Marya Hornbacher - Alice im Hungerland

  • Marya Hornbacher
    Alice im Hungerland
    Ullstein (Softcover/2002)
    ISBN 3-548-36248-6
    491 Seiten
    Euro: 8.95


    Ein erwachsener Mensch mit einem Gerade-Noch-Lebendgewicht von 25 Kilogramm. Unvorstellbar. Oder? Als sie sich im Jahr 1993 endlich ins Krankenhaus einweisen lässt ist Marya Hornbacher bereits seit etlichen Jahren essgestört, wobei sie zwischen Bulimie und Anorexie schwankt. Im Alter von fünf bis sechs Jahren beginnt sie sich für zu dick zu halten und mit neun Jahren bringt sie sich zum ersten Mal zum Erbrechen.


    Dies ist eigentlich kein Sachbuch und auch keine Fallstudie. Irgendwie. Dies ist die Beschreibung einer – oder vielmehr mehrerer – psychischer Störungen von Innen und dadurch auch überaus verstörend. Es ist die Autobiographie einer jungen Frau, die durch ihr Essverhalten zunächst versucht, die disfunktionale Ehe ihrer Eltern zu regulieren um dann später sich selbst und ihre Umwelt zu kontrollieren. Es ist auch die Geschichte einer Kindheit zwischen Erfolgsdruck und Selbsttäuschung und es ist das Leben mit einer Krankheit, die mehr und mehr zu einem bestimmenden Teil der eigenen Identität wird. Die vielen verschiedenen äußeren Einflüsse, die Maryas Essstörungen begünstigt haben, wie die vorhergehenden zwei Generationen ihrer Familie auf der mütterlichen Seite und auch das Essverhalten ihres Vaters; die Idealvorstellung von der schönen, erfolgreichen Frau in einer reichen amerikanischen Umgebung; die Lebensmittelwerbung, die immer wieder – und oft unzutreffend – auf die Vorteile fehlenden Fetts in bestimmten Nahrungsmitteln hinweist und das Versprechen eines „Genuss ohne Reue“ und anderes sieht Marya nicht als ausschlaggebend an, obwohl man gerade beim Lesen über die Familie wirklich erschrickt. Marya möchte keine Schuld zuweisen – oder vielleicht auch nicht die Kontrolle über ihre eigene Biographie abgeben.


    Daneben zeigt sich, dass Essstörungen in der amerikanischen Mittelschicht wohl ein sehr verbreitetes Phänomen sind und dass sehr viele Leute auch in den gehobeneren Gesellschaftsschichten vor den Ernährungsproblemen ihrer Kinder die Augen verschließen. Das Problem ist wesentlich verbreiteter, als man wahrhaben will und auch viele Ärzte scheinen dem ahnungslos gegenüber zu stehen. Und das Gespräch über die Figurprobleme unter Frauen ist allgegenwärtig. Wer nicht mit seinen Freundinnen über die eigene Figur meckert, quält sich im Fitness-Center durch die Geräte, diskutiert die neuesten Diättrends oder bekommt von der Werbung und durch die überall herumliegenden Frauenzeitschriften – beim Friseur, beim Arzt, im Zeitschriftenladen, auf dem Fernsehtisch von Bekannten – die neueste und beste und erfolgreichste Diät vorgestellt. Dr. Strunz entwickelt eine Methode und Joschka Fischer und Hera Lind schreiben uns von der Freude des Abnehmens und Laufens. Essstörungen egal welcher Art – sind damit oft genug gesellschaftlich bedingt, eine Tatsache, die Marya erst im Nachwort dieses Buchs kurz unter die Lupe nimmt, was auch gerechtfertigt ist, denn schließlich geht es in diesem Buch in erster Linie um sie selbst.


    Das Buch ist auch ein Sachbuch, insofern es den Leserinnen und Lesern die verschiedenen Erscheinungsformen der Bulimie und Anorexie – und damit auch die Selbsttäuschungen vieler anderer Suchtkranken – aufzeigt und die gravierenden körperlichen Veränderungen, die ein Mensch sich selber zufügen kann, einfach indem er nicht mehr oder kaum noch isst. Wie er sich selber systematisch demontieren kann und dieser Selbstdemontage von außen zusieht. Es wird auf viele Fachaufsätze und –bücher zum Thema verwiesen, die zum Teil aber nicht auf Deutsch erhältlich sind. Und es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Suchterkrankungen niemals ein Ende finden, dass man als Süchtiger niemals wirklich geheilt sein kann.


    Es ist ein Buch, das mich sagen lässt: „Ich esse, also bin ich.“

  • faszinierend dabei ist (ich komme grade aus den USA, kenne auch nur die englische Version dieses Buches), das die Medien lauthals aufgeschrien haben:" OH MEIN GOTT Lindsay Lohan/Nicole Richie hat Magersucht/Bulimie".


    Total den Terror haben die darum gemacht, allerdings nicht ohne auf der gleichen Seite hinzuweisen:" Wie Sie noch heute die gleichen Resultate wie N. oder L. erreichen können. Die besten Diäten im Vergleich"...


    wenn das nicht irgentwie gestört ist.

  • Vor allem sind die meisten Schauspielerinnen magersüchtig oder kurz davor. Und das weiß man auch, schließlich kann man es eindeutig sehen!
    Gerade Schauspieler sollte man nicht als Vorbild nehmen, weil sie für ihre Rollen perfekt aussehen müssen und das Idealbild eines menschlichen Körpers in den letzten Jahren stark gestört ist.
    Wir haben das Thema Essstörungen mal im Unterricht durchgenommen und ein gravierendes PromiBeispiel für mörderische Selbstzerstörung behandelt:
    Collin Farrel.
    Der Mann frisst regelrecht, wenn er keine Rollen hat, raucht wie ein Schlot, nimmt in kürzester Zeit Unmengen von Gewicht zu - nur um sie, sobald er eine Rolle bekommt, in mindestens genauso kurzer Zeit alles wieder abzuhungern, runterzutrainieren, sich fast einer Entziehungskur zu unterziehen.
    Dieses ständige rauf und runter (alleine vom Gewicht, von den Zigaretten etc. will ich mal gar nicht sprechen) ist die reinste Tortur für den Körper. :-({|=


    Aber so lange die Gesellschaft so magere Frauen (natürlich gibt es auch untergewichtige Männer, aber dieses Beispiel ist geläufiger) mit eindeutigem Untergewicht als "normal" und "schön" bezeichnet (JEDER Mensch mit Idealgewicht hat, was jeder Arzt bestätigen kann, ein paar Speckröllchen), wird sich die Begleiterscheinung Essstörung auch nicht weiter eindemmen lassen. :idea:

  • Ich habe das Buch auch gelesen und ich fand es wirklich sehr mutig, wie offen Marya Hornbacher ihre Psyche darlegt, ebenso verstörend war das Buch aber auch, da man stets denkt, schlimmer kanns doch jetzt nicht mehr kommen und dann rutscht sie noch weiter rein


    Wirklich ein gutes Buch, offen, ehrlich, aufklärend.

  • @soulstorm:
    Ja, ich finde es auch wichtig, dass es ab und zu Bücher gibt, die man vor Schreck beinahe nicht lesen kann, weil der Nerv getroffen wird. :thumleft:
    Mir fällt in letzter Zeit z. B. auf, dass Süßigkeitenwerbung inzwischen den Eindruck der Leichtigkeit vermittelt (die neue PRINGELS-Werbung, bei der die Chips Flügel darstellen sollen oder die BUENO-Werbung, bei der die Schokolade-essende Frau durch die Luft schwebt). Das bedeutet, dass die Werbeleute sich den Gegebenheiten anpassen und dennoch "verführen". Es ist in letzter Zeit schon zur Mode geworden, dass man irgendeine Art von Ess- oder psychische Störung hat! Und die Promis mit ihren Drogen- oder Alkoholproblemen machen es vor! Da bin ich lieber ein Normalo hab mein Leben aber im Griff und bin halbwegs glücklich! :idea:

  • Ich habe das Buch nun auch gelesen und ich finde das Marya Hornbacher einen sehr guten Einblick in ihr Leben und das Problem Magersucht/Bulemie bietet. Für außenstehende ist es oft nicht verständlich wie man seinen Körper so etwas antun kann, aber Marya beschreibt alles was sie getan hat sehr nachvollziehbar. Bei einem Thema wie diesem ist es schwer zu sagen, dass das Buch ganz toll war und es super war,das Marya ihr Problem so anschaulich geschildert hat, denn man ist schon ein wenig geschockt wenn man das Buch wieder aus der Hand legt. Besonders traurig fand ich, dass Marya keinen Respekt vor sich selbst und ihrem Leben hatte. Das Buch ist aber auf jeden Fall sehr empfehlenswert für jeden den die Thematik interessiert.

  • Erschreckend. Und trotz, dass die Autorin einen wirklich guten Einblick in ihre Gedanken und Gefühle gibt bzgl der Entstehung ihrer Essstörung, denke ich mir, dass es für nicht Essgestörte sehr schwierig sein wird, es nachzuvollziehen. Vor allem der Teil, an dem ihre Magersucht offensichtlich gesundheitsschädigend wird. Allerspätestens dann hört man als "normal" Essender mit einer Diät auf und merkt, dass es krank ist. Krank als Fakt, nicht als Wertung.


    Ich würde es trotzdem jedem, der sich für dieses Thema interessiert, empfehlen.
    Von mir gibt es :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: Sterne, es ist ehrlich und schonungslos direkt, ohne "aufmerksamkeitsheischend" zu wirken.

    "Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont."
    Konrad Adenauer


    :study: Ashley Audrain - Der Verdacht