Franziska Fischer – Unsere Stimmen bei Nacht

  • Klappentext/Verlagstext
    In einer Villa im Berliner Südwesten finden sich sechs Menschen zu einer ungewöhnlichen WG zusammen – aus Geldmangel, aus Einsamkeit, auf der Suche nach einer raschen Lösung. Die fünfundfünzigjährige Gloria kocht für alle – und sie kocht hervorragend –, nur ihr griesgrämiger Ehemann Herbert war von vornherein dagegen, dass sich andere Menschen in ihrem Heim einnisten. Als Erstes Chemieprofessor Gregor mit seiner Tochter Alissa, die permanent schlecht gelaunt unter der Trennung ihrer Eltern leidet. Wenigstens reißt sich Alissa zusammen, wenn sie sich in Herberts hauseigenem Antiquariat aufhält. Dann ist da noch Jay, ein Student, der sich dagegen sträubt, die Erwartungen seiner Familie zu erfüllen, und bemüht ist, Herbert den Internetversandhandel nahezubringen.

    Schließlich zieht Lou-Ann, genannt Lou, in die Villa ein. Mit Mitte dreißig hätte sie längst irgendwo ankommen müssen, doch stattdessen ist in ihrem Leben alles ungeplant und unfertig. Vielleicht ist sie gerade deshalb diejenige, die all die um sich selbst kreiselnden Gestalten zusammenbringt. Etwas verschiebt sich in dem Gefüge. Die Zweckgemeinschaft wird zur Wahlfamilie, aber das Konstrukt ist zerbrechlich.


    Die Autorin
    Franziska Fischer wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin. Bei DuMont erschien zuletzt der SPIEGEL-Bestseller ›In den Wäldern der Biber‹.


    Inhalt

    Mit Mitte 30 ist Lou noch immer nicht sesshaft, kein Wunder wenn die Eltern aus beruflichen Gründen durch die Welt nomadisieren. Als Lou wirklich nicht mehr bei Freundin Mel und deren Kindern unterschlüpfen kann, trifft sie auf der Suche nach einem WG-Zimmer Gloria Sabrowski. Die ältere Frau bewohnt mit ihrem Mann und mit derzeit drei Untermietern die Villa ihrer Großeltern aus dem 19. Jahrhundert. Herbert ist bereits Rentner und betreibt in der Villa ein Antiquariat. Das vierte und letzte Zimmer liegt nach Norden und hat undichte Fenster, stellt Alissa noch vor der Besichtigung klar; die Schülerin lebt nach der Trennung ihrer Eltern hier mit ihrem Vater. Der fünfte Bewohner, Jay, hat kurz vor dem Examen gerade noch die Kurve gekriegt und sein Studienfach schätzen gelernt. Lou unterschreibt, kauft bei Herbert ein Buch und zieht sofort ein.


    Auf den zweiten Blick leben die Sabrowskis nach dem Auszug ihrer erwachsenen Kinder in einer Art Patchworkfamilie; ein Paar, ein Vater-Tochter-Team und Jay als Wahlsohn. In der Villa gibt es weder eine Aufgabenverteilung noch Diskussionen über den ökologischen Fußabdruck oder ob weiße und bunte Wäsche gemeinsam gewaschen werden darf. Die berufstätige Gloria lebt weiter wie bisher, putzt und kocht für 6 Personen. Lou spürt, dass in diesem Haushalt einige Fragen auf Antworten harren, doch sie als Neuling wagt nicht zu fragen. Der Versuch, Gloria vom Kochen zu entlasten, scheitert. Auch Jays Entdeckung, dass das Antiquariat dringend über einen Online-Shop erreichbar sein sollte, finde wenig Gegenliebe.


    Gloria scheint zunächst die Hauptfigur zu sein, doch auch ihre Mitbewohner samt ihrer aktuellen Lebenssituation treten nacheinander ins Rampenlicht. So entsteht das Bild von Menschen aus drei Generationen, die jeder in einem unfertig wirkenden Leben einen Gesprächspartner suchen, aber keinen Ratgeber. Verbindendes Element zwischen den Bewohnern der Villa sind verdrängte, erzwungene oder ungelebte künstlerische Talente. Gloria und Lou, Jay und Alissa, Jay und Herbert, in jeder Ecke schien ein Ziel oder eine Existenzgründungsidee auf sie zu warten. Dass die Gemeinschaft im reparaturbedürftigen Anwesen nicht mehr länger zu finanzieren ist, bleibt unausgesprochen und nur Franziska Fischers Leser:innen warten auf den großen Knall.


    Die Patchwork-Situation im Haus Sabrowski bietet durch die Vielfalt der Figuren im Vergleich zu einer WG Gleichaltriger verblüffend großes Potential. Auf Lous Einfluss hatte ich große Hoffnungen gesetzt, weil sie weder zur Eltern- noch zur Kindergeneration gehört – und ihre Rolle konnte mich am Ende am stärksten verblüffen.


    Mein Lieblingssatz: „Ohne mich kommt ihr doch gar nicht zurecht.“ (Jay)


    Fazit

    Wer wen ins Vertrauen zieht und welche Ideen sich schließlich umsetzen lassen, das wirkt klug geplottet. Weniger überzeugt hat mich der Roman sprachlich. Ein für die alltäglichen Ereignisse zu bildungsbürgerlicher Ton bricht sich an dazu unpassenden Stilsünden.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Wenn aus Fremden Freunde werden....


    "Unsere Stimmen bei Nacht" von Franziska Fischer erschien im Dumont-Verlag (HC, gebunden; 286 S., 2023) und hat mich sowohl inhaltlich als auch von der einfühlsamen und psychologisch versierten, tiefgründigen und zuweilen poetischen Erzählweise der Autorin sehr begeistert!


    Worum geht's?


    Gloria und Herbert; ein Ehepaar in den Mittfünfzigern, vermieten die Zimmer ihrer 3 Kinder, die inzwischen erwachsen sind und auszogen, in einer alten Berliner Villa: Dafür scheint es mehrere Gründe zu geben; zum Einen verbessern sich die Finanzen der beiden - und zum anderen kommt, was vorwiegend von Gloria gewünscht ist, mehr Leben ins Haus, das groß genug ist, um Lou, Mitte 30 und sehr oft umgezogen, Tänzerin; Jay, einen Studenten der Politikwisssenschaften sowie den von Frau und Sohn getrennt lebenden Gregor, einen Wissenschaftler und dessen Tochter Alissa (16) aufzunehmen. Herbert ging vorzeitig in den Ruhestand und hat sich in zwei Räumen ein kleines Antiquariat aufgebaut, das er weiterhin betreibt, auch wenn es kaum Laufkundschaft gibt....


    Meine Meinung:


    Der Roman beginnt mit dem Einzug von Lou, die mir aufgrund ihrer einfühlsamen und hilfsbereiten Art sowie ihrem Gespür für Menschen sehr sympathisch war. Sie hat eine Weile bei einer Freundin gewohnt und Gloria schien es (sie war die 34. Bewerberin für das letzte Zimmer!), dass das Zimmer und Lou zusammenpassen werden - und sie gleich einziehen konnte. Nach und nach lernt man die anderen Hausbewohner kennen; Jay, den anfangs unsicheren und scheuen, später aufgetauten und auch mal mit Lou in der Küche stehenden und kochenden Studenten, der sich durch das Angebot der Mahlzeiten gegen Aufpreis recht wohl zu fühlen scheint und auch gerne Songs schreibt und Gitarre spielt. Gregor ist der am zurückgezogensten lebende Charakter dieser Haus- und Wohngemeinschaft, Alissa wirkt eher unglücklich über die Zerfaserung der Familie, kommt aber mit dem Vater anscheinend besser zurecht als mit der dominanten Mutter, die ihr in den Ferien Nachhilfe aufbürdet und am guten Schulabschluss der Tochter mehr Interesse zeigt als an der Tochter selbst. Alissa wirkte auf mich auch in gewisser Weise überfordert, da sie ihrem Vater täglich Brote mit in die Uni gibt und somit Aufgaben verrichtet, die eigentlich nicht ihre sind.


    Zaghaft nähern sich die ProtagonistInnen, die allesamt diverse Geheimnisse mit sich herumschleppen, einander an; so lernen wir Lou als sehr extrovertiert kennen; sie will dieses Mal "die Lücke besetzen, in die sie sich - vielleicht längerfristig? - einfinden kann"; ihr Lachen ist ansteckend, was dem schüchternen Jay zugute kommt und beide sich bald gut verstehen. Lou erkennt auch, dass Alissa Unterstützung braucht, das Interieur ihres Zimmers betreffend und schenkt ihr kurzerhand eine Sternendecke, die es gemütlicher macht (Alissa ist eher introvertiert und verunsichert, da eine Freundin sich von ihr abwandte, die jetzt zu den wirklich "Coolen" gehört). Gloria ist erleichtert, als sie bemerkt, dass sie durch Jay und Lou Hilfe beim Kochen erhält, ihr Mann Herbert braucht etwas länger, sich auf die häuslichen "Veränderungen" einzustellen: Er ist der konservativste Charakter, der Rituale mag und jeden Tag sein Klappschild für das Antiquariat auf die Straße stellt. Bis Jay ihm erklärt, dass er mehr Bücher verkaufen würde, wenn er auch einen online-shop hätte.


    Eine sehr interessante und vielschichtige, wie auch sympathische Figur ist Gloria, die Neuem gegenüber offen ist und eine alte Bürde mit sich trägt. Beim Ausmisten kommen sich Lou und Gloria im Dialog näher und eine Überraschung wartet auch auf den Leser, die ich mir sehr gut als eine Fortsetzung dieses Beziehungsromans mit feinen und leisen Untertönen vorstellen könnte! Die Themen sind sehr vielschichtig und es machte mir Freude, stets 'zwischen den Zeilen' lesen zu können; das Ankommen Lou's zu verfolgen, die Tatsache, dass die anfängliche Fremdheit einer permanenten Annäherung der ProtagonistInnen folgen sollte, gefiel mir sehr. Da ich selbst einen Teil meines (jungen) Lebens in WG's lebte, hatte ich auch einen direkten - und sehr positiven - Bezug zum Thema Zusammenwohnen.


    Fazit:


    Ein wunderschöner Roman, in dem es der Autorin mit Bravour, auf berührende Weise und stellenweise tiefpoetisch gelingt, zu beschreiben, wie es den WG'lerInnen gelingt, sich gegenseitig zu helfen; Altes, Verkrustetes mehr und mehr aufzubrechen, sich Mut zuzusprechen und auch Hoffnung zu geben. Allen, die tiefgründige und sehr niveauvolle Unterhaltung, gewürzt mit Empathie und psychologischem Feingefühl lieben, kann ich eine absolute Empfehlung aussprechen. Auch könnte es ein Roman sein, der SeniorInnen Hoffnung gibt, MitbewohnerInnen zu finden, die leerstehenden Zimmern in viel zu groß gewordenen Häusern - und damit auch ihrem eigenen Leben - womöglich wieder neues, mitmenschliches Leben einhauchen könnten. Zu wünschen wäre dies sehr!

    Ich vergebe mit einem dankeschön an Franziska Fischer und an den Dumont-Verlag für schöne Lesestunden 5*.


    5*****