Reginald Hill - Die Joe-Sixsmith-Reihe

  • Joe Sixsmith ist nicht zum Helden geboren - und auch nicht zum Privatdetektiv, aber nachdem der gelernte Dreher ein Opfer von Thatchers Wirtschaftspolitik wird, entscheidet er sich, entgegen dem guten Rat seiner Tante Mirabelle, mit seiner Abfindung eine Detektei zu eröffnen. Die ersten drei Monate sind nicht vielversprechend für "Lutons Antwort auf Shaft". In der langweiligsten Stadt Englands gibt es nicht viele Aufträge für den nicht mehr ganz taufrischen, untersetzten Joe, der sich vor allem durch zwei Dinge auszeichnet: Er ist viel zu gutmütig und viel zu schwarz.


    Sein allererster Auftrag ist eine Beschattung im Rahmen eines Scheidungsfalles, doch Joe scheitert kläglich, als die Polizei ihn wegen Herumlungerns und verdächtigen Verhaltens vor Lutons teuerstem Restaurant aufgreift, weil es ihm sowohl sein Geldbeutel als auch seine Hautfarbe unmöglich machen, seinem Beschattungsobjekt in den exklusiven Speisentempel zu folgen. Sein zweiter Auftrag ist anfangs kaum mehr erfolgversprechend: Joe wird von einer gewissen Mrs. Ellison engagiert, um ihren verschwundenen Kater "Darkie" zu finden. Doch das Blatt wendet sich, als er in einem verborgenen Grab im Garten nicht den vermißten Kater, sondern das ehemalige Au-Pair-Mädchen der Ellisons findet. ["Bring Back the Cat!", in Patricia Craig (Hrsg.): The Oxford Book of English Detective Stories, 1990]


    Dieser unerwartete Erfolg bringt Joe nicht nur die dringend benötigten Klienten für seine Detektei ein, sondern auch seinen neuen Sozius und Lebensgefährten: Whitey, ehemals "Darkie". Whitey begleitet Joe auf allen beruflichen wie privaten Wegen und mit Vorliebe ins "Glitt", ihren ganz im Zeichen von Gary Glitter stehenden Stammpub, wo Whitey und Joe sich gemeinsam an Guinness, Chips oder einem undefinierbaren "Glitter-Burger" laben (wobei Joe immer ein strenges Auge auf Whitey halten muß, denn der Vierbeiner neigt dazu, sich schamlos zu betrinken). Joes Leben geht seinen trägen Gang, und er könnte eigentlich ganz zufrieden sein, wenn da nicht seine Tante Mirabelle wäre, die ihn beständig drängt, einen anständigen Beruf und eine anständige Frau zum Heiraten zu finden. Zu letzterem Zwecke stellt sie ihm immer wieder neue Kandidatinnen vor, die leider alle eins gemeinsam haben: Sie haben irgendeinen kleinen "Fehler", der bedingt, daß sie nichts besseres als einen arbeitslosen Dreher und hoffnungslosen Privatdetektiv finden können. Ihr jüngster Versuch ist Beryl, Krankenschwester und alleinerziehende Mutter, die mit Joe und Mirabelle im Chor singt - und ganz gegen seinen Willen findet auch Joe nach und nach Gefallen an Beryls Charm, Humor und Bodenständigkeit.


    In Blood Sympathy (1993) sind es gerade Joes Gutmütigkeit und seine ethnische Abstammung, die ihm seine Klienten einbringen: Sowohl Stephen Andover als auch Gwen Baker sind der Überzeugung, daß ein Mann mit einer genetischen Verbindung zu den westindischen Inseln auch zwangsläufig eine genetische Verbindung zu Voodoo und übernatürlichen Mächten haben müsse. Stephen Andover wird von Alpträumen geplagt, in denen er seine gesamte Familie ermordet sieht. Gwen Baker, eine bekennende Hexe, engagiert Joe, um ein Amulett von ihrer ebenfalls in den Hexenkünsten versierten Rivalin um die Gunst ihres Gatten zu stehlen. Und dann bringt auch noch Merv, ehemaliger Arbeitskollege von Joe und nunmehr Taxifahrer, eine verstörte Frau zu Joe, deren Mann gerade auf dem Flughafen wegen Drogenschmuggels festgenommen wurde. Als zwei Schläger von Joe die geschmuggelten Drogen zurückverlangen, Gwens Rivalin siechend im Krankenhaus endet und Andovers Familie ermordet aufgefunden wird, braucht Joe wirklich all sein bescheidenes Können und Talent und vor allem eine ganze Menge von den glücklichen Zufällen, die ihm beim Aufklären seiner Fälle eine unverzichtbare Hilfe sind.

  • Die Dinge haben sich gerade wieder beruhigt, und Joe hofft, sich ganz auf die Chorproben für die geplante festliche Aufführung von Haydns "Schöpfung" konzentrieren zu können. Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt (Born Guilty, 1995). Um nach der Probe Tante Mirabelles Rügen bezüglich seines Liebeslebens zu entgehen, tritt Joe die Flucht über den Kirchhof des Doms an - und stolpert wortwörtlich über eine Leiche. Für die Polizei ist es ein klarer Fall von Überdosis, doch Joe kann die Sache nicht so leicht vergessen. Und er erhält sogar ganz offiziell den Auftrag zum Nachforschen, denn auch die einschüchternde Mrs. C - eine zufällige zweite Zeugin des Leichenfundes - möchte gern mehr über den namenlosen toten Jungen wissen. Doch das ist nicht der einzige Fall, der Joe Sixsmith beschäftigt: Da ist natürlich auch noch Gallie, die Tante Mirabelle und auch Beryl und alle sonstigen Bekannten fälschlicherweise für Joes minderjährige Geliebte halten. Doch Gallie will von Joe nur eins, nämlich daß er herausfindet, welches dunkle Geheimnis ihr Großvater verbirgt. Und auch Butcher, eine mit Joe befreundete Anwältin, hat einen Auftrag für ihn: Joe soll herausfinden, was an den Anschuldigungen wegen sexuellen Mißbrauchs gegen eine Schulleiterin dran ist - und besagte Schulleiterin ist zufällig die Frau des Leiters der Kriminalpolizei, der einer der wenigen (wenngleich widerstrebenden) Freunde ist, die Joe bei der Polizei hat. All diese Fälle zu jonglieren, ist kein leichtes Unterfangen für Joe Sixsmith, aber wie so oft kommt ihm auch diesmal der ein oder andere glückliche Zufall zur Hilfe.

  • Joe gelingt es zwar, dem toten Jungen vom Kirchhof einen Namen zu geben, doch der Preis dafür ist hoch, denn Joes geliebter Morris geht dabei zu Schrott. Als die Versicherung für Joes "Oldtimer" nur den Gegenwert einer alten Klapperkiste zahlen will, wendet sich Joe vertrauensvoll an Butcher, die Anwältin, die ihn wiederum an die Kanzlei "Pol-Pott" (Pollinger & Potter) verweist. Doch Joes Beziehungen zu Pol-Pott stehen unter einem schlechten Stern: Erst wird er von Iles, dem einzigen weiblichen Sozius der Kanzlei, für einen Eindringling gehalten und körperlich angegriffen, und dann muß er sich von Potter verbal zurechtstutzen lassen. Aber vielleicht hätte Joe sich doch zurückhalten sollen, in Berufung auf Shakespeare allen Anwälten den Tod zu wünschen, denn alsbald wird Potter ermordet aufgefunden - und Joe ist der Hauptverdächtige! Mit Butchers Hilfe kann er sich zumindest lange genug von dem Verdacht reinwaschen, um sich von der Sportlerin "Zak" Oto engagieren zu lassen, die von Unbekannten dazu erpreßt wird, ihr nächstes Rennen zu verlieren. Und dann ist da noch die merkwürdige Sache, daß jemand es offenkundig auf Joes Leben abgesehen hat ... (Killing the Lawyers, 1997)

  • Das neue Jahr hatte mit den mörderischen Geschehnissen bei Pol-Pott und den Sorgen um Zaks Sportlerkarriere zwar einen etwas fragwürdigen Start, aber Joe kann sich nicht beschweren: Er hat zwar immer noch keinen Ersatz für seinen Morris, doch dafür entwickeln sich die Dinge zwischen ihm und Beryl recht vielversprechend. Und so ist er allerbester Stimmung, als er sich mit seinem Chor (einschließlich Tante Mirabelle und sogar Merv als Fahrer des Reisebusses) auf die Fahrt nach Wales macht, um dort an einem neu gegründeten Chor-Wettbewerb teilzunehmen ( Singing the Sadness, 1999). Doch auf der verirrten Suche nach ihrem Zielort kommt der Reisebus unvermittelt zu einem lichterloh brennenden Cottage - und zu aller Entsetzen ist jemand in dem Haus von den Flammen eingeschlossen. Joe, sonst kein Mann schneller Entschlüsse, stürzt sich in das Inferno und rettet eine junge Frau. Er wird von allen als Held gefeiert, aber niemand weiß, wen er da eigentlich gerettet hat, denn niemand kennt die Frau, die noch immer in einem Koma liegt, und niemand wußte, daß sie sich in dem Haus befand. Ist sie nur das zufällige und unglückliche Opfer von walisischen Separatisten, die das Cottage von englischen "Feinden" niedergebrannt haben? Ist sie die Geliebte des Besitzers des Cottages, wie dessen Frau vermutet? Oder hat sie etwas mit den Drogen zu tun, die Joe zufällig im Haus des Leiters des Chor-Wettbewerbs entdeckt hat?


    Reginald Hill hat Joe Sixsmith ursprünglich in den Siebzigerjahren als Idee für ein TV-Drehbuch entwickelt. Aber (wie er selbst sagt) die BBC war noch nicht reif für Joe Sixsmith. Und so wurde daraus die Kurzgeschichte "Bring Back the Cat!", und schließlich folgte, auf Drängen von Hills amerikanischer Lektorin, der erste Roman - und dann drei weitere. Die Meinungen zu der Reihe gehen auseinander: Einigen sind die Bücher zu "sanft", gerade im Vergleich zu Dalziel und Pascoe. Doch andere, ich selbst eingeschlossen, mögen die Ironie und den subtilen Humor der Krimis. Und all jene, die sich über die derbe Ausdrucksweise des "Dicken" echauffieren, dürfte freuen, daß Joe wohlerzogen ist und keine Schimpfworte benutzt, denn dafür hat Tante Mirabelle gesorgt, die ihm bei solchen Gelegenheiten den Mund früher mit Seife ausgewaschen hat. Joe Sixsmith ist in jeder Hinsicht Welten von Dalziel und Pascoe entfernt, und es ist ein Beweis von Hills Können, daß er beide Welten völlig überzeugend darstellt. Ebenso wie die Tatsache, daß (wie ein Rezensent bemerkt) hier ein weißer Autor über eine schwarze Hauptfigur schreibt und diese Hauptfigur obendrauf noch in einer Stadt leben läßt, die er nie gesehen hat! Doch (wie besagter Rezensent ausführt) was bei anderen in einem Desaster hätte enden können, gelingt Hill. Das fiktive Luton, das Hill beschreibt, ist echter als das reale Luton - denn es entspricht haargenau den Vorstellungen über diese vielleicht meistgeschmähte Stadt Englands. Und die gelegentlichen "Auszüge" aus dem Lost Traveller's Guide (dem Reiseführer für Orte, die niemand je besucht) sind wirklich ein Genuß. Doch das ist nur schmückendes Beiwerk. Denn der eigentliche Lesespaß entsteht aus den Figuren, die Hill erschafft, allen voran natürlich Joe Sixsmith selbst.


    Joe ist ein hoffnungsloser Fall: gutmütig, warmherzig, nicht sonderlich helle, ohne jeglichen Ehrgeiz. Doch anscheinend mit einer guten Fee. Denn wo andere Ermittler mit ihrem scharfen Verstand zum Ziel gelangen, sind es bei Joe die glücklichen Fügungen, die ihn auf Spuren und oftmals auch auf die Lösung stoßen lassen - wobei es gelegentlich auch schon mal die völlig falsche Lösung ist, die dann aber nichtsdestotrotz den wahren Täter entlarvt. Sein "Hobby" sagt eigentlich schon alles über ihn aus: In der Hoffnung, potentiellen Klienten mit seiner Verstandeskraft zu imponieren, löst Joe jeden Tag das berüchtigte Kreuzworträtsel in der Times. Nur daß er natürlich nicht die geringste Chance hat, auch nur eine richtige Lösung zu finden. Also denkt er sich die Lösungen selbst aus, füllt sie ein, und denkt sich dann die dazugehörigen Hinweise aus ... und selbst dabei gelingt es ihm in allen 4 Romanen nur ein einziges Mal, ein Rätsel vollständig zu lösen. Eine solche Figur muß man einfach lieben! Genau wie Whitey, sein unverzichtbarer vierbeiniger Weggefährte, der Joes Monologen lauscht, ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt oder auch schon mal auf die richtige Spur schubst, der indische Currys und Knabberzeug und Guinness liebt und sich hoffnungslos betrinkt und dann im Pub zum Affen macht, wenn man nicht aufpaßt.


    Die Bücher sind sicher nicht so stark wie Hills Dalziel/Pascoe-Reihe. Die Fälle sind nicht so sauber ausgearbeitet, die Lösungen sind gelegentlich zu glatt, der Ton ist bedeutend leichtherziger. Doch gerade dieser leichtherzige Ton täuscht, denn die Themen, die Hill in seinen Sixsmith-Krimis behandelt, unterscheiden sich kaum von den wesentlich düstereren Motiven bei Dalziel und Pascoe (oder auch in Hills anderen Büchern). Erpressung, Unterschlagung, Mord, Kriegsverbrechen, Pädophilie, Drogen: Das alles ist vorhanden, und es wird nie beschönigt. Und noch etwas ist allgegenwärtig: der Rassismus. Joe mag eine abgeklärte Haltung dazu haben und oft recht süffisant darüber herziehen, aber es ist und bleibt seine alltägliche Realität, und der Leser gewinnt einen interessanten Einblick, wie es z.B. ist, in einem Restaurant alle Blicke auf sich zu ziehen und dennoch fünf Minuten lang nach der Bedienung winken zu müssen, um etwas bestellen zu können.


    Ich kann die Joe-Sixsmith-Reihe wirklich nur empfehlen. Besonders allen Lesern, für die der Erzählstil eines Krimis ebenso wichtig oder sogar wichtiger als der bloße Fall ist. Und natürlich allen wahren Freunden des britischen Humors. :thumright:


    Einen ganz großen Nachteil hat die Reihe allerdings (und ich entschuldige mich bei allen, deren Interesse ich geweckt habe und die ich jetzt leider enttäuschen muß :wink: ): Die Bücher sind nur im englischen Original erhältlich. Obwohl die Bücher prinzipiell zeitlos sind - von der zum Zeitpunkt des Erscheinens noch harmlosen Verehrung für den inzwischen wegen Pädophilie verurteilten Gary Glitter einmmal abgesehen -, ist es nicht sicher, ob sie je in deutscher Übersetzung erscheinen werden. :( Aber wir haben hier im Forum ja durchaus einige, die sich bei Gelegenheit an fremdsprachige Bücher herantrauen ...


    Gruß
    Ute

  • Zitat

    Original von Ute
    Ich kann die Joe-Sixsmith-Reihe wirklich nur empfehlen. Besonders allen Lesern, für die der Erzählstil eines Krimis ebenso wichtig oder sogar wichtiger als der bloße Fall ist. Und natürlich allen wahren Freunden des britischen Humors. :thumright:
    Einen ganz großen Nachteil hat die Reihe allerdings (und ich entschuldige mich bei allen, deren Interesse ich geweckt habe und die ich jetzt leider enttäuschen muß :wink: ): Die Bücher sind nur im englischen Original erhältlich.


    Hallo Ute
    Schade, diese Reihe wäre etwas für mich gewesen, somit gehöre ich zu den "Enttäuschten", deren Interesse bereits geweckt war! :(
    Gruss Bonprix :wink:

  • Ich entschuldige mich vielmals, Bonprix! :uups:


    Aber es besteht ja immer die Hoffnung, daß irgendein wohlmeinender Lektor über den Profit-Schatten seines Verlags springt und diese Bücher doch noch übersetzen läßt (man muß nur fest daran glauben :wink: )


    Gruß
    Ute