Kazuo Ishiguro - Alles was wir geben mussten/ Never Let Me Go

  • Getern in der Lesenacht habe ich das Buch auch gelesen und muss vorher sagen, dass ich zuerst den Film gesehen habe und es deshalb vielleicht nicht so "wirken" konnte, wie wenn ich erst das Buch gelesen hätte.
    Meine Eindrücke zu dem Buch sind recht zwiegespalten, ich musste mich zum Beispiel erst an die leicht umständliche, fast altmodische aber trotzdem sehr schlichte Sprache gewöhnen, wodurch Kathy viel älter und erfahrener klang als sie mit ihren 8 Jahren wirklich war. Aber es passt irgendwie auch zur Geschichte und der Handlung.
    Mir fällt an dem Buch auf, dass es vor allem "psychologisch komplex" ist, so wie Ishiguro es beschreibt, dass ist mir ganz besonders bei der Figur von Ruth aufgefallen.



    Zur Geschichte an sich muss ich wohl nicht mehr viel sagen, im Kino lief mir am Ende jedenfalls doch das Wasser hinunter...


    Auf jeden Fall ist es sehr "dicht" gemacht, je weiter ich mit dem lesen kam, desto bedrückender wurde auch die komplette Atmosphäre, wirklich fesselnd wie andere Bücher war es nicht- aber ich könnte mir auch vorstellen, dass es dafür gar nicht gedacht ist.
    Es ist ein merkwürdiges Buch, aber eines was ganz sicher zum nachdenken anregt und vielleicht sogar eines von den Büchern, die man immer wieder lesen kann und was neues darin entdeckt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    Things need not have happened to be true. Tales and dreams are the shadow-truths that will endure when mere facts are dust and ashes, and forgot.

    Neil Gaiman


    :study: T.R.Richmond - What she left




  • Ich glaube, dass manche Bücher ihre volle Wirkung erst rückblickend entfalten, vielleicht ein paar Tage nach dem letzten Zuschlagen des Buchdeckels, wenn sich die offenen Fragen gelegt und der Romanverlauf seinen Platz in den Gedanken gefunden hat. Dort, wo er wirken kann.
    Alles, was wir geben mussten war für mich eines jener Bücher. Dabei war es in seinen Grundzügen eher schlicht:
    Ishiguro hat eine klare, fast schmucklose Sprache und die Tatsache, dass die Erzählperspektive aus den Erinnerungen Kathys besteht, die sie direkt an den Leser richtet, schafft eine Nähe, die wie selbstverständlich wirkt.
    Und auch inhaltlich beginnt Ishiguros Roman eher gewöhnlich:
    Er lässt seine Protagonisten von ihren Tagen in Hailsham erzählen, einem englischen Internat, wie man leicht denken könnte. Kathy selbst sticht nicht besonders heraus, ist ein nettes und kluges Mädchen, durchläuft in ihrer Jugend all die freundschaftlichen und von Liebe geprägten Beziehungen, die auch alle anderen Menschen erleben.
    Das Besondere schafft eigentlich erst der Handlungsrahmen und auch wenn er im Verlauf der Erzählung nie so wirklich eine Hauptrolle einzunehmen scheint, so steht und fällt die Handlung doch mit ihm. Er ist es, der die essentiellen Fragen nach der Beziehung zwischen Ethik und Wissenschaft aufwirft und er ist es auch, der diese in den Raum stellt und ihn mit dem letzten Satz wieder verlässt, seine Fragen mitnehmend.


    Auch wenn dem Leser recht schnell bewusst wird, worum es in Alles, was wir geben mussten geht:
    Klar zur Sprache gebracht wird das Thema kaum. Oder, ein wenig anders ausgedrückt:
    Seine Selbstverständlichkeit sorgt dafür, dass niemand der Romanhelden es klar ausformuliert, es vielleicht auch kritisiert. Das hat mir ein wenig gefehlt, diese mangelnde Revolte und gleichzeitig dieses Hinnehmen von (vielleicht falschen) Tatsachen, wo doch eigentlich Auflehnung sein sollte. Beim Lesen habe ich mich sehr an den Film Die Insel erinnert gefühlt.


    Vielleicht ist es aber auch das, was Ishiguros Roman ausmacht:
    Dass einem die Idee des Buches - im Grunde genommen Wahnsinn - so natürlich und elemantar vorkommt, dass sogar die Betroffenen selbst sie ohne weiteres Aufbegehren hinnehmen. Das vergrößert ihren Schrecken bei genauerem Nachdenken fast ins Maximale:
    Wo beginnen unsere Grenzen, die auch die Wissenschaft nicht antasten darf?
    Was macht das Menschsein eigentlich aus - ist es Empfindung, ist es Ratio, ist es Herz? Ich erinnere mich zum Beispiel an die Szene, in der Kathy beschreibt, wie sie einen Sommer lang alle zusammen auf der Wiese vor Hailsham saßen und gemeinsam Musik gehört haben:


    "In diesem Sommer hatten wir eine neue Marotte entwickelt, die so lange anhielt, bis es mit dem warmen Wetter zu Ende ging, nämlich auf der Wiese zu sitzen und gemeinsam Musik zu hören. Seit dem Basar im Jahr zuvor gab es in Hailsham Walkmen, und in diesem Sommer waren mindestens sechs davon im Unlauf. Unser Spleen bestand darin, dass wir zu mehreren um einen einzigen Walkman im Gras saßen und den Kopfhörer reihum gehen ließen. Gut, das scheint nicht unbedingt die intelligenteste Art zu sein, Musik zu hören, Tatsache ist aber, dass dabei eine tolle Stimmung entstand."


    Wer könnte bei diesen Worten sagen, dass es nicht die Gedanken einer ganz normalen Sechzehnjährigen sind?


    Dieser Balanceakt und weitere Szenen dieser Art waren es, die als Thematik so faszinierend, wenn auch nicht wirklich neu waren. Genauso wie den Protagonisten ab und an das Markante in ihren Zügen fehlte, plätscherte die Handlung eher nur so dahin ...
    Was nicht bedeutet, dass es die Faszination der Grundidee mindert. Dies ist nur ein erster Eindruck, nachdem ich das Buch vorhin beendet habe. Aber um den Kreis zu schließen und zu meinen Anfangsworten zurückzukehren:
    Das Gefühl, dass es erst rückblickend vollkommen wirken kann, bleibt. Vielleicht sind da morgen, übermorgen weitere Aspekte dieses Buches, die mich nicht mehr loslassen.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    merveille.


    It was that kind of a crazy afternoon, terrifically cold, and no sun out or anything,
    and you felt like you were disappearing every time you crossed a road.


    Catcher in the Rye. ♥

  • Ich muss sagen, dieses Buch hat mich wirklich schwer beeindruckt und ich musste erst einmal alles sacken lassen.
    Mir ging es die ganze Zeit beim Lesen so, dass ich die Kinder am liebsten wachgerüttelt und ihnen zugeschrien hätte, dass sie doch endlich aufwachen sollen, Fluchtversuche starten, eine Rebellion beginnen. Aber die Unschuld und Naivität der Kinder, die nie etwas anderes gekannt haben, ließ nie zu, dass auch nur ansatzweise die Sprache auf etwas in dieser Richtung kommen hätte können. Irgendwie spürt man das auch schon während des Lesens wenn man langsam das Verhalten dieser Menschen durchschaut. Sie sind in ihrer eigenen kleinen Welt und machen sich scheinbar viel zu viele Gedanken um die banalsten Dinge. Aber da sie so gut wie keinen Besitz haben und auch fast keine Eindrücke von außen auf sie niederprasseln, ist dies wohl nur naheliegend.


    Erinnert hat mich die Geschichte oft an Romane von Margaret Atwood, die in ihren Dystopien eine unmenschliche, verstörende Welt als völlig normal darstellt.


    Ein beeindruckendes, melancholisches und tiefschürfendes Buch!
    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Erinnert hat mich die Geschichte oft an Romane von Margaret Atwood, die in ihren Dystopien eine unmenschliche, verstörende Welt als völlig normal darstellt.


    Kapo,
    „Dystopie“?! ?( - Wie bitte? Dieses Wort habe ich zugegebenermaßen erst googeln müssen 8-[ . Daraufhin habe ich mich sofort gefragt, warum das Wort Dystopie bei mehr als einer kompletten Seite Kommentaren nie vorher eingebracht wurde, wo es doch so treffend hier in den Kontext passt.


    Als nächsten Schritt habe ich mir nur einen einzigen Margaret Atwood-Rezensionsthread ansehen müssen, nämlich Der Report der Magd, und sogleich kamen bei mir begeisterte Erinnerungen an den Film „The Handmaid’s Tale“ (mit Aidan Quinn, Faye Dunaway und Robert Duvall) hoch. Ich muss mir unbedingt ein Buch der Autorin Margaret Atwood besorgen, soviel steht schon fest.
    Also nochmal Danke für die Wortschatzbereicherung und den Buchtipp. :dance:

    » Unexpected intrusions of beauty. This is what life is. «


    Saul Bellow, (1915-2005 ), U.S. author,
    in Herzog

  • Gern geschehen, Hypocritia. :)
    Dafür hast Du mich nun auch zum googeln gebracht :wink: . Ich wusste nämlich gar nicht, dass "Der Report der Magd" bereits verfilmt wurde. Der deutsche Titel von "The Handmaid's Tale" ist übrigens "Die Geschichte der Dienerin". Da werde ich mich wohl bald mal nach der DVD umsehen müssen. Klingt sehr vielversprechend bei den tollen Darstellern.
    Der Roman ist jedenfalls sehr empfehlenswert und meiner Meinung nach auch etwas näher an "Alles, was wir geben mussten" als das ebenfalls grob in diese Richtung gehende, aber absolut geniale und in meinen All-Time-Top-Ten stehende "Oryx und Crake".

  • Oh ich wusste gar nicht, dass es dazu ein Buch gibt. Ich kenne nur den Film und fand den richtig klasse.
    Werde ich mir bei Gelegenheit auf jeden Fall noch zulegen. Mich hat das ganze Thema unglaublich interessiert.


    Die Welt ist wie ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon.


    :tanzensolo:


    Gelesen 2016 : 9
    Gelesen 2015 : 44
    Gelesen 2014 : 78

  • Meine Meinung:
    “Alles, was wir geben mussten” ist ein ruhiger Roman. Erzählt wird er aus der Ich-Perspektive von Kathy, welche uns in drei Teilen rückblickend aus ihrer Kindheit, ihrer Jugend und ihrer Zeit als Erwachsene erzählt. In Vordergrund steht hierbei ihre Beziehung zu ihren Freunden Tommy und Ruth, die sie im Hailsham Internat kennen lernt.
    Bemerkenswert an der Erzählweise ist, dass der Leser nicht als unwissende Person behandelt wird, der man jede noch so winzige Kleinigkeit erst einmal erklären muss. Viel mehr spielt der Roman zur heutigen Zeit, in unserer heutigen Welt, die sich lediglich ab etwa den 60er Jahren etwas anders entwickelt hat, als sie es hier bei uns tat. Kathy erzählt ihre Geschichte, als spreche sie zu einer anderen Person, die über alle geschichtlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Änderungen Bescheid weiß. Ein gutes Beispiel dafür befindet sich gleich im zweiten Satz:


    Zitat

    Ich heiße Kathy H. Ich bin einunddreißig Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin.


    Wir haben also etwas über Kathy erfahren: sie ist Betreuerin. Mein erster Gedanke an dieser Stelle war, dass sie möglicherweise in einem Kindergarten arbeite. Diesen Gedanken warf ich jedoch bald über Bord, als sie begann, sich rechtzufertigen, warum sie diesen Job schon so lange mache. Warum sollte man nicht 11 Jahre lang Erzieherin sein?
    Eben dieser Erzählstil ist es, der dieses Buch für mich ausmacht. Es strotzt nicht vor Spannung und Abenteuer, doch es hat diese ganz besondere Erzählweise, bei der einem nicht einfach alle Informationen über diese andere Welt auf dem Silbertablett präsentiert werden, bei der nie alles verraten wird und manches noch bis zum Ende offen bleibt.
    Wie mir eben erst klar wurde, bekommt auch der deutsche Titel “Alles, was wir geben mussten” nach Beendigung des Buches eine ganz andere Bedeutung.
    Nun ist vielleicht auch klar, warum ich nicht sonderlich gerne zu viel über den Inhalt verraten möchte, da diese kleinen Überraschungen für euch sonst ausfallen. Und das fände ich schade, da ich dieses Buch durchaus für lesenswert halte. Darum gibt es von mir nun auch 4 Sterne.

  • Falls jemand den Film noch nicht gesehen hat, er kommt morgen , 13.12.14 um 20:15 Uhr auf Pro 7.

    "Ein gutes Buch ist wie ein erholsamer Kurztrip aus dem Alltag."
    »Verlass das Haus nie ohne ein Buch.« Edward Gorey
    "Zu Hause ist da, wo deine Bücher sind" SILBER - Kerstin Gier

  • Von vielen (und auch mir!) lange erwartet, kommt im März der neue Roman von Ishiguro heraus, "The buried giant"! Vormerken!!!!


    The Romans have long since departed, and Britain is steadily declining into ruin. But at least the wars that once ravaged the country have ceased.


    The Buried Giant begins as a couple, Axl and Beatrice, set off across a troubled land of mist and rain in the hope of finding a son they have not seen for years. They expect to face many hazards - some strange and other-worldly - but they cannot yet foresee how their journey will reveal to them dark and forgotten corners of their love for one another.


    Sometimes savage, often intensely moving, Kazuo Ishiguro's first novel in a decade is about lost memories, love, revenge and war.
    (Quelle: amazon.uk)

  • Habe dieses wunderschöne und tieftraurige Buch gestern Abend zwar zu Ende gelesen, doch die Themen, welche Ishiguro hier subtil mit einer kühlen, betrachtenden Distanz vermittelt, kreisen weiterhin in meinem Kopf. Vielleicht auch erst jetzt so richtig. Denn wie schon andere Rezensenten hier beschrieben haben, entfaltet sich das Buch mit seinen vielen Ebenen wohl erst nach der letzten Seite beim Leser, weshalb ich mir ein Bisschen wünschte, ich hätte noch aufmerksamer gelesen und mehr von dieser dystopischen Parallelgesellschaft aufgesaugt. Dieses Buch hat in mir ein kleines ethisches Erdbeben ausgelöst. Ob man es wahrhaben will oder nicht, "Alles was wir geben mussten" ist in sich eine Metapher auf unsere moderne Gesellschaft und genau diese Erkenntnis lässt den Einen oder Anderen am Ende wohl so hiflos dastehen.

  • Habe dieses wunderschöne und tieftraurige Buch gestern Abend zwar zu Ende gelesen, doch die Themen, welche Ishiguro hier subtil mit einer kühlen, betrachtenden Distanz vermittelt, kreisen weiterhin in meinem Kopf. Vielleicht auch erst jetzt so richtig. Denn wie schon andere Rezensenten hier beschrieben haben, entfaltet sich das Buch mit seinen vielen Ebenen wohl erst nach der letzten Seite beim Leser, weshalb ich mir ein Bisschen wünschte, ich hätte noch aufmerksamer gelesen und mehr von dieser dystopischen Parallelgesellschaft aufgesaugt. Dieses Buch hat in mir ein kleines ethisches Erdbeben ausgelöst. Ob man es wahrhaben will oder nicht, "Alles was wir geben mussten" ist in sich eine Metapher auf unsere moderne Gesellschaft und genau diese Erkenntnis lässt den Einen oder Anderen am Ende wohl so hiflos dastehen.


    Toller Beitrag, XYZ! Danke.


    Nichts hindert Dich daran, das Buch eventuell in einem halben Jahr nochmals zu lesen?

  • Mein Fazit:


    So selten fällt es mir schwer, eine richtige Inhaltsangabe zu schreiben. Vor ein paar Wochen habe ich zum wiederholten Male den Film zu diesem Buch gesehen und ich hatte mir von der Lektüre ein paar Antworten auf meine Fragen erhofft. Leider wurden auch hier nicht alle Fragen beantwortet, wenngleich das Buch wesentlich tiefere Einblicke in die Seelen der “besonderen Kinder” gewährt als der Film.


    Die Geschichte ist aus Kathys Sicht erzählt und der Autor gibt einem ständig das Gefühl, das Kathy vor mir sitzen und ruhig ihre Geschichte erzählen würde – mit kleinen Abschweifungen, Andeutungen und scheinbar belanglosen Anekdoten. Und zwischen den Zeilen kommt immer wieder das nackte Grauen – das diese Kinder nur geschaffen wurden, um anderen Menschen das Leben zu retten. Es fühlt sich so unwirklich an, dennoch ist es für Kathy eine unumstößliche Realität. Es wurde keine Parallel-Gesellschaft erschaffen – sondern ein Parallel-Universum.


    Obwohl die Kinder schon recht früh vermittelt bekommen, weshalb sie auf die Welt gekommen sind, können sie eine fast normale Kindheit und Jugend erleben – mit allen Höhen und Tiefen – nur ohne Eltern, ohne menschliche Wärme und ohne eine Perspektive. Die Probleme mit der Pupertät und die verschiedenen Stadien des Erwachsen-werdens machen sie jedoch genauso durch wie “normale” Kinder. Und doch ergeben sie sich stoisch in ihr Schicksal, ohne Auflehnung und ohne brennende Fragen.


    Wie soll man ein solches Buch bewerten? Eine sehr schwierige Frage. Der Autor hat wahrlich toll geschrieben. Ich denke, er hat bewußt einige Fragen offen gelassen, damit man sich als Leser selbst mit dem Thema beschäftigt, aber dennoch ist es etwas unbefriedigend. Daher gibt es auch nur vier Sterne. Ansonsten ist es wirklich zu empfehlen.


    Ich persönlich hoffe, das nie ein solches “Programm” entsteht, auch wenn ich dadurch länger leben könnte. Aber die Vorstellung, das Menschen geklont werden, um anderen die Organe zu spenden, ist für mich menschlich so furchtbar, das der Gedanke kaum zu ertragen ist.

  • Dann gebe ich jetzt auch mal meinen Senf dazu ab.


    Eigenzitat aus amazon.de:


    Wir sind in einem England in einer Art von Parallelwelt – was wir aber zunächst nicht merken. Zu-nächst treffen wir die Ich-Erzählerin dieses Romans – Kathy H. -, die zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen, die auch nur Initialen als Nachnamen haben, in einem ländlich gelegenen Heim namens Hailsham lebt. Beschützt, bewacht und unterrichtet von den „Guardians“ (was sowohl Beschützer, wie auch Bewacher sein können) wächst sie dort im Kreis ihrer Gleichaltrigen heran, erlebt Beziehungsprobleme und Streitigkeiten und all die anderen Dinge, die das Leben von Kindern, die in Institutionen aufwachsen ausmachen. Doch mehr und mehr merkt sie – und vielleicht auch noch etwas eher der Leser -, dass hier etwas anders ist, als in anderen Kinder- und Jugendheimen.


    Der Kontakt zur Außenwelt ist stark eingeschränkt, die „Guardians“ und die seltenen Besucher be-gegnen den Kindern und Jugendlichen immer mal wieder mit mehr oder minder offenem Unbehagen und einige scheinen sich geradezu vor ihnen zu ekeln. Sie merken – und bekommen schließlich auch in homöpathischen Dosen erklärt –, dass sie etwas Besonderes sind. Sie sind „Spender“, die als Klone von „realen“ Menschen geschaffen worden sind (wie und wo wird dabei nie wirklich thematisiert). Wenn sie erwachsen sind, werden sie nach einer Übergangszeit in einer Art halboffenen Vollzug an die Außenwelt herangeführt und werden dann erst einmal eine Zeit als „Betreuer“ für andere „Spender“ sorgen, die bereits „Spenden“ gegeben haben, bis sie schließlich selbst dazu berufen werden. Wer genau diese (Organ)spenden empfängt bleibt vage und auch die Organe selbst werden nie wirklich thematisiert.


    Alles in diesem Zusammenhang bleibt erstaunlich vage, selbst nachdem Kathy und einer ihrer „Spender“ einige Personen zur Rede stellen und dadurch nicht wirklich viel Aufklärung bekommen. Irgendwie erscheint das gesamte vorgestellte System, das entstanden sein soll, nachdem das menschliche Klonen in den 1970ern entwickelt wurde, überaus wenig durchdacht und auch ziemlich ziellos. Dieser Hintergrund kann – trotz seiner Diskussionswürdigkeit – mit Hilfe dieses Buchs nur durch Weiterdenken untersucht werden.


    Schwerpunktmäßig geht es sowieso um Kathy H. und ihre Beziehungen zu ihren Kameradinnen und Kameraden – in erster Linie ihrer Freundin Ruth, die man vielleicht nicht unbedingt zur Freundin haben möchte, und ihren Freund Tommy. Dies ist ein Beziehungsdreieck, das Kathy durch ihr ständiges Sich- und Andere-Hinterfragen allerlei Herz- und Seelenpein bereitet, wobei man beim Lesen nicht selten staunt, wie zielsicher sie bei all ihren Überlegungen und Erinnerungen immer wieder in die Irre geht – bis es schließlich zu spät ist, um noch einmal einen neuen Weg zu gehen und Glück zu finden.


    Da wir die Ereignisse nur durch Kathy wahrnehmen können, die selbst nur mit „Betreuern“, „Spen-dern“ und „Guardians“ zu tun haben scheint, sind wir gezwungen, mit ihr durch ihr Leben zu irren, ohne wirklich viele realistisch Anknüpfungspunkte zur positiven Identifizierung zu finden. Dies ist wohl auch Herr Ishiguros Absicht gewesen, beim Schreiben dieses Buchs – und es ist ihm wunderbar gelungen. Und genau dieser Erfolg macht mir dieses Buch ziemlich unsympathisch. Das im Hintergrund stehende Unheil der „Spender“ erscheint zu vage und in seinen wenigen gezeigten Details zu unwahrscheinlich und Ziellosigkeit ist etwas, was zumindest dieser Rezensent nicht wirklich schätzt. Also, ganz nett gemacht – aber nichts für mich.


    Die vorliegende Cornelsenausgabe für die Schule beinhaltet noch zwei Rezensionen (dabei eine sehr erfreuliche von Margaret Atwood), je einen Auszug aus „Oryx & Crake“ und aus „Sister’s Keeper“, sowie einen Artikel aus der Daily Mail zum illegalen Stammzellenhandel.

  • :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:


    "Alles, was wir geben mussten" ist ein vielfach für Auszeichnungen nominiertes und preisgekröntes Buch. Zu den Nominierungen gehören der renommierte "Booker Price", der "Arthur C. Clarke Award" und der "National Book Critics Circle Award". Gewonnen hat das Buch zum Beispiel den "Salon Book Award for Fiction", "ALA Alex Award" und den "Rooster Award" von "Tournament of Books". BookClubClassics.com listete das Buch in der Kategorie "Pushing the Boundaries of Reality" ("Die Grenzen der Realität ausreizen") als eines der "Best Books for Discussion", und das "Time Magazine" wählte es zum "Best Novel of 2005".


    Im Jahr 2010 wurde das Buch verfilmt (mit Keira Knightly, Carey Mulligan und Andrew Garfield in den Hauptrollen), und auch der Film wurde von Kritikern positiv aufgenommen.


    Und dennoch ist es ein Buch, das die Gemüter spaltet. Trotz all der Preise sprachen manche Kritiker sogar von unerträglicher Langeweile und kaum zu überbietender Banalität.


    Mich hat die Geschichte sehr zum Nachdenken angeregt, und obwohl ich durchaus nachvollziehen kann, warum es für manche Leser einfach nicht "funktioniert", hat es sich eingereiht in meine persönliche Liste der wichtigsten, herausragendsten Bücher unserer Zeit.


    Auch wenn man das erwarten könnte, ist "Alles, was wir geben mussten" keine Zukunftsvision, sondern in unserer näheren Vergangenheit angesiedelt. (Nach der beschriebenen Technologie zu urteilen, würde ich sagen, die Geschichte beginnt in den 70er- oder 80er-Jahren.) Der Autor hat diese Vergangenheit nur leicht verändert, um wissenschaftliche Erkenntnisse und Verfahren, die wir heute tatsächlich kennen und anwenden, in einem beunruhigenden Szenario auf die Spitze zu treiben und zu fragen: was darf Wissenschaft?


    Es ist eine ruhige, bedächtige Dystopie. Hier gibt es keine Zombies, und es gibt zwar eine kaltblütig ausgenutzte Minderheit, aber keinen Aufstand, keinen Aufschrei. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber das Buch wird erzählt von Kathy, einem Mädchen, das zu dieser Minderheit gehört - und das dennoch ein aktiver Teil dieses menschenverachtenden Systems ist, weil sie glaubt, dass es eben so sein muss und sogar gut und richtig ist.


    Das ist für mich das wahrhaft Erschreckende an diesem Buch: hier werden Kinder in Internaten herangezüchtet, um klaglos ein schreckliches Schicksal anzunehmen. Das wird ganz perfide so gemacht, indem ihnen, während sie heranwachsen, häppchenweise erzählt wird, was sie erwartet - aber immer in einem Alter, in dem sie das jeweilige Häppchen noch gar nicht wirklich verstehen können. Auf diese Art und Weise haben sie es, wenn sie älter sind und es verstehen können, schon als ganz normal verinnerlicht. Ihnen wurde stets unterschwellig vermittelt, dass es sie zu etwas ganz Besonderen macht, es also sogar ein Grund ist, stolz und glücklich zu sein.


    Kathy plaudert über Nichtigkeiten: das wunderschöne Federmäppchen, auf das alle Kinder neidisch waren, Teenagerstreitigkeiten, Unsicherheit über Sex und Liebe... Was Kinder und Jugendliche eben so bewegt. Das unvorstellbar Entsetzliche, das die Kinder erwartet, fließt immer nur am Rande mit ein - ganz beiläufig und sogar emotionslos. Für mich machte es das nur umso bestürzender, und ich konnte das Buch kaum weglegen. Hinter der Normalität, der Banalität verbarg sich für mich ein kaltes Grauen, das den Opfern selber aber gänzlich unbewusst ist.


    Es geht in meinen Augen nicht nur über die Ethik der Wissenschaft, sondern es ist auch ein prägnantes, eindringliches Sinnbild der Sterblichkeit; auf eine gewisse Art und Weise kann man sich wiederfinden in diesen Kindern. Die Art und Weise, wie Kazuo Ishiguro diese Geschichte erzählt - ohne Drama, ohne großartigen Spannungsbogen - war für mich zwar gewöhnungsbedürftig, aber dennoch erstaunlich fesselnd und originell.


    Die Charaktere wirken merkwürdig gedämpft, und als Leser fragt man sich: wie kann man solch ein Schicksal einfach hinnehmen? Wurden diese Kinder in irgendeiner Form manipuliert, um ihre Emotionen zu bremsen, oder ist hier einfach die eben erwähnte schleichende Konditionierung am Werk? Der Leser weiß nur, was Kathy weiß - und da Kathy sich ihrer eigenen Passivität nicht bewusst ist und daher solche Fragen nicht stellt, bleibt vieles ungeklärt.


    Auch der Schreibstil ist gedämpft, manchmal beinahe monoton, denn Kathy erzählt stets mit sanfter Gleichmütigkeit. In diesem Buch muss man sorgfältig zwischen den Zeilen lesen, um einen schwachen Eindruck davon zu gewinnen, wer Kathy und ihre Freunde in einer anderen Gesellschaft hätten sein können. Es ist in gewisser Weise auch ein Buch über die Tragik verpasster Chancen.


    Fazit:
    Trotz allem. Trotz allem hat mich das Buch bewegt, beschäftigt, begeistert. Oberflächlich gesehen ist es scheinbar eine Ansammlung von Nichtigkeiten, von Szenen ohne Dramatik oder emotionaler Wucht - aber zwischen den Zeilen verbirgt sich eine dystopische Welt, die in ihrer nüchternen Grausamkeit ihresgleichen sucht.


    Es geht um Kinder, später Jugendliche, die an einem scheinbar idyllischen Ort eine hervorragende Ausbildung genießen. Ihnen wird gesagt, sie sind außergewöhnlich, etwas ganz Besonderes, auserwählt. Für was sie auserwählt sind, das wird ihnen gesagt - und dennoch nicht gesagt. Kathy, die Erzählerin, beschreibt ihre Kindheit und Jugend und ihr derzeitiges Leben als Betreuerin derjenigen, die kurz vor der "Vollendung" stehen.

  • Kathy H. wächst in den 90er Jahren in England auf - jedoch nicht in dem England, wie wir es kennen, sondern in einer fiktiven Version davon. Kathy und ihre Freunde leben in Hailsham, einem wunderschön ländlich gelegenen Heim, wo sie eine gute Schulausbildung erhalten und in bescheidenem Rahmen alles haben, was sie zum Leben brauchen. Es gibt Sportanlagen, Spielplätze, Kreativität wird sehr gefördert, es bilden sich die üblichen Cliquen und später entwickeln sich auch erste Liebeleien. Hailsham sieht aus wie eine ganz normale Schule, doch die Schüler wissen gerüchteweise, dass das nicht stimmt.


    Kathys Freund Tommy, der auf den ersten Blick manchmal etwas naiv wirkt, beginnt eines Tages, unangenehme Fragen zu stellen, die nur zum Teil beantwortet werden, der Wahrheit aber gefährlich nahekommen, und es entwickelt sich eine explosive Dreiecksbeziehung zwischen Kathy, Tommy und der selbstbewussten und manchmal etwas herrischen Ruth.


    Jahre später blickt Kathy zurück auf ihre gemeinsame Schulzeit und ihre Freundschaft und auch darauf, wie sich die Lage von ihresgleichen seitdem verändert hat.


    Mit den Dystopien, wie sie vor allem im Young-Adult-Bereich derzeit so "in" sind, hat Ishiguros Roman nur den Grundgedanken gemeinsam. Hier gibt es keine plakativen Schockeffekte, keine blutigen Kämpfe und keinen dramatischen Showdown. Sehr ruhig, sehr gemächlich beginnt er mit Kathys Stimme zu erzählen, die mit Anfang 30 schon fast so etwas wie Altersweisheit an den Tag legt und mit melancholischer Distanz auf ihre jüngeren Jahre zurückblickt.


    Ganz allmählich, manchmal schon fast quälend langsam, wird dabei klar, dass Hailsham eben kein idyllisches Internat à la Hanni und Nanni ist und was es genau mit den Schülern dort (und in Pendants im ganzen Land) auf sich hat. Gerade weil das in so leisen, subtilen Tönen daherkommt, wirkt das Ungeheuerliche, was zwischen den Zeilen herauszulesen ist, umso eindrucksvoller und die Tatsache, dass die allermeisten Schüler die Situation einfach hinnehmen, umso bedrückender.


    Lesens- und nachdenkenswert, aber keine flotte Zwischendurch- und schon gar keine Wohlfühllektüre - ein Buch, für das man Zeit haben muss, nicht zuletzt, um über die ethischen Fragen nachzusinnen, die es aufwirft.

  • Dieses Buch, mein zweites von diesem Autoren, hat mich sehr beeindruckt und auch traurig gemacht. Der französische Titel « Auprès de moi toujours » (Immer bei mir) gefällt mir übrigens besser und ich finde ihn passender als den Deutschen.
    Es ist schwierig, Worte zu finden und noch schwieriger, gleich mit einem anderen Buch zu beginnen. Irgendwie muss man das Ganze erstmal verarbeiten. Die ersten 300 Seiten habe ich langsam innerhalb einer Woche gelesen, aber die letzten 150 Seiten habe ich geradezu verschlungen. Hauptsächlich wohl, weil Hoffnung auf einen « Aufschub » bestand.
    Was ich ganz grausam fand, war, dass die jungen Menschen zunächst Betreuer waren und das ganze Elend mit ansehen mussten und sich dann selbst diesen Operationen unterziehen mussten. Da stelle ich mir die Frage : wie kann man so etwas wissentlich über sich ergehen lassen ? Waren sie einfach so gedrillt, dass dies ein unabwendbarer Werdegang für die Mehrheit darstellte, ohne darüber nachzudenken ?
    Besonders geschockt hat mich diese Aussage



    Und was ich ausserordentlich rührend fand



    Klar gibt es noch offene Fragen und man könnte ohne weiteres noch viel über dieses Buch diskutieren.


    Mir gefällt der Schreibstil des Autoren sehr gut, diese ruhige Art und das ganze Ins-Detail-Gehen, obwohl das Geschriebene zuweilen ziemlich bedrückend ist.
    Diesem Buch gebe ich :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Der französische Titel « Auprès de moi toujours » (Immer bei mir) gefällt mir übrigens besser und ich finde ihn passender als den Deutschen.

    Der französische Titel ist wirklich viel passender. Deine Begeisterung für dieses Buch teile ich absolut. Es ist eine Geschichte, die noch lange nachhallt; sehr berührt und auch viel Stoff zum nachdenken gibt. Wenn ich nicht so viele ungelesene Bücher hier hätte, würde ich es glatt noch einmal lesen wollen. Danke dir für deine schöne Rezi und die Erinnerung an dieses berührende Buch. Das war übrigens auch mein zweites Buch von Ishiguro gewesen. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du "Was vom Tage übrigblieb" auch als erstes gelesen?
    Kennst du schon "Der begrabene Riese" von ihm? Das ist auch so ein tolles und tiefgründiges Buch. Ishiguro gehört einfach zu einem meiner liebsten Autoren.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

    Klassiker-Challenge 2024


  • Und wenn ich mich richtig erinnere, dann hast du "Was vom Tage übrigblieb" auch als erstes gelesen?

    Genau :)

    Kennst du schon "Der begrabene Riese" von ihm? Das ist auch so ein tolles und tiefgründiges Buch. Ishiguro gehört einfach zu einem meiner liebsten Autoren.

    Der kommt als nächstes dran "Le géant enfoui". Bisher habe ich nur diese drei Bücher von Ishiguro im Regal.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Der kommt als nächstes dran "Le géant enfoui".

    Ich beneide dich ja fast schon darum, dass du das Buch zum ersten Mal lesen kannst. Ich bin schon gespannt wie es dir gefallen wird.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


    SuB-Leichen-Challenge 2024: Alle Bücher bis inkl. 2022 [-X

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  • Es ist eine Geschichte, die noch lange nachhallt;

    nicht nur das. Die Geschichte bleibt unvergesslich. :thumleft: Zumindest mir geht es so :)

    2024: Bücher: 91/Seiten: 40 202

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