Marquis de Sade
Werke – Die 120 Tage von Sodom, Die Philosophie im Boudoir, Justine – oder die Leiden der Tugend, Juliette – oder die Wonnen des Lasters
Parkland (Hardcover/2003)
ISBN 3-89340-035-4
736 Seiten
Euro: 9,90
Dieser Band beinhaltet die vier bekanntesten Werke des Marquis de Sade in einer neuen Übertragung und ist in den drei letzten Werken gekürzt um ständige Wiederholungen ähnlicher Szenen in den vier Werken zu vermeiden. Eine Besprechung der „Justine“ findet sich allerdings an anderer Stelle auf diesen Seiten.
Die 120 Tage von Sodom
In Anlehnung an Boccaccios „Decamarone“, das versuchte, die verschiedenen Eigenschaften der Menschen in 100 Geschichten zu erklären, hat de Sade in diesem nur fragmentarisch vorliegendem Werk versucht, 600 Laster und Perversionen der Menschen darzustellen. Hierbei werden die Umstände des Vortrags dieser Phänomene in eine pervertierte Szenerie des „Decamarone gestellt, in der vier Wüstlinge das Regiment führen und umgeben von Lustsklavinnen und Lustsklaven sich von vier Frauen mit großer Erfahrung in der Perversion jeweils 150 dieser Perversionen in 120 Tagen berichten zu lassen. De Sade hat dieses Werk im Gefängnis begonnen und ist wohl aus Papiermangel nur bis zum 30. Tag gekommen, aber dies ist meiner Meinung nach mehr als ausreichend.
Die Erzählungen der ersten Erzählerin – Dulcos, eine ehemalige Dirne und Bordellwirtin – sind eingebetet in ständige Orgien und ausgeführte Perversionen, die durch ihre ständige vulgäre Darstellung und Wiederholung irgendwann nur noch ermüdend wirken. Gleiches gilt für die dargestellten Perversionen, die sehr häufig nur als minimal Variationen immer gleicher Themen gesehen werden müssen. Dabei kommen Sitten-, Ethik- und Religionskritik sehr zum tragen. Allerdings muss man sich fragen, ob die beständig negativ dargestellten Hauptakteure dieser Erzählung, in ihren philosophischen Betrachtungen nicht eher als negative Spiegel gesehen werden müssen, die in ihrer ständigen Anrufung eines „Naturgesetzes“ gerade zeigen, wie sehr das in diesem Werk dargestellte negativ zu sehen ist. Die häufige Darstellung von lüsternen Geistlichen und hohen Mitgliedern der Gesellschaft kann durchaus auch als eine Kritik an bestehenden Zuständen gesehen werden und die Menschenverachtung, die dabei teilweise vorkommt, erinnert auch an Voltaire, dessen Negativhelden ja auch einen mahnenden und warnenden Charakter hatten.
Dass de Sade in diesem Werk erstmals – wie der Herausgeber feststellt – eine Systematik der sexuellen Perversion zusammenstellt, ist sicherlich ein weiterer wichtiger Moment dieses Werks und wenn man sich wirklich der Mühe unterwirft, es mit kritischem Auge zu lesen, dann tritt, bei allem Ekel und Entsetzen doch sehr bald eine beobachtende und bewertende Distanz ein, die es dem Leser und der Leserin ermöglicht, die verwirrten Philosophien der Hauptakteure ständig in Frage zu stellen. Ich würde allerdings für dieses Werk wirklich eine Altersbegrenzung festlegen, da es bei nicht gefestigten Charakteren sicherlich zu einiger moralischer und geistiger Verwirrung führen kann. Zur reinen Unterhaltung ist dieses Werk sicherlich nicht geeignet.
Interessant ist hierbei aus historischer Hinsicht noch, dass Louis XV wohl auf Staatskosten die Bordelle von Paris auskundschaften ließ um sich in seinen eigenen vier Wänden an Erzählungen der dort stattgefundenen Perversionen zu ergötzen
Die Philosophie im Boudoir
Die Madame Saint-Ange (hier ist ein wirklich ironischer sprechender Name) und der Libertin Dolmancé sehen ihr größtes Vergnügen im Verderben der Unschuld und so sind sie begeistert, als ihnen zur Unterrichtung die naive Eugenie zugeführt wird, die sie mit in das Boudoir der Madame holen um sie hier über die Natur des Menschen, über die körperlichen Funktionen der Lust und über die Religion zu instruieren. Dabei ist besonders die Religionskritik besonders prägnant und in vielerlei Hinsicht erschreckend nachvollziehbar. Man muss schon sehr genau zwischen den Zeilen lesen um hier die logischen Lücken aufzusplitten.
Gehalten ist dieser Text in der Form mehrerer dramatischer Dialoge, die aufeinander aufbauen und damit sicherlich für eine Aufführung geeignet wären, wenn man ein Haus findet, das sich nicht scheut, sexuelle Handlungen auf der Bühne zu zeigen. Allerdings gefällt die Figur der Eugenie nicht wirklich, da sie – allzu naiv – zu schnell bereit ist, die philosophischen Überlegungen ihrer „Lehrer“ zu übernehmen, ohne diese wirklich kritisch zu hinterfragen. So ist dieser Text –ohne jede wirkliche Kunstfertigkeit – in erster Linie eine in sexuelle Handlungen verpackte, ziemlich langweilige Abhandlung über die bereits in „120 Tage von Sodom“ und „Justine“ gemachten Überlegungen zur Moral, Ethik und Religion.
Dies betrifft allerdings nur den ersten Abschnitt der „Philosophie“. Im zweiten Abschnitt, der tatsächlich in der form einer Abhandlung geschrieben ist, redet de Sade selbst und er redet wirklich als Philosoph seiner Zeit. Er stellt dabei fest, dass die Lasterhaftigkeit seiner Zeit in vielerlei Hinsicht ein Ausfluss der Religion sein, wie sie in Europa geübt wird und das diese Religion maßgeblich die gerade beseitigte Monarchie gestützt habe und auch alle verbleibenden Monarchien in Europa stütze. Dabei greift er nicht nur das Christentum, sondern alle monotheistischen Religionen an und stellt die Theorie auf, dass die Menschen ohne Religion aus eigenen Antrieb tugendhaft handeln werden. Dabei sind die zuvor im Dialog und in den „120 Tagen“ angegriffenen Tugenden Wohltätigkeit, Menschlichkeit und Brüderlichkeit besonders positiv hervorgehoben, genau wie der Patriotismus. Auch lehnt er die Todesstrafe in jedem Fall ab und nennt sie seinem Wesen widersprechend. Moralische Verbrechen wie Prostitution, Inzest, Ehebruch, Vergewaltigung und Sodomie beschreibt er als die logische Konsequenz der Handlung von Menschen, die unter einer unmoralischen Regierung, die zu ihrem Erhalt auch Kriege führt durch Gesetze zu moralischem Handeln gezwungen werden sollen. Gerade diese Exzesse haben dann das Fortschreiten der Revolution in Frankreich begründet. Er selber möchte diese Erscheinung gerne innerhalb der neuen republikanischen Gesellschaft „normalisieren“.
Für die natürliche und sichere Ausübung verschiedener Spielarten der Sexualität fordert er öffentlich kontrollierte Bordelle. Hierin kann man in der Beschreibung einige Anlehnung an andere Schriften de Sades sehen, wobei er diese Häuser als Ventil staatsschädlicher Leidenschaften sieht, eine Idee, die nicht ganz neu war, da sie schon im Mittelalter in einigen Städten mit ähnlicher Begründung umgesetzt wurde. Tatsächlich sieht de Sade in der Unterdrückung sexueller Wünsche eine schreckliche Triebkraft für Verbrechen und Umsturz, der man nur entgegenwirken kann, wenn man ihr ein Ventil gibt. Hier zeigen sich bestimmte Grundlagen von Freuds Theorie des Unbewussten und der Spannung zwischen Ich, Es und Über-Ich, die heute vielen Menschen als selbstverständlich erscheinen. Darum sieht de Sade in der Anerkennung des Berufs der Prostituierten – die auch heute in vielen europäischen Ländern wieder in der Diskussion ist – wie auch in der Anerkennung der Homosexualität eine wichtige Grundlage für das Funktionieren des jungen republikanischen Staatssystems in Frankreich.
Des Weiteren spricht sich de Sade in diesen Seiten für eine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung der Frau aus, denn „eine Frau ausschließlich zu besitzen, ist ebenso ungerecht wie der Besitz von Sklaven“. Auch hier zeigt sich ein klarer Bruch zu seinen anderen Schriften außer vielleicht zu der „Justine“. Hierbei sieht er die Ehe – in der damaligen Zeit sicherlich mit Recht – als eine ungerechte Form der Besitznahme der Frau durch den Mann. Das er dabei aber gleichzeitig die Vergewaltigung der Frau für statthaft hält, ist sicherlich hier ein Zeichen dafür, dass de Sade trotz seiner anderen Gedanken zu diesem Thema ein nicht übertrieben hohes Bild von der rechtlichen Autonomie der Frau hat. Frauen sind für ihn kollektiver Besitz aller Männer und nicht nur eines Einzelnen. Interessanterweise gesteht er allerdings Frauen in abgeschwächter Form die gleichen Rechte zu und vielleicht kann man die Radikalität – ja, Brutalität – seiner Ideen zu diesem Thema aus der Ungeduld mit der verlogenen Sexualmoral seiner Zeit erklären. Interessanterweise gesteht er den Frauen auch eigene staatlich betreute Bordelle für ihre eigenen Vergnügungen zu.
In Reaktion darauf will er nun die Kinder zu ihrer Erziehung von ihren Familien lösen und sie ganz durch den Staat erziehen lassen, eine Idee, die bereits in Morus „Utopia“ angedacht wurde und zwar aus den gleichen Motiven wie bei de Sade. Wohin dies im Extremfall führen könnte sehen wir dann zum Beispiel in Lowrys „The Giver“.
Bei allen Fällen – genau wie bei der Sodomie – beruft er sich ständig auf die Sitten anderer Völker und auch, gerade bei der Sodomie, auf die antiken Gepflogenheiten, speziell in Griechenland.
Den Mord schließlich sieht er als ein persönliches Unrecht eines Menschen gegen den anderen. Hier stellt er Menschen und Tiere zunächst als gleichwertig da und stellt fest, dass aus jedem Toten immer neues Leben erwächst, womit der Tod jeweils nur eine Veränderung der Form des Lebens darstellt. (Eine Art biologisches Masseerhaltungsgesetz) Der Natur ist dies nach de Sade gleich. Hierbei kommt sein interessantester Zirkelschluss zu tragen, dem viele Gelehrte seiner Zeit anhingen. Wie einen Gott, den de Sade bestreitet, wird nun hier die Natur personifiziert und mit einem gesetzgebenden Willen versehen, so dass de Sade – wie viele seiner Zeitgenossen nach der Preisung des Atheismus wieder in ein Gottesdenken fallen, nur dass sie einen barmherzig gedachten Gott durch eine unbarmherzige Natur ersetzen, eine Idee, die in der Folge der Revolution vielen Menschen den Kopf gekostet hat. Tatsächlich sieht er den Mord als Motor der menschlichen Geschichte, eine Auffassung, die sicherlich nachvollziehbar ist und er sieht ihn in seiner eigenen Zeit sogar als eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit an. Auch hierbei beruft er sich auf fremdländische und historische Vorbilder, wobei er aber bei ersteren seine Quellen nicht genügend geprüft hat – was in seiner Zeit auch nicht ganz leicht gewesen wäre – und sich Letztere sehr stark seiner eigenen Argumentation zurecht biegt. Dabei stellt er auch zum Beispiel die Vaterlandsliebe über die Liebe zu den eigenen Kindern, was in der Tat nichts Neues ist in der Form, in der er es beschreibt und wie es später auch noch im 20. Jahrhundert in vielen Ländern zu verschiedenen Zeiten gesehn wurde (3. Reich, stalinistisches Russland, VR China und andere). In diesem Zusammenhang spricht er sich dann auch für die Euthanasie auf, wobei er sich wiederum auf antike Vorbilder beruft. Auch Gedanken an eine Eugenik kommen hier zum Tragen.
Die Frage, die sich hier wieder stellen lässt ist: Glaubt de Sade wirklich, dass seine hier niedergelegten Ideen der Republik und schließlich der ganzen Menschheit nützen werden oder versucht er hier die Revolution, die sich Einheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat und diese Prinzipien durchgängig mit der Entschuldigung der Notwendigkeit oder des Naturrechts eins um das andere verletzt haben zu karikieren, indem er hier in diesem Text den gleichen Weg geht? Dies ist die eigentliche Frage, die man sich bei der Lektüre von de Sade an jeder Stelle stellen muss. Die Geschichte der französischen Revolution – genau wie die der ihr folgenden Revolutionen in späteren Jahrhunderten – zeichnen dieses Bild ziemlich genau nach. Es scheint, dass de Sade die Revolution besser in allen ihren Konsequenzen verstanden hat, als die meisten ihrer Anhänger. Doch wie er sie letztendlich bewertet sehen möchte, lässt sich hier nicht klar sagen. Offensichtlich ist allerdings, dass er den Menschen bestimmt nicht – wie Rousseau – als einen edlen Wilden sieht.
Justine – oder die Leiden der Tugend
Dies ist eine etwas andere Ausgabe der „Justine“, als sie in diesen Seiten bereits besprochen wurde. Diese neuere Ausgabe verzichtet weitestgehend auf die Erwähnung von Justines Schwester Juliette, deren Leben in einer eigenen Erzählung bruchstückhaft und sehr verkürzt dargestellt wird.
Diese Ausgabe ist wesentlich schwärzer und graphischer als die erste Fassung der „Justine“ und zwar in einer Art und Weise, dass es wirklich nur noch ermüdend wird. Menschen, die sich ständig an der Qual anderer Menschen erfreuen und ihre eigenen Vorlieben auch noch die ganze Zeit über hochgeistig zu begründen suchen, wobei sich ihre Argumente ewig wiederholen, sind einfach nur noch lächerlich und banal in dem, was sie als Weisheit zu verkaufen suchen. Ich habe immer noch Probleme de Sade als hundertprozentigen Freund solcher Handlungen zu sehen – und vor allen Dingen solcher Einstellungen – da er sie gerade durch die langwierige und anödende Ausführung ad absurdum zu führen scheint und die tugendhafte Justine immer bei ihrer Haltung bleibt, auch wenn ihr noch so unglückliche Dinge widerfahren. Und sie in dieser Ausgabe viel mehr zu erleiden hat, als in der vorhergehenden.
Juliette – oder die Wonnen des Lasters
Die oben erwähnte Ausgabe der „Justine“ geht direkt in die Beschreibung des Lebens der Juliette über, das in dieser Ausgabe nur zusammenfassend dargestellt ist durch eine Einleitung des Herausgebers und nah der Lektüre der vorhergehenden Texte wirklich nichts Neues bietet. In keinster Hinsicht.
Diese Zusammenfassung wird gefolgt von einer „Aufzählung verschiedener Sitten“, die man aber in ähnlicher Form bereits in der „Philosophie“ erleiden konnte. Alles – oft auch Unwahres – wird zur Rechtfertigung lasterhaften und zerstörerischen Verhaltens herangezogen. Diese Sitten werden Juliette durch Noirceul berichtet, die aus den „Lehren“ dieses Vortrages sofort für sich den besten Nutzen schafft. Danach erlebt und begeht sie – zunächst als Prostituierte, später „freischaffend“ – jede nur erdenkliche Perversion und Grausamkeit und ergötzt sich endlos am Verbrechen, während sie durch die Welt reist, in Rom einigen zigtausend Menschen das Leben kostet und Borchamps, einer ihrer Bekannten, sich in St. Petersburg mit Katharina der II. verschiedenen Quälereien hingibt. Diese Auszüge aus ihrem Lebensbericht sind in der ersten Person dargestellt, was sie in ihrer Art noch abgeschmackter und mit der Zeit immer uninteressanter macht.
Von hier geht es nach Sibirien, nach Tiflis, nach Griechenland, wo sie sich mit einigen ihrer Spießgesellen nachgerade gotteslästerlichen Orgien hingibt, die ebenfalls etliche Menschenleben kosten. Dabei werden ständige hochnotpeinliche Statistiken der Verderbtheit aufgestellt. Schließlich kehrt sie nach Paris zurück, wo sie sich noch über das Verderben einer jungen Klosterschülerin auslässt.
Dieser Leser und Rezensent verlor gegen Ende wirklich die Lust am gründlichen Lesen all dieser im ermüdenden Detail beschriebenen Scheußlichkeiten und an dieser auf ständigen Zirkelschlüssen beruhenden Rechtfertigungen derselben. Was auch immer de Sade zwischen dem Schreiben der ersten Fassung der „Justine“ und diesen Werken erlebt haben mag, es hat seine Sicht der Welt und der Menschen nachhaltig getrübt. Und wohl auch seinen Geist.