Tim Parks - Schicksal

  • Aus dem Klappentext (gekürzt):
    Christopher Burton, englischer Journalist, wird an der Rezeption seines Hotels über den Selbstmord seines Sohnes unterrichtet. Aber warum ist bei dieser schrecklichen Nachricht sein erster Gedanke, jetzt, nach fast 30 Jahren, seine Frau zu verlassen? Burton weiss, dass er seiner vitalen, sprunghaften Frau, einer Italienerin, seine Karriere als hochgeschätzter Italienkorrespondent verdankt. Aber er verdankt ihr auch, dass sein Leben unerträglich geworden ist. Und irgendwie ist ihr Sohn Opfer dieser explosiven Liebes- und Hassbeziehung geworden ...


    Glücklicherweise ist das Buch nicht so simpel gestrickt, wie der Klappentext vermuten lässt. Ab dem Moment, in dem er vom Tod seines Sohnes erfährt, beginnt der Ich-Erzähler, ein Mann in den schlimmsten Jahren, seine Vergangenheit, seine Ehe, seinen Beruf und seine Vaterschaft zu durchdenken und zu analysieren. Er ist dabei unbarmherzig seiner Frau und auch sich selbst gegenüber. Über ihrer beider Fehler, ihre Fehden und Fehltritte denkt er nach, über die komplizierte Verflochtenheit der Eltern mit dem Sohn, der schizophren wurde, und der russisch gebürtigen Adoptivtochter, die sich von der Familie abgewendet hat. Doch eines ist spürbar: Hinter der intellektuellen Beschäftigung mit dem Geschehen, und wenn es das quälende Eingeständnis der Schuld ist, lauert die Trauer. Im Grunde zerbricht sich Christopher seinen Kopf, um das Zerbrechen seines Herzens hinauszuzögern.


    Dies ist wieder einer der Romane, die ich als Komposition bezeichnen möchte. Während die Geschichte weitergeht - Abschied vom toten Sohn, Zugfahrt nach Hause, Gespräche mit Tochter - wird immer mehr von der Vergangenheit aufgedeckt. Als würde ein Reißverschluss langsam aufgezogen, kommen nach und nach Fäden und Stränge der Familiengeschichte zum Vorschein und verweben sich am Ende zu der Tragödie, dessen Opfer nicht nur der Sohn ist.


    Das Buch ist nicht leicht zu lesen; fast keine Dialoge, keine Absätze. Dazu kommt, dass der Autor ausschließlich das Imperfekt benutzt, dass sich also die einzelnen Zeitebenen nicht voneinander abheben. Natürlich wird die Sprache dadurch flüssiger und leichter, aber das Verständnis, v.a. am Anfang schwieriger. Doch wenn man erst einmal die Zusammenhänge verstanden, die Bruchstücke aus der Vergangenheit aneinanderreihen kann, hat man keine Probleme mehr.


    Ein großartiges Buch. Wohltuend, dass es dem Autor trotz des Themas und trotz der Ich-Erzähler-Perspektive gelingt, keine Nabelschau und keinen Exhibitionismus zu betreiben.
    Empfehlenswert für alle (aber nicht nur für die), die wissen oder erlebt haben, dass eine langjährige Beziehung kein linearer Weg ist, sondern aus Liebe und Hass und weiteren hundertundeinem Gefühlen besteht und aus Wunden, die jeder dem andern schlägt, und dass sich "halt-mich-fest" und "hau-endlich-ab" nicht ausschließen.


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Danke Marie, :thumright:


    klingt nach einer sehr ergreifenden Geschichte und ich habe es mir schon mal notiert. :wink:

    Liebe Grüße
    Helga :winken:


    :study: [b]???


    Lesen ist ernten, was andere gesät haben (unbekannt)

  • Danke, Marie. Wieder einmal hast du mit deiner Vorstellung meine Neugier auf das Buch geweckt. Es ist auch schon auf meiner Lesewunschliste.

  • Ich habe mir "Schicksal" damals gleich nach Maries Rezension gekauft und jetzt endlich die Zeit zum Lesen gefunden. Es ist ein Buch, das mir sehr viel Aufmerksamkeit abverlangt hat. So konnte ich es auch entgegen meiner sonstigen Gewohnheit nicht in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit lesen, sondern habe mir lieber am Abend etwas Zeit freigeschaufelt, um es ungestört in einem ihm angemessenen Tempo zu lesen.


    Es ist ein ernstes, sehr intensives Buch und doch habe ich oft schmunzeln müssen über Christopher Burton, den Protagonisten. Ich mochte diesen feinen Humor, der nur ganz subtil zwischen den Zeilen aufblitzte, meisten dann, wenn sich Burton mal wieder in seine hochintellektuellen Ausschweifungen flüchtete oder sich, je nachdem, gedanklich in Banalitäten erging, und zwar immer genau dann, wenn eigentlich seine emotionale Seite gefragt gewesen wäre. Dieses "Nicht-Farbe-Bekennen-Wollen" kennt sicher jeder von uns, hier wird es auf die Spitze getrieben. Ich war hin und her gerissen zwischen Verständnis und Mitgefühl für Burtons inneres Dilemma und seine scheinbare Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien, und andererseits Wut angesichts seiner Vorliebe, immer erst mal den vermeintlich bequemeren Weg zu wählen, statt sich den Widrigkeiten des Lebens zu stellen.


    Eine meiner Lieblingsszenen:



    Das Ende fand ich sehr gelungen. Ich glaube, ich habe es genau so gebraucht, um mich mit Burton aussöhnen zu können. Ich hätte gern mehr über seine Frau (sehr bezeichnend übrigens, dass man erst ganz am Ende ihren Namen erfährt) und ihre Sicht der Dinge erfahren, aber das war nun mal nicht Thema des Buches.


    Alles in allem ein rundum gelungenes, anspruchsvolles Buch, das ich gerne weiterempfehle.


    Liebe Grüße
    Siebenstein :wink:

    :montag: Judith Hermann - Daheim


    "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam."
    (Bodo Kirchhoff: Die Liebe in groben Zügen)


  • Dieses Buch ist wahrlich ein Meisterwerk! Tim Parks schafft es, die Gedanken und Motivationen des Christopher Burton so eindringlich zu schildern, dass der Leser richtig gefangen ist in dieser Geschichte.


    Was wie ein "Schicksalsschlag" beginnt - der Journalist erfährt am Telefon vom Selbstmord seines Sohnes - entwickelt sich als Psychogramm einer Ehe. Anfangs noch verwirrt ob der ungewöhnlichen Reaktion des Protagonisten (sein erster Gedanke ist, seine Frau zu verlassen), erfährt man nach und nach um die wahren Zusammenhänge und die Vergangenheit dieser Familie.


    Ich sog jedes Indiz auf, immer auf der Suche nach jenem Fallpunkt, an dem diese Ehe scheiterte. Doch wie so oft im "richtigen" Leben, gibt es diesen Punkt nicht. Es ist das allmähliche Auseinanderleben, die enttäuschten Hoffnungen, die gekränkte Eitelkeit, die Bequemlichkeit und einfach die vielen Gespräche und Worte, die nicht stattfanden und es ist die Geschichte einer Flucht vor sich selber, vor den eigenen Gedanken und dem eigenen Leben.


    Tim Parks schafft es ganz einzigartig, diese Themen in diesem Roman zu verpacken. Das Buch verlangt die absolute Aufmerksamkeit des Lesers, es ist kein Buch für zwischendurch oder für eine Lese-Stunde nach einem anstengenden Tag! Viele Zeitsprünge - oft in einem einzigen Satz - , parallel erzählte Handlungen, ineinander verwobene Erlebnisse und Personen machen es dem Leser nicht leicht, dennoch verliert man nie den Überblick.



    Doch auch feiner Humor kommt nicht zu kurz


    Rundum: ein Meisterwerk, das ich nur jedem ans Herz legen kann!

    Herzliche Grüße
    Rosalita


    :study:
    Wenn das Schlachten vorbei ist - T.C. Boyle


    *Life is what happens to you while you are busy making other plans* (Henry Miller)

    Einmal editiert, zuletzt von Rosalita ()

  • Es freut mich sehr, dass dieses tolle Buch allen, die es bisher gelesen haben, so gut gefallen hat. So macht das Rezensionen-Schreiben richtig Spaß. :D


    Marie

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • 2024: Bücher: 97/Seiten: 42 622

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

    --------------------------------------------------

    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
    ------------------------------

    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

    ------------------------------

    Lese gerade:

    Töpfner, Astrid - Bis wir unsere Stimme finden