Marquis de Sade
Justine – oder vom Missgeschick der Tugend
Ullstein (Softcover/2002)
ISBN 3-548-25475-6
189 Seiten
Euro: 6.-
Bei der vorliegenden Fassung der „Justine“ handelt es sich um die so genannte erste Fassung, die Marquis Donatien Alphonse François de Sade in 15 Tagen im Jahr 1787 in der Bastille geschrieben hat. Hier befand er sich unter anderem durch das aktive Betreiben seiner Schwiegermutter, die dafür sorgte, dass ein bereits 1778 aufgehobenes Gerichtsurteil gegen ihn wieder in Kraft gesetzt wurde, wenn auch mit einem anderen Strafmaß. Erst 1790 sollte er wieder freikommen.
1803 wird er dann – angeblich wegen der Veröffentlichung der dritten Fassung der „Justine“ – wieder verhaftet und verbleibt bis zu seinem Tod im Jahr 1814 in Haft im Charenton-Gefängnis.
Die dritte Fassung dieses Romans soll substanzielle Unterschiede in ihrer Aussage zu den beiden vorhergehenden Fassungen haben, etwas, was ich noch genauer herausfinden muss. Diese Fassung ist dann 10-bändig, so dass dies etwas dauern kann. Zunächst aber ist Folgendes festzustellen. Anders als man vielleicht heute denkt, ist „Justine“ kein knallharter SM-Roman in dem Sinne, wie es vielleicht viele vermuten würden. Eher ist es wirklich ein Lob des tugendhaften Lebens in einer zunehmend lasterhaften Welt. Im vorrevolutionären und revolutionären Frankreich waren die Gedanken der Menschen und auch die Philosophie vorwiegend durch Gedanken an ein so genanntes Naturgesetz bestimmt. Die Bösewichte in der „Justine“ berufen sich in ihren Selbstrechtfertigungen jeweils darauf, dass sie einem Recht des Stärkeren, das sie aus diesem Naturgesetz ableiten, folgen. Justines Tugendhaftigkeit kommt ihnen dabei sehr widernatürlich vor, da sie dem allgemeinen Trend in der Gesellschaft entgegen läuft.
Justine und Juliette sind die Töchter eines mäßig erfolgreichen Kaufmanns, der plötzlich stirbt und seine beiden Töchter mit einer geringen Summe Geldes in der Welt zurück lässt. Die Ältere der beiden – Juliette – wendet sich an ein Freudenhaus und bekommt dort eine Ausbildung, die es ihr erlaubt, über verschiedene, strategisch geplante Liebschaften und Morde in der Gesellschaft aufzusteigen, bis sie schließlich einen Mann kennen lernt, bei dem sie bleiben möchte und sie genießt ein Leben im Luxus. Auf einer Reise sehen die beiden in einem Gasthof eine junge Frau in Ketten, die von zwei Gendarmen nach Paris überführt werden soll, wo ein Gerichtsurteil wegen Mord, Kindstötung und Brandstiftung gegen sie überprüft werden soll. Fasziniert von dieser jungen Frau, die so offensichtlich unschuldig wirkt, lassen sie sich von ihr ihre Lebensgeschichte erzählen. Die junge Frau nennt sich Sophie um den guten Namen ihrer Familie zu schützen.
Nach dem Tod ihres Vaters ist die junge Frau im Alter von nur 12 Jahren auf die Suche nach einer Anstellung gegangen, wobei sie immer wieder auf Männer traf, die ihr eine Anstellung in Aussicht stellten für den Fall, dass sie ihr in sexueller Hinsicht zur Verfügung stünde. Dies lehnte sie immer wieder ab, bis schließlich ihr Erbe aufgebraucht war und sie schließlich eine Anstellung im Hause eines fürchterlichen Geizhalses namens Du Harpin und seiner Frau erwarb. Hier musste sie für ihren Unterhalt wirklich hart arbeiten, aber das war ihr nur recht. Als ihr Arbeitgeber sie allerdings auffordert, für ihn einen Gegenstand aus der Wohnung eines Mithausbewohners zu stehlen, lehnt sie dies empört ab. Wenig später finden herbeigerufene Gendarmen in ihrem Zimmer einen angeblich gestohlenen Ring. Die junge Frau kommt ins Gefängnis, aus dem sie mit Hilfe einer Diebin und Trickbetrügerin namens Dubois entkommt. Die Spießgesellen der Dubois wollen sich bei einer Feier in ihrem Versteck an der jungen Frau vergehen, doch es gelingt ihr, ihnen zu entgehen.
Wenig später beobachtet sie in einem Gebüsch versteckt das homoerotische Liebesspiel des Marquis de Bressac mit einem Domestiken und als sie entdeckt wird, quälen die beiden jungen Männer die Frau zunächst, bevor der Marquis sie schließlich als Hilfe für seine Mutter in den eigenen Haushalt einführt. Hier fühlt sie sich zunächst ziemlich wohl, bis der auf sein Erbe wartende Marquis beschließt, den Tod seiner Mutter zu beschleunigen, wobei ihm Justine helfen soll. Doch sie verrät ihn, was ihn zwingt schnell zu handeln und seine Mutter selber zu töten, während er Justine auf einem Spaziergang foltert an dessen Ende er sie laufen lässt.
Offiziell gesucht wegen des Mordes an ihrer Arbeitgeberin findet Justine schließlich eine Anstellung im Haus des Arztes Rodin, der später Leibarzt des schwedischen Königs werden soll. Nachdem sie in seinem Keller ein junges Mädchen befreit hat, das für Menschenversuche missbraucht werden sollte, wird sie selber zu Versuchsobjekt und dann mit einem Brandmal, das sie als Diebin kennzeichnet aus dem Haus gejagt.
Nachdem ihre diversen Verwundungen geheilt sind, stößt sie in einem Wald auf ein Rekollektenkloster, in dem sie gerne vor einem Bildnis der Heiligen Jungfrau beten möchte, damit ihr ihre Sünden vergeben werden. Bei einer Beichte vor dem Ordensvorsteher, der ein Bruder des amtierenden Papsts ist, fragt dieser sie im Bezug zu ihren Bindungen in der Welt aus. Danach wird sie von den vier Mönchen des Klosters festgehalten, die hier – in der Einöde – acht Frauen zu ihrer persönlichen Verfügung unterhalten und festhalten. Am ersten Abend in dieser „heiligen“ Stätte verliert Justine in jeder Hinsicht ihre körperliche Unschuld.
Nachdem die Klosterleitung wechselt und die Frauen fortschickt sieht Justine, wie ein Man auf der Straße von zwei anderen Männern zusammen geschlagen wird. Sie versorgt den Verletzten und wird von ihm zum Dank auf sein abgelegenes Schloss gebracht, wo sie wiederum enttäuscht wird, denn der von ihr Gerettete macht sie abermals zur Arbeits- und Lustsklavin. Nachdem sich dieser Mensch mit viel Geld nach Venedig abgesetzt hat, wird das Schloss von den Behörden gestürmt, da hier Falschgeld hergestellt wurde. Justine wird mitangeklagt, aber durch freundliche Fürsprache gerettet. Schließlich trifft sie wieder die Dubois, die sie neuerlich in einen Diebstahl verwickelt und am Ende wird sie nach einem kleineren Glücksfall mit einer anderen Frau nach Grenoble geschickt, wo sie eine Anstellung bekommen soll. Doch in einem Gasthaus bricht ein Feuer aus und bei dem Versuch Justines, das Kind ihrer Begleiterin zu retten, rutscht sie aus und das Kind fällt ins Feuer. Die verzweifelte Mutter klagt Justine der Brandstifterei und des Kindsmordes an und sie wird verurteilt. So kommt sie schließlich vor ihre Zuhörerschaft.
Juliette erkennt ihre Schwester im Verlaufe ihrer Erzählung und mit Hilfe des Einflusses ihres Liebhabers bekommt sie ihre Schwester wieder frei, die dann bei ihnen einzieht. Aber am Ende wird sie doch noch einmal vom Unglück eingeholt und die ältere Schwester geht, dem Vorbild der Jüngeren folgend und zur Buße für ihre eigenen Sünden ins Kloster.
Auf die eigentliche Erzählung folgen drei Notizen aus de Sades Skizzenbuch, die den geplanten Aufbau der Geschichte vorzeichnen. Danach kann man ein Nachwort von Marion Luckow lesen, die sich zunächst auf den sexuellen Aspekt der dritten Fassung bezieht, was für ein Nachwort der ersten Fassung extrem unpassend ist, da in dieser sexuelle Handlungen nur sehr indirekt dargestellt werden. Außerdem wird die Idee des weiblichen Masochismus hier meiner Meinung nach zu weit getrieben, weil anders als in „Die Geschichte der O“ das Opfer niemals auch nur andeutungsweise Vergnügen an der ihr zugefügten Gewalt findet. Sadomasochistische Rituale sind wirklich Rituale, in die beide Beteiligten aus persönlicher Neigung eintreten sollten. Dies ist allerdings bei „Justine“ niemals gegeben. In dieser ersten Fassung des Romans geht es wirklich darum zu zeigen, wie verderbt verschiedene wichtige Zweige der damalige französischen Gesellschaft waren und wie die Vertreter dieser Zweige ihre Handlungen rechtfertigen. Wie ein weiblicher – und etwas intelligenterer Parzival – steht Justine dieser Gesellschaft in ihrer Tugendhaftigkeit gegenüber und ist immer noch das Verhaltensideal, dem es nachzufolgen gilt. In der dritten Fassung soll dies anders sein. Man wird sehen. Als philosophischer Gegenentwurf zu Rousseaus „Emile“, der die Menschen als von Natur aus gut sah ist dieser Roman allerdings durchaus überzeugend, besonders da sich hier die Übeltäter auf jene Natur berufen, die Rousseau bereits im „Emile“, im „Sozialvertrag“ und in seinem „Exkurs über die Ungleichheit“ als Quelle des Guten im „edlen Wilden“ bezeichnet hat.
Ein Verständnis des Menschenbilds in den Zeiten des revolutionären Frankreichs und damit auch erweitert auf die Entwicklung des Menschenbilds in Gesamteuropa kann durch die Lektüre der beiden genannten Autoren und durch die Einbeziehung des Lebensberichts des deutschen Jakobiners Schneider nur gewinnen. Rousseau sollte man auf jeden Fall nicht unkritisch lesen, ohne de Sade daneben wahrzunehmen.