzen kann, den Kopf umschwirrt von Stechmücken, welche sich ihren Platz auf jedem Quadratzentimeter freier Haut suchen und die Nächte so hell, daß trotz größter Müdigkeit sich der Schlaf nicht einstellen will, wird die Expedition für Issendorf eine unmenschliche Tortur.


    Während die norwegischen Studenten scheinbar mühelos Flüsse überqueren, Hänge erklimmen, Felswände hinabklettern, ist Issendorf ängstlich und zaghaft, er stürzt, zieht sich Verletzungen zu und bei einem Ausrutscher im reißenden Fluß werden Schlafsack und Kleidung durchnäßt. Und als wären das nicht bereits genug Nackenschläge, finden sich nicht die kleinsten Hinweise im Gelände, welche seine Meteoriten-Theorie bestätigen würden. War bereits der gedankliche Ansatz seiner Unternehmung - der Vorschlag seines Professors in den Niederlanden für eben dieses Thema als Gegenstand der Dissertation - nichts als Humbug ? Und Alfred Issendorf das nichtsahnende Werkzeug seines Doktorvaters in der Absicht, seinem erzverfeindeten Kollegen in Oslo Eins auszuwischen ?


    Ein grandioses Scheitern auf allen Ebenen kündigt sich an und als Issendorf feststellt, daß sich die Luftaufnahmen, welche er für seine Expedition so dringend benötigt hätte, ausgerechnet bei Mikkelsen, seinem norwegischen Kommilitonen, im Nachbarzelt befinden, festigen sich die Anzeichen, daß er das ahnungslose Opfer einer Verschwörung, der Bösartigkeiten und Eitelkeiten seiner Professoren geworden ist.


    Doch es kommt noch schlimmer: Issendorf wird von der Gruppe durch ein unglückliches Mißverständnis getrennt und irrt orientierungslos durch die Tundra, nachdem er seinen Kompass durch noch einen viel unglücklicheren Umstand verloren hat. Die Vorräte gehen zur Neige und am Ende ist ein Toter zu beklagen, an dessen Ableben Issendorf nicht ganz unschuldig ist.


    Hermans beschreibt die Suche nach einer Sinnhaftigkeit in einer Welt, welche ohne jeden menschlichen Maßstab auskommt, als vergebliches Anrennen gegen Widerstände, geboren aus den eitlen Motiven menschlicher Unzulänglichkeit. Issendorfs Unzulänglichkeit läßt ihn in allen Belangen scheitern – körperlich, weil er den Strapazen der Unternehmung nicht gewachsen ist, und mental, weil Ehrgeiz und eine völlig überzogene Erwartungshaltung ihn an der Realität verzweifeln lassen. Die Unzulänglichkeit der Anderen, insbesondere der Professorenschaft, manifestiert sich in Eitelkeiten, Rachegelüsten und Konkurrenzneid - zusammengenommen ein Konglomerat aus Voraussetzungen, welche das Vorhaben von vornherein zur Sinnlosigkeit verdammen.


    Wie ein göttliches Hohngelächter erscheint es da, daß Issendorf auf der Rückreise Zeuge eines Naturphänomens wird, welches durch die Zeitungen später als Einschlag eines Meteoriten bekanntgegeben wird, just in der Gegend, aus welcher der tragische Held zuvor nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Und daß zuhause die Mutter wartet, als Trostgeschenk ein Sakko mit Manschettenknöpfen, gefertigt aus je einem halben Meteoriten - der Gegenstand allen Sehnens, Hoffens und aller vergeblicher Mühe Issendorfs als lächerliches Accessoire an einem Kleidungsstück !


    Mein Fazit: Für mich zählt „Nie mehr schlafen“ zu den 10 besten Romanen, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. Nicht allein der bildgewaltigen Sprache wegen, welche die ehrfurchtgebietende Gegenwärtigkeit der umgebenden Natur fast körperlich spürbar werden läßt; auch der zahllosen Motive der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit wegen, die sich durch den ganzen Roman ziehen und die ich auch nach der 3. Lektüre des Buches noch nicht alle aufgespürt habe.


    Deshalb: Wer in diesem Jahr nur einen Roman lesen möchte, der möge zu diesem greifen !!