Jón Kálman Stefánsson – Dein Fortsein ist Finsternis / Fjarvera þín er myrkur

  • Klappentext/Verlagstext
    Ein Mann erwacht in einer Kirche, irgendwo tief in den Westfjorden Islands, und erinnert sich an nichts. Doch die Frau, der er auf dem Friedhof begegnet, erkennt ihn wieder. Rúna berichtet von ihrer verstorbenen Mutter, und sie schickt ihn zu ihrer Schwester Sóley, mit der ihn eine brüchige Nähe zu verbinden scheint. Mithilfe ihrer und anderer Erzählungen setzt er sein Leben neu zusammen – bis sich nicht nur sein, sondern das Schicksal aller Menschen dieses einsamen Fjords vor uns erhebt. Ein raunendes, gewaltiges Meisterwerk, das die Kraft der Literatur feiert!


    Der Autor
    Jón Kalman Stefánsson, geboren 1963 in Reykjavík, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Islands. Er arbeitete in der Fischindustrie, als Maurer und Polizist, bevor er sich in Mosfellsbær bei Reykjavík niederließ. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit »Himmel und Hölle«, zuletzt erschienen »Etwas von der Größe des Universums« und »Ástas Geschichte«. 2018 war Jón Kalman Stefánsson für den alternativen Literaturnobelpreis nominiert. (… gekürzt)


    Inhalt
    Was hat ein Mann der Gegenwart auf Suche nach seiner Identität gemeinsam mit einer isländischen Bäuerin, die in einem fernen Jahrhundert nach Bildung hungerte und damit nach der Welt außerhalb ihres abgelegenen Fjords? Auf der isländischen Halbinsel Snæfellsness findet sich in einer leeren Kirche ein namenloser Erzähler, dem offenbar die Erinnerungen verloren gegangen sind. Runá erkennt ihn und vermittelt Kontakt zu ihrer Schwester, die ein Hotel betreibt. Der Gedächtnislose mogelt sich im Gespräch zunächst an Vergessenem vorbei, steigt jedoch später als Erzähler aus seiner Geschichte heraus und lässt sich von seinen Figuren leiten. Aus Rückblicken, Briefen und Überlieferungen entsteht in Zeitsprüngen die Geschichte eines abgelegenen Fjordtals samt einer Handvoll idyllisch gelegener Bauernhöfe. Höfe, deren Namen den Fjordanliegern traditionell so geläufig waren wie die Familienstammbäume – und die ich mir beim Lesen aneignen musste, um der Erzählerstimme folgen zu können. Seine Geschichten erzählen über Frauen, die einheiraten und nie die Finger in den Schoß legen, über Männer, die sich der Pflicht zur Hofübernahme klaglos beugen und verwaiste Kinder, die als Pflegekinder ins Tal gegeben werden. Früher ernährte ein Bauernhof am Fjord rund 15 Personen, heute oft nur noch zwei. Zeitlose Bilder lässt Stefansson im Kopf seiner Leser entstehen, von körperlicher Arbeit, die die Menschen krümmt und beinahe stranguliert, vom Arbeiten von Kindesbeinen an, weil Arbeit da ist (als Bauer, Fischer, Seemann, Lehrer, Postbote) - und immer wieder von Fluchten aus dem Ethos der Pflichterfüllung.


    Die Bäuerin Guðriður (Frau von Gisli) hat sich sicher nicht träumen lassen, dass es kein Zurück ins Tal mehr geben würde, nachdem sie einmal Bildung gekostet hatte. Pfarrer Pátur, der ihren Hunger nach Büchern stillte und steuerte, muss sich allerdings seiner Verantwortung bewusst gewesen sein. Eirikurs Schicksal ist an das seines abwesenden Vaters Halldor gekettet und den Hof der Großeltern; beide Männer gefangen zwischen Tradition, Scham und Schwermut. Unzählige Beziehungen und schrullige Details sind aufzublättern, ehe der Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit des Tals geschlagen sein wird.


    Fazit

    Jón Kálman Stefánssons üppiges Familienepos mäandert auf rund 500 Seiten durch die Epochen, zwischen Bleiben und Fortgehen, Verantwortung und persönlichen Glücksansprüchen. Große zeitlose Dramen um Lügen, Feigheit, Scham, den Tod und ungelebte Träume lässt er vor den Augen seiner Leser entstehen. Einige Male habe ich mich gefragt, ob die Geschichte mich in die Gegenwart des gerade wieder aufblühenden Tourismus in Island führt oder in die Vergangenheit, in der ganze Familien an Tuberkulose starben. Hatte ich wirklich alle Hofnamen, Personennamen und Spitznamen einander korrekt zugeordnet? In welch absurde Situationen die zahlreichen Figuren gerieten, konnten mich ebenso verblüffen wie ihr Widerstandsgeist gegenüber Traditionen, die ihre Vorfahren noch für unverrückbar gehalten hatten.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das Original


    496 pages
    Published November 2020 by Benedikt Bókaútgáfa (first published 2020)

    Original Title: Fjarvera þín er myrkur

    ISBN 9789935488725

    Edition Language: Icelandic

    https://www.forlagid.is/vara/fjarvera-tin-er-myrkur/

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Weber - Bannmeilen (Paris)

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • REZENSION – Ein eindrucksvolles Epos, wie man es heute nur selten zu lesen bekommt, ist der im Januar im Piper Verlag erschienene Roman „Dein Fortsein ist Finsternis“ des isländischen Schriftstellers Jón Kalman Stefánsson (59). Es ist eine bewegende Erzählung gegen das Vergehen und Vergessen, eine kompakte Island-Saga, die aus der Gegenwart weit über 120 Jahre bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht und am Beispiel einer bäuerlichen Familie und ihres Umfelds über sechs Generationen den Wandel dieser einst überwiegend von armen Schafzüchtern und Fischern fernab jeder Bildung und Kultur bewohnten kargen Insel „am nördlichen Ende der Welt“ zu einem heute extravaganten Ausflugsziel internationaler Touristen beschreibt.

    „Dein Andenken ist Licht, dein Fortsein Finsternis“ lautet die Inschrift eines verwitterten Grabsteins auf dem uralten Friedhof an einem entlegenen Fjord, der noch älter als die kleine Kirche ist, in der Stefánssons namenloser Erzähler mit totalem Gedächtnisverlust erwacht. Hinter ihm sitzt ein geheimnisvoller alter Mann, der sich dem Erzähler nicht zu erkennen gibt – ist es Gott, der Teufel, das personifizierte Schicksal? –, ihn aber auf seiner Spurensuche begleiten wird. Auf dem Friedhof trifft der Erzähler Rúna, die ihm die Geschichte ihrer Familie zu erzählen beginnt und ihn zu ihrer Schwester Sóley schickt, Betreiberin des kleinen Dorfhotels am Ufer des Fjords.

    Mit Hilfe dieser und anderer Geschichten über Familie, Nachbarn und Freunde in Gegenwart und Vergangenheit setzt der Erzähler eine faszinierende Island-Saga zusammen, geleitet vom geheimnisvollen Alten, dem bärtigen „Busfahrer mit der Lizenz, mich zwischen den Welten und Zeiten, den verschiedenen Bühnen des Lebens hin und her zu kutschieren.“ Wir lernen die Vorfahren des Musikers Eiríkur kennen, der als junger Mann Island verlassen hat und 40 Jahre später auf Drängen seines Vaters Hálldor nach Nes zurückkehrt. Seine Familiengeschichte reicht bis zur Ururgroßmutter Guðríður zurück: „… alles geschah, weil Pétur und Guðríður vor hundertzwanzig Jahren nach Stykkishólmur ritten.“

    Aus einzelnen Erzählungen („Manche Leben scheinen so ereignislos zu verlaufen, dass sie sich kaum beschreiben lassen.“) baut sich eine großartige Familiengeschichte auf, in der nicht nur Guðríður und Pétur einst der „Kompassnadel ihres Herzens“ gefolgt sind, sondern auch ihre Nachkommen auf jeweils eigene Art, waren sie sich doch trotz wandelnder Zeiten in Charakter und Mentalität ähnlich: »Die Vergangenheit lebt ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.«

    Jón Kalman Stefánsson springt in seinen Roman von Figur zu Figur, von Geschichte zu Geschichte, durch Zeiten und Generationen scheinbar beliebig hin und her, so dass man die Übersicht verlieren und sich in den Generationen leicht verirren kann. „Manche nennen es den Spaß der Götter. Karten und Leben durcheinanderzuwirbeln, zu ihrem Vergnügen Knoten zu schürzen, irgendwo eine unerwartete Kurve einzubauen, eine Brücke einzureißen, unsere Herzen in Wallung zu versetzen und dem Dasein einen Stups zu geben, um alles, was fest und sicher scheint, auf den Kopf zu stellen.“ Dann empfiehlt es sich, den Rat des Erzählers anzunehmen: „Halldór und Páll Skúlason. Merk dir die Namen, aber halte dich vorerst nicht länger mit ihnen auf, denn kaum erwähnen wir sie, treten sie auch schon wieder zurück wieder zurück in den Schatten, …. und treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.“ Es sind die kleinen schicksalhaften, wahrhaftigen und berührenden Geschichten, die jede für sich allein schon einem Kurzroman gleicht. Aus dem Gesamtbild aller Einzelschicksale ergibt sich schließlich die literarisch ungewöhnliche Island-Saga, die nicht nur in ihren Menschen- und Landschaftsbeschreibungen atmosphärisch beeindruckt, sondern auch sprachlich – auch ein Verdienst des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig. Für Stefánsson Roman gilt, was dort über den Brief der Großmutter an Eiríkur zu lesen ist: „… zwischen den Zeilen schimmerten Wärme und Zuneigung durch, flossen wie eine mächtige Strömung unter den Sätzen.“ Es ist schon ein paar Jahre her, dass mich ein Schriftsteller mit seinem Buch derart begeistert hat, tief berührt und nachdenklich zurückgelassen hat.