Was ist die Todsünde des 21. Jahrhunderts?
So fragt bereits der Klappentext und fährt dann konzise fort:
"...fragt Annette Kehnel am Ende einer langen Reise von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart. Sie folgt der Spur einer alten Lehre, fragt, wie man in vergangenen Jahrhunderten mit der dunklen Seite der menschlichen Natur umging - und birgt zeitlos gültiges Menschheitswissen, das uns heute, im Zeitalter der Krise, neue Orientierung geben kann."
Annette Kehnel ist als Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim durchaus gewappnet für diese Rundschau auf frühere Betrachtungen der Sünden. Mit ihrem vorherigen Buch "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit" hatte die Autorin nicht nur ihren Spürsinn für wertvolle Kulturtechniken der Vergangenheit bewiesen, sondern auch den NDR-Sachbuchpreis gewonnen.
Neid, Völlerei, Habgier, Wollust, Hochmut, Trägheit und Zorn
So lauten die kanonischen sieben Todsünden, an denen entlang Kehnel ihr Buch strukturiert. Jedem dieser Laster widmet sie ein Kapitel, in welchen sie kursorisch verschiedene Quellen zu diesen Themen zu Wort kommen lässt oder anschauliche Anekdoten aus der Geschichte (ob wahr oder so gut, dass sie eigentlich wahr sein sollten) referiert. Ihre prägnanten und leicht verständlichen Ausführen erheben keineswegs den Anspruch auf einen vollständigen kulturhistorischen Rückblick, sondern werfen einzelne Schlaglichter auf einstige Betrachtungen, die sich vom heutigen Zeitgeist unterscheiden. Darunter steht die Bottom Line, die bereits titelgebend gewesen ist: Wir können auch anders.
Das ist in jedem Fall interessant und eben auch kurzweilig geschrieben. In dieser Kurzweiligkeit liegt aber auch ein Schwachpunkt. Kehnel wechselt von einem Punkt zum nächsten, durch die Jahrhunderte hindurch, angefangen zumeist bei vorchristlichen Philosophen aus Griechenland oder Kleinasien, über mittelalterliche Gelehrte bis zu verschiedenen Stimmen aus der (Frühen) Neuzeit. An einigen Stellen, die mich eher interessiert haben, hätte ich mir schon ein vertiefendes Nachbohren gewünscht.
Auch ist die Auswahl natürlich begrenzt, aber in ihrer Begrenztheit nicht thematisiert: Sieht man von wenigen kurzen Erwähnungen ab, kommen lediglich europäische Ansichten vor, obwohl die meisten Kronzeugen sich nicht ausdrücklich mit der kanonischen Todsünde der christlichen Tradition, sondern nur mit dem Phänomen, auf das sich die jeweilige Todsünde bezieht, auseinandersetzen, also beispielsweise mit Habgier im Allgemeinen. Dazu haben sicherlich auch andere Erwähnenswertes gesagt oder geschrieben.
Auch sind viele der Referierten Persönlichkeiten Gelehrte, die ihre Betrachtungen gewissermaßen von einem Elfenbeinturm aus anstellten. Es gibt zwar (an anderen Stellen, in anderen Epochen) Gegenblenden wie persönliche Aufzeichnungen eines spätmittelalterlichen italienischen Kaufmanns, der in Frankreich sein Vermögen gemacht hat, aber jene Gelehrtenstimmen werden bisweilen für bare Münzen genommen. Über soziale Alltagsrealitäten erfährt man nur selten mehr.
Interessant, aber...
Kehnels Parforceritt durch die Geschichte steckt voller interessanter Begebenheiten, verspricht aber mit Blick auf die Gegenwart wohl zu viel. Die Einsichten, die Kehnel aus den Überlegungen unserer Urahnen zieht, bleiben allgemein und erwartbar. Ja, Habgier und Völlerei sind schlimm, ein rechtes Maß ist zu finden, der Anspruch, dass Gier als positive Antriebskraft Konkurrenzdenken und damit Fortschritt bringt, hat sich in den letzten Jahrhunderten als Irrweg erwiesen. Dass dies in heutiger Zeit als Erkenntnis schlichtweg nicht verfügbar ist, ist aber ein Irrtum.
Wenn Kehnel überlegt, welche konkreten Schlussfolgerungen gezogen werden können, bleibt sie vage. Ja, in vergangenen Zeiten fasteten Christen oft und lang, da wäre ein Veggie Day in der Woche gewiss kein Thema gewesen. Und auf Nachhaltigkeit und Gemeinschaftlichkeit hin angelegte Praktiken der Produktion dürften zum Tool Kit für die kommenden stürmischen Zeiten werden. Aber das sind gewiss keine neuen Erkenntnisse und unberührt bleibt dabei die Frage, wieso eigentlich in unserer globalen Wirtschaft trotz so vieler individueller Einsichten nur langsam Änderungen vonstatten gehen. Für Antworten auf solche komplexen Fragen muss man schlicht und ergreifend ein anderes Buch lesen. Was bleibt ist aber ein eingängig geschriebenes und vergnügliches Lesebuch über den Umgang mit Todsünden quer durch die Epochen.