Janine Adomeit - Die erste halbe Stunde im Paradies

  • Kurzmeinung

    Maesli
    Ein Familienleben geprägt von einer Mutter mit schwerer Erkrankung, die ihre Kinder an ihre Belastungsgrenze zwingt.
  • Ein tolles Werk mit viel Tiefe und Sensibilität zu einem unterrepräsentierten Thema

    „Aber die erste halbe Stunde im Paradies - die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und man selbst auch von niemandem etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.“ ❤️‍🩹


    Ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass das Buch so ein Highlight wird. Aber Janine Adomeit hat hier mit sehr klarer, unaufgeregter Sprache ein Werk geschaffen, das ich nicht aus der Hand legen wollte.


    Familienromane reizen mich immer besonders und hier haben wir ein herausragendes Exemplar, in dem die Figuren mit ganz viel Tiefe und innerer Ambivalenz überzeugen. Anne ist Pharmavertreterin und möchte sich im nächsten Schritt auf ein Fentanyl-Pflaster für den Palliativbereich fokussieren. Sie ist zielstrebig, analytisch und menschlich eher reserviert. Warum das so ist, wird in sich abwechselnden Zeitebenen geschickt erzählt.


    Wir erfahren nämlich von ihrer Vergangenheit als 11-Jährige, in der sie sich gemeinsam mit ihrem gerade erwachsenen Bruder Kai um deren chronisch kranke Mutter kümmern muss. Diese leidet an einer nicht klar benannten, aber sehr klar identifizierbaren degenerativen Erkrankung und kann sich nicht so recht überwinden, Hilfe von außen anzunehmen. Ich finde es bemerkenswert, wie die Autorin hier mit viel Feingefühl die Ambivalenzen dieser Situation herausgearbeitet hat. Denn die kleine Familie bildet eine herzerwärmende, loyale Einheit, die trotzdem nach und nach an ihre Grenzen gerät. Dank des nüchternen, klaren Schreibstils werden die Emotionen auf die Lesenden ausgelagert.


    Und Emotionen hatte ich so einige! Ich war wütend auf die Mutter, weil sie ihren Kindern regelrecht trotzig einfach ihre Pflege aufbürdet. Aber ich habe auch zutiefst mitgefühlt mit ihrem Bedürfnis nach Normalität, habe ihre Scham regelrecht greifen können. Auch die Gleichzeitigkeit von Gefühlen bei den beiden Kindern spielt immer wieder eine Rolle - bedingungslose Liebe zueinander trifft hier auf Wut angesichts eigener Freiheitseinschränkungen. Die geteilte Vergangenheit führt schlussendlich dazu, dass Anne Kai nach jahrelangem Kontaktabbruch aus einer Entzugsklinik abholen soll, was in seiner Folge ein echtes moralisches Dilemma auslöst. Denn die Sucht ihres Bruders ist nicht loszulösen von ihrem nächsten Karriereschritt…


    Ein absolutes Highlight aus Norddeutschland, das mich mit seiner Sprache und dem Spannungsaufbau durchweg mitgezogen hat. Das Thema der Medikamentenabhängigkeit, das übrigens ca. 3,5 % der deutschen Erwachsenen betrifft, wurde hier mit der nötigen Sensibilität behandelt. Auch der Themenkomplex rund um die Pflege von Angehörigen und wie Familien darunter zerbrechen können, hat hier auf eindringliche Art Raum gefunden. Die Figuren sind liebenswert, greifbar und authentisch, die immer wieder eingebundenen Science-Facts, wie bspw. zur Schmerzregulierung und Wirkung von Analgetika, fand ich einfach klasse. Die Ausführungen zu Annes moralischem Dilemma hätte ich mir zum Schluss zwar noch etwas ausführlicher gewünscht, grundsätzlich finde ich das offene Ende aber gut gewählt.


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  • Als Kinder waren sich Anne und ihr älterer Halbruder Kai sehr nah verbunden und führten mit ihrer alleinerziehenden Mutter, ein von Musik und Gesang fröhliches und erfülltes Familienleben bis zu dem Tag, als alles schließlich an der Krankheit, zerbricht.

    Wie konnte die chronisch kranke Mutter, sich nur auf die Hilfe ihrer beiden Kinder, verlassen? Auch wundert es mich, wie sie vor Ärzten und Behörden, ihre Hilflosigkeit verheimlichen konnte! Kai, scheint ein ausgesprochen zartfühliger und vernunftiger Junge zu sein, der sich gemeinsam mit seiner Schwester um die Mutter kümmert. Beide sind viel zu jung und die Mutter uneinsichtig, denn sie nimmt weiterhin keine fremde Hilfe an bzw., kümmert sie sich nicht darum, welche zu erhalten.

    Besonders Anne trifft die Soziale Ausgrenzung ihrer Mitschüler sehr hart. Sie findet keine Freundinnen und eine traut sich ihr zu sagen, dass sie stinkt und ungepflegt herumläuft, weshalb keine einen Kontakt zu ihr haben möchte. Schon traurig, denn keiner hat Annes Leid wahrgenommen …

    Dann kommt wie es kommt, Kai möchte raus in die Welt und was erleben und lässt seine Mutter und seine Schwester Anne, im Stich. Anne trifft dies mit einer gewaltigen Wucht, denn jetzt ist sie die einzige, die ihre Mutter pflegen muss.

    Was hat diese Mutter ihren Kindern nur angetan?

    Mittlerweile ist Anne Anfang dreißig und Pharmavertreterin und hat das Ziel, in den Innendienst zu wechseln. Sie will umsteigen, von Beruhigungsmitteln auf das hochwirksame, aber umstrittene Schmerzmittel Fentanyl. Anne lebt sehr zurückgezogen alleine und verhält sich Menschen gegenüber sehr reserviert. Sie scheint in ihrer Welt gefangen zu sein.

    Nach Jahren meldet sich auf einmal Kai und bittet Anne, ihn aus einer Entzugsklinik abzuholen. Zwischen den beiden ungleichen Geschwistern kommen nach jahrelangem Schweigen Dinge zur Sprache, die nicht nur die Vergangenheit, sondern auch Annes Traum, den Schmerz zu besiegen, in ein völlig neues Licht rücken.

    Kann Anne endlich verzeihen – ihrem Bruder und sich selbst?

    Die Autorin Janine Adomeit erzählt in ihrem neuen Roman „Die erste halbe Stunde im Paradies“, eine Geschichte auf zwei Zeitebenen über familiären Zusammenhalt und zeichnet das Leben der beiden Geschwister Anne und Kai, die in ihrer Kindheit viel Verantwortung übernehmen mussten. Der nüchtern und schnörkellos erzählte Roman, lässt mich nachdenklich zurück.

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