Franzobel - Einsteins Hirn

  • Kurzmeinung

    Emili
    Eine groteske Lebensgeschichte mit viel Wortwitz. Absurd und herrlich abgedreht.
  • Kurzmeinung

    Hirilvorgul
    Wilder Ritt durch die zweite Hälfte des 20.Jh. und das Leben von Thomas Stoltz Harvey
  • Klappentext:

    Wie im „Floß der Medusa“ erzählt Franzobel eine neue erfundene wahre Geschichte: Der Pathologe Thomas Harvey stiehlt Einsteins Hirn und reist damit durch Amerika.

    Am 18. April 1955 kurz nach Mitternacht stirbt Albert Einstein im Princeton Hospital, New Jersey. Seinem Wunsch entsprechend wird der Körper verbrannt und die Asche an einem unbekannten Ort verstreut. Vorher jedoch hat der Pathologe Thomas Harvey Einsteins Hirn entfernt, danach tingelt er damit 42 Jahre durch die amerikanische Provinz. Mit ihm erlebt Harvey die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und die erste Landung auf dem Mond, Woodstock und Watergate und das Ende des Vietnamkriegs; und irgendwann beginnt das Hirn, mit Harvey zu sprechen.
    Franzobels neuer Roman ist ein hinreißender Trip durch wilde Zeiten und zugleich die Lebensgeschichte eines einfachen, aber nicht gewöhnlichen Mannes, den Einsteins Hirn aus der Bahn wirft.


    Mein Lese-Eindruck:


    Was für eine bizarre Geschichte!


    Franzobel hat sich einen historischen Stoff ausgesucht: die Geschichte des Thomas Stoltz Harvey (1912 – 2007), Chefpathologe des Krankenhauses in Princeton, in dem am 18.4. 1955 Albert Einstein infolge eines Aneurysmas gestorben war. Zu Einstein muss man nicht viel sagen: Nobelpreisträger und zu Lebzeiten schon einer der weltweit bekanntesten Wissenschaftler. Seine Relativitätstheorie revolutionierte die Physik, und die Menschen erfuhren staunend, dass Zeit und Raum keine Konstanten sind, dass der Kosmos sich seit einem Urknall ständig ausdehnt und andere Kosmen neben unserem denkbar sind. Einstein war nicht nur ein genialer Wissenschaftler, sondern wurde wegen seiner pazifistischen Einstellung auch zu einer Pop-Ikone seiner Zeit.


    Harvey ist ein freundlicher und gutartiger Mensch, ein frommer Quäker. Er obduziert Einsteins Leiche und entnimmt dabei eigenmächtig Einsteins Hirn, um Forschungen zur Anatomie der Genialität in Gang zu bringen. Dazu fehlen ihm jedoch die Arbeitsmittel und auch die fachliche Kompetenz. Daher zerschneidet er es in zentimetergroße Kuben, die er in Einmachgläsern bei sich zuhause lagert und wiederholt Hirnforschern zur Untersuchung anbietet – vergeblich.


    Franzobel ist ein Autor, der penibel recherchiert und für den historische Redlichkeit ein Muss ist. So suchte er alle Orte auf, an denen Harvey lebte und wirkte, und ließ sich von den letzten Zeitzeugen ihre Eindrücke schildern. Daher kann er weit ausholen. Wir lernen Harveys Elternhaus kennen, vor allem seinen frommen Vater und dessen Prügelexzesse, und verfolgen Harveys eher unruhiges Leben. Seine Ehen scheitern, zu seinen Kindern hat er kaum Kontakt, seine beruflichen Tätigkeiten variieren, er verliert seine Approbation und schlägt sich als Nachtwächter und Hilfsarbeiter durch, die politischen Verhältnisse wechseln (und hier kann sich der Autor seine bissige Kritik nicht verkneifen), panta rhei – die einzige Konstante in seinem Leben ist das Zusammensein mit Einsteins Hirn, das er in Einmachgläsern „eingeweckt“ immer mit sich führt. Und hier warten Überraschungen auf den Leser, die ihm Einsteins widersprüchlichen Charakter, seine Gedanken buchstäblich zu Gott und der Welt nahebringen.


    Franzobel vermischt originell die historische Realität mit einer Fiktion, wie sie hätte sein können; daher ordne ich den Roman auch nicht in der Rubrik "Historisches" oder "Biografien" ein.

    Seine Sprache ist wie gewohnt bildgewaltig, gelegentlich derb, aber immer wieder blitzt sein Humor durch; „Lungenfachärzte rauchten, und der Proktologe bohrte in der Nase“ (S. 118). Aber ich habe auch sehr anrührende Szenen gelesen, als er z. B. schildert, wie der über 80jährige Harvey, einsam, krank und verarmt, sich ein Zusammensein mit seiner ersten Frau erhofft.


    Fazit: Ein Roman über eine bizarre Freundschaft. Originell und lesenswert.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • der Proktologe bohrte in der Nase

    Das ist ja mal ne Abwechslung zu den sonstigen Bohrtätigkeiten des Berufsstandes :D


    Aber blöde Witze beiseite, das Buch klingt echt interessant. Die Geschichte mit Einsteins Hirn ist mir letztens erst irgendwo begegnet (ich wusste das gar nicht oder hatte es vergessen), könnte in "Rest in Pieces" gewesen sein.

  • Die Geschichte mit Einsteins Hirn ist mir letztens erst irgendwo begegnet


    Ich habe mir wegen dieser Rezension auch alles Mögliche durchgelesen, weil die Geschichte so abstrus ist. Harvey hat die meisten dieser Hirnkuben in schmale Streifen schneiden und plastifizieren lassen, und diese Streifen werden im Mütter-Museum in Philadelphia aufbewahrt, und das Mütter-Museum hat sie für eine Ausstellung nach Deutschland geschickt, 2018, Marburg (wenn ich mich richtig erinnere) - vielleicht hast Du das gelesen.


    Danke für Deine Rückmeldung, das freut einen immer.


    Das ist ja mal ne Abwechslung zu den sonstigen Bohrtätigkeiten des Berufsstandes

    Äh - ja :lol:

    Varietas delectat, sagt der Lateiner :lol: !

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich liebe so skurrile Geschichten mit wahrem Kern, da kann man sich so herrlich in den Recherchen zum Hintergrund verlieren.


    Entweder habe ich über das Hirn in besagtem "Rest in Pieces" (Untertitel: Die Schicksale berühmter Leichen :D ) gelesen oder aber in irgendeinem Podcast gehört. Egal, auf jeden Fall möchte ich das Buch jetzt unbedingt lesen.

  • Was für eine bizarre Geschichte!

    Das trifft es ziemlich genau.


    Ich muss ehrlich zugeben, dass mir während des Lesens irgendwann komplett entfallen war, dass es sich bei Thomas Harvey nicht um einen fiktiven Charakten handelt. (Obwohl genau dieser Fak aus dem Klappentext doch der Grund war, warum ich das Buch lesen wollte). #-o


    Franzobel schickt die Leser auf einen wilden Ritt durch die noch nicht so ferne Geschichte, wobei die großen historischen Ereignisse eigentlich nur am Rande gestreift werden. So muss man immer wieder staunen, dass all die großen Veränderungen eigentlich an Thomas Harvey ziemlich vorbeigehen. Seine Fixierung auf Einsteins Hirn und seine Absicht, ihm Gott näher zu bringen, sind zentraler Teil seines Lebens und führen dazu, dass seine Ehen scheitern, sein ganzes Leben eigentlich aus den Fugen gerät. Aus dem geachteten Pathologen wird am Ende ein Hilfsarbeiter, der in einem Wohnwagen haust. Aber Harvey bleibt bei all dem ein guter Mensch. Man muss ihn einfach mögen, auch wenn man ihn vielleicht nicht immer versteht. Es tut gut, dass sich am Ende seines langen und nicht leichten Lebens einige Kreise schließen und er seinen Frieden mit sich, Einstein und seinem Leben machen kann.


    Einstein spielt nur eine Nebenrolle, obwohl sein Hirn Titelgeber ist. Die kleinen Dialoge bieten den Rahmen für Harveys Gedankengänge, seine Handlungen. Ich hätte mir ein bisschen mehr davon gewünscht, aber dann wäre es ein Roman über Einstein und nicht über Harvey geworden.


    Franzobels Sprache hat mir hier viel besser gefallen, als im "Floß der Medusa" und auch wenn die Story für mich ein paar Längen hatte, wurde ich gut unterhalten - vor allem auch wegen des von drawe schon erwähnten Humors.

    Von mir gibt es :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: und ebenfalls eine Lese-Empfehlung.


    PS: Und wer sich wie ich einfach nicht vorstellen kann, dass jemand ein in Stücke geschnittenes Hirn in Gläsern aufbewahrt, kann sich hier auf Fotos davon überzeugen.

    Gelesen in 2024: 9 - Gehört in 2024: 6 - SUB: 626


    "Wenn der Schnee fällt und die weißen Winde wehen, stirbt der einsame Wolf, doch das Rudel überlebt." Ned Stark

  • Meine Gedanken zu dem Roman:

    Eine absurde Geschichte, die es wert ist, gelesen zu werden.

    Thomas Stoltz Harvey ist ein bescheidener Mann, der kaum jemanden auffällt. Er ist Pathologe, wobei er eigentlich ein Arzt werden wollte, doch aufgrund einiger Schwierigkeiten hat es dazu nicht gereicht, so wurde er zumindest ein Pathologe, schließlich auch ein Mediziner. Thomas ist verheiratet und erzählt in diesem Roman auch seine Liebesgeschichte, die reichlich schön ist, denn seine Frau ist schon ein besonderes Exemplar von einem verstreuten, tolpatschigen, romantischen Menschen, den man wirklich gerne haben kann.


    Wie der Zufall es will, sollte Thomas Harvey die Leiche des Weltgenies Albert Einsteins, nach seinem Ableben, obduzieren. Da ist schon die skurrile Geschichte um Thomas und Einsteins Hirn im vollen Gange. Die Menschen, die mit Thomas zusammenarbeiten, lassen es sich nicht nehmen, Souvenirs von der Leiche zu behalten. Was auch Thomas auf eine grandiose Idee bringt: Er entnimmt das Gehirn des Genies und behält es, so zu sagen, zu weiteren Untersuchungen.


    Im Laufe der Geschichte wird es noch skurriler und sonderbarer, Einsteins Gehirn fängt an, sich mit dem Pathologen zu unterhalten. Dies ist das Hauptthema des Romans, die Dialoge und Gedankengänge des Gehirns sind absolut lesenswert.


    Nebenbei erfahren wir sehr viel über das Leben von Thomas Harvey. Er erinnert sich an seine schwierige Kindheit, Jugend, Aufenthalt in einem Sanatorium wegen Tuberkulose, erste Liebe, Trennung und so weiter. Der Lebensweg eines unauffälligen Mannes steht im Vordergrund dieser Geschichte und lässt den Leser interessiert aufhorchen.


    Wie man der beschriebener Handlung entnehmen kann, merkt man, dass diese Geschichte alles andere als ernst zu nehmen ist. Ein groteskes, abwegiges Gedankenexperiment des Autors auf der Grundlage wahrer Begebenheiten. Ein sprechendes Hirn, das hat doch was. Den Roman sollte man vielleicht nicht so ernst nehmen, sonst würden die Absurditäten und humorvoller Austausch zwischen dem Einsteins Gehirn und Thomas womöglich nicht so gut gefallen. Dieser Roman von Frantzobel besticht mit seiner Originalität, Spannung kommt nur stellenweise auf. Sprachlich fand ich die Geschichte ausgefallen und auch gut, mir haben die humorvollen Ideen, Wortspielereien, witzige Metaphern gut gefallen. Mein Problem war eher die Tatsache, dass bei diesem Umfang von mehr als 500 Seiten, hält kein Witz stand. Es ist zu viel, zu lang und nicht mehr originell, sondern eher albern.


    Der Überblick über die Geschichte von Thomas Harvey, der fast sein ganzes Leben, er wurde schließlich über 80zig Jahre alt, das Gehirn bei sich trägt, fand ich in Bezug auf die allgemeine Geschichte des Landes interessant. Allerdings von der geballten Ladung an Witz und Wortspiel war ich eher überrascht. Empfehlenswert finde ich den Roman jedoch auf jeden Fall: eine ausgefallene Idee, Wortwitz, sprachlich flüssig und geistreich, interessanter Charakter.

    Von mir gibt es 4 Sterne und eine Empfehlung.

    2024: Bücher: 97/Seiten: 42 622

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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