Janine Adomeit - Die erste halbe Stunde im Paradies

Cover zum Buch Die erste halbe Stunde im Paradies

Titel: Die erste halbe Stunde im Paradies

4,5 von 5 Sternen bei 3 Bewertungen

Verlag: Arche Literatur Verlag AG

Format: Gebundene Ausgabe

Seitenzahl: 272

ISBN: 9783716000113

Termin: Neuerscheinung Februar 2025

Aktion

  • Kurzmeinung

    Maesli
    Ein Familienleben geprägt von einer Mutter mit schwerer Erkrankung, die ihre Kinder an ihre Belastungsgrenze zwingt.
  • Cover zum Buch Vom Versuch, einen silbernen Aal zu f...
  • Ein tolles Werk mit viel Tiefe und Sensibilität zu einem unterrepräsentierten Thema

    „Aber die erste halbe Stunde im Paradies - die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und man selbst auch von niemandem etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.“ ❤️‍🩹

    Ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass das Buch so ein Highlight wird. Aber Janine Adomeit hat hier mit sehr klarer, unaufgeregter Sprache ein Werk geschaffen, das ich nicht aus der Hand legen wollte.

    Familienromane reizen mich immer besonders und hier haben wir ein herausragendes Exemplar, in dem die Figuren mit ganz viel Tiefe und innerer Ambivalenz überzeugen. Anne ist Pharmavertreterin und möchte sich im nächsten Schritt auf ein Fentanyl-Pflaster für den Palliativbereich fokussieren. Sie ist zielstrebig, analytisch und menschlich eher reserviert. Warum das so ist, wird in sich abwechselnden Zeitebenen geschickt erzählt.

    Wir erfahren nämlich von ihrer Vergangenheit als 11-Jährige, in der sie sich gemeinsam mit ihrem gerade erwachsenen Bruder Kai um deren chronisch kranke Mutter kümmern muss. Diese leidet an einer nicht klar benannten, aber sehr klar identifizierbaren degenerativen Erkrankung und kann sich nicht so recht überwinden, Hilfe von außen anzunehmen. Ich finde es bemerkenswert, wie die Autorin hier mit viel Feingefühl die Ambivalenzen dieser Situation herausgearbeitet hat. Denn die kleine Familie bildet eine herzerwärmende, loyale Einheit, die trotzdem nach und nach an ihre Grenzen gerät. Dank des nüchternen, klaren Schreibstils werden die Emotionen auf die Lesenden ausgelagert.

    Und Emotionen hatte ich so einige! Ich war wütend auf die Mutter, weil sie ihren Kindern regelrecht trotzig einfach ihre Pflege aufbürdet. Aber ich habe auch zutiefst mitgefühlt mit ihrem Bedürfnis nach Normalität, habe ihre Scham regelrecht greifen können. Auch die Gleichzeitigkeit von Gefühlen bei den beiden Kindern spielt immer wieder eine Rolle - bedingungslose Liebe zueinander trifft hier auf Wut angesichts eigener Freiheitseinschränkungen. Die geteilte Vergangenheit führt schlussendlich dazu, dass Anne Kai nach jahrelangem Kontaktabbruch aus einer Entzugsklinik abholen soll, was in seiner Folge ein echtes moralisches Dilemma auslöst. Denn die Sucht ihres Bruders ist nicht loszulösen von ihrem nächsten Karriereschritt…

    Ein absolutes Highlight aus Norddeutschland, das mich mit seiner Sprache und dem Spannungsaufbau durchweg mitgezogen hat. Das Thema der Medikamentenabhängigkeit, das übrigens ca. 3,5 % der deutschen Erwachsenen betrifft, wurde hier mit der nötigen Sensibilität behandelt. Auch der Themenkomplex rund um die Pflege von Angehörigen und wie Familien darunter zerbrechen können, hat hier auf eindringliche Art Raum gefunden. Die Figuren sind liebenswert, greifbar und authentisch, die immer wieder eingebundenen Science-Facts, wie bspw. zur Schmerzregulierung und Wirkung von Analgetika, fand ich einfach klasse. Die Ausführungen zu Annes moralischem Dilemma hätte ich mir zum Schluss zwar noch etwas ausführlicher gewünscht, grundsätzlich finde ich das offene Ende aber gut gewählt.

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  • Als Kinder waren sich Anne und ihr älterer Halbruder Kai sehr nah verbunden und führten mit ihrer alleinerziehenden Mutter, ein von Musik und Gesang fröhliches und erfülltes Familienleben bis zu dem Tag, als alles schließlich an der Krankheit, zerbricht.

    Wie konnte die chronisch kranke Mutter, sich nur auf die Hilfe ihrer beiden Kinder, verlassen? Auch wundert es mich, wie sie vor Ärzten und Behörden, ihre Hilflosigkeit verheimlichen konnte! Kai, scheint ein ausgesprochen zartfühliger und vernunftiger Junge zu sein, der sich gemeinsam mit seiner Schwester um die Mutter kümmert. Beide sind viel zu jung und die Mutter uneinsichtig, denn sie nimmt weiterhin keine fremde Hilfe an bzw., kümmert sie sich nicht darum, welche zu erhalten.

    Besonders Anne trifft die Soziale Ausgrenzung ihrer Mitschüler sehr hart. Sie findet keine Freundinnen und eine traut sich ihr zu sagen, dass sie stinkt und ungepflegt herumläuft, weshalb keine einen Kontakt zu ihr haben möchte. Schon traurig, denn keiner hat Annes Leid wahrgenommen …

    Dann kommt wie es kommt, Kai möchte raus in die Welt und was erleben und lässt seine Mutter und seine Schwester Anne, im Stich. Anne trifft dies mit einer gewaltigen Wucht, denn jetzt ist sie die einzige, die ihre Mutter pflegen muss.

    Was hat diese Mutter ihren Kindern nur angetan?

    Mittlerweile ist Anne Anfang dreißig und Pharmavertreterin und hat das Ziel, in den Innendienst zu wechseln. Sie will umsteigen, von Beruhigungsmitteln auf das hochwirksame, aber umstrittene Schmerzmittel Fentanyl. Anne lebt sehr zurückgezogen alleine und verhält sich Menschen gegenüber sehr reserviert. Sie scheint in ihrer Welt gefangen zu sein.

    Nach Jahren meldet sich auf einmal Kai und bittet Anne, ihn aus einer Entzugsklinik abzuholen. Zwischen den beiden ungleichen Geschwistern kommen nach jahrelangem Schweigen Dinge zur Sprache, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Annes Traum, den Schmerz zu besiegen, in ein völlig neues Licht rücken.

    Kann Anne endlich verzeihen – ihrem Bruder und sich selbst?

    Die Autorin Janine Adomeit erzählt in ihrem neuen Roman „Die erste halbe Stunde im Paradies“, eine Geschichte auf zwei Zeitebenen über familiären Zusammenhalt und zeichnet das Leben der beiden Geschwister Anne und Kai, die in ihrer Kindheit viel Verantwortung übernehmen mussten. Der nüchtern und schnörkellos erzählte Roman, lässt mich nachdenklich zurück.

  • Anne und Kai bilden mit ihrer Mutter, die ein gefragter Bühnenstar im Musikfach ist, eine kleine Familieneinheit. Der Zusammenhalt untereinander ist groß, keiner kann ohne die anderen beiden sein und die Mutter, als strahlender Mittelpunkt, ist etwas Besonderes. Doch dann erhält sie die Diagnose einer unheilbaren Krankheit, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit stark einschränken wird und die man nur versuchen kann aufzuhalten.

    Aber die erste halbe Stunde im Paradies – die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder brauch und man selbst auch von niemanden etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.

    Während Kai offiziell als Sohn bekannt ist, wird Anne versteckt. Wäre ihr gesundheitlichen Zustand hinlänglich bekannt, würde man Anne zum Vater bringen. Doch das Verhältnis ist schwierig, auch zu Kais Vater, und die Mutter will auf keines der Kinder verzichten. Der Umzug in eine andere Stadt und die damit verbundene Hoffnung, dass nun doch alles nicht so schlimm kommt, erweist sich schnell als ein Trugschluss. Der tagtägliche Kampf ums Leben bringt die Kinder an die Grenzen der körperlichen und geistigen Belastbarkeit und Kai, der die schöpferische Kraft der Mutter geerbt hat, bricht aus. Drei Wochen Abwesenheit genügen, um die Familie zu zerstören.

    Dass seine Freiheit ihm wichtiger war als das, was unsere Mutter wollte. Komisch. Die Idee von Freiheit war mir selbst in diesem Zusammenhang noch nie gekommen. Es hätte ja im Umkehrschluss bedeutet, dass wir nicht frei waren, solange unsere Mutter uns brauchte.

    Meine persönlichen Leseeindrücke

    „Die erste halbe Stunde im Paradies“ ist ein intensives Buch, das sich mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung beschäftigt, und deren Auswirkung auf ein fragiles Familienkonstrukt. Im Mittelpunkt steht die Mutter, die durch ihren Egoismus die Kinder für ihre Pflege beansprucht und sie somit an den Rand des Erträglichen treibt. Die Frage, die im Raum steht und die eine Antwort sucht, ist, wie weit der Wunsch der Mutter nach Familie das Recht der Kinder auf Kindheit, Freiheit, Unbekümmertheit, Schutz und sichere Umgebung beeinträchtigen darf. Themen wie Abhängigkeit, Zwang, Mutter-Kinder-Beziehungen, Erwachsenwerden, Pubertät verknüpfen sich auf engem Raum und lassen einen Roman entstehen, der mich in seiner Komplexität emotional fordert.

    Janine Adomenti zeigt, wie die verantwortungslose Manipulation der kranken Mutter, die ihre Kinder psychisch an den Rand der Belastbarkeit zwingt, funktioniert. Denn ich nehme hier die Mutter in die Verantwortung, die die Liebe für die Kinder vorschiebend beide Übermaßen beansprucht. Sie sucht nicht die Hilfe, die ihr zusteht, versteckt ihre Tochter aus Angst, man könnte sie ihr nehmen, verlangt vom Sohn körperliche Pflege, bis dieser sich gegen ihren Willen eine 3wöchige Auszeit nimmt. Das fragile Gleichgewicht kommt durcheinander, Anne kann ihren Bruder nicht ersetzen und es kommt zur Katastrophe. Durch den Unfall der Mutter kommt sie als junges Mädchen zu ihrem Vater, der ihr den Kontakt zu Kai verbaut. Das Trauma hinterlässt bei beiden nicht verheilende Wunden.

    Er ist einmal alles für mich gewesen – alles, worauf ich mich verlassen und woran ich glauben konnte.

    Der sehr ruhige, aber enorm emotionsgeladene Text bietet hier großes Gefühlskino.

    Nach sehr vielen Jahren der Trennung treffen die Geschwister wieder aufeinander. Viel ist passiert, beide leben ein unglückliches Leben nach der Suche nach dem Warum. Das beschäftigt und macht nachdenklich und der Sinn des Lebens, die Freude und das Glück, das ich leben darf, scheint alles andere als selbstverständlich.

    Fakt ist, es gibt nur eine einzige Realität, in der wir alle leben; gleichzeitig sind unsere Erfahrungen so unterschiedlich, dass es genauso gut unendlich viele Realitäten sein könnten.

    Das Treffen scheint die letzte Gelegenheit für die Geschwister zu sein, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzten, eine Zeit, die sie geprägt und zerstört hat. Verständlich die Wut, verständlich auch die neuen Berührungsängste aber gleichzeitig auch die einzige Möglichkeit über das Trauma hinwegzukommen. Mit der Darstellung beider Positionen, oftmals in knappen Dialogen ausgedrückt, gelingt der Autorin Janine Adomeit ein Stück Familienpsychologie. Mit dem Ende des Romans schenkt sie Hoffnung für beide auf Heilung ihrer geschundenen Seelen.

    Fazit

    „Die erste halbe Stunde im Paradies“ ist eine ruhig dargestellte Geschichte über ein schweres Familienschicksal, das mich emotional berührt und literarisch überrascht hat. Der Roman, der auf zwei Erzählebenen das Leben von Anne und Kai als Kinder und als Erwachsene nachzeichnet, verdeutlicht, dass es ein Leben ohne Beziehungen und damit ohne Schmerz nicht gibt. Ein Lesehighlight!

    Da verstand ich endlich, was mich seit meiner Kindheit gequält hatte: die unerträgliche Gleichzeitigkeit unvereinbarer Gefühle.

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