John von Düffel – Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch

  • Klappentext/Verlagstext
    Ein Neujahrsmorgen im ligurischen Hinterland. Ein klösterliches Zimmer. Eine Landschaft, die zugleich karg ist und grün. In dieser stillen Umgebung, an diesem Tag des Anfangs und des Endes stellt sich die älteste Frage von allen noch einmal neu: Wie lebe ich richtig? Es beginnt ein Gedankengang durch die Stunden des Tages von vor Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang, von den Anfängen der Lebensbetrachtung bis in die Gegenwart und darüber hinaus. Dieses Buch ist eine Einladung, die Suche nach der richtigen Richtung mitzugehen: im Nachdenken über Sinn und Sein, über die Lebensregeln des Wenigen und Wesentlichen sowie die klassischen Imperative der Schönheit, des Maßes und der Selbsterkenntnis.


    Der Autor
    John von Düffel, geb. 1966 in Göttingen, studierte Philosophie und promovierte über Erkenntnistheorie. Er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. (… gekürzt)


    Inhalt
    John von Düffel befindet sich in klösterlicher Abgeschiedenheit in Torri Superiore/Ligurien. In der „Klarheit der frühen Stunde“ eines Neujahrsmorgens beginnt er sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen, die im Tageslauf aufeinander aufbauen. Wie lebe ich richtig? Was brauche ich wirklich? Wie kann ich das Wesentliche erkennen? Was motiviert mich? Wie kann ich im Zeitalter Elektronischer Medien eine voreilige Entscheidung wieder rückgängig machen? Was hat Autarkie mit Unabhängigkeit von Konsum zu tun? Schließen sich Genuss und Verzicht aus? In welchem Verhältnis stehen Erzählen und Zuhören zu einer Geschichte? Dabei dreht er den Spieß eingeschliffener Redensarten auch um und fragt z. B. Ist der Weg wirklich das Ziel? Der Autor dokumentiert seine Gedanken u. a. in Wortpaaren, einige kaum noch ohne einander denkbar (Krise/Chance), andere (Wollen/Brauchen, Wünschen/Verzichten), über deren Inhalte er zum Nachdenken anregen will.


    Fazit

    Ein Stundenbuch, das ich umso wirksamer fand, je kürzer die Abschnitte waren, über die ich nachdenken konnte. John von Düffels Gedanken bilden matrixartig eine Netzstruktur, an deren Knotenpunkten mehr als nur Wortpaare miteinander verknüpft sind. Für den Autor als Langstreckenschwimmer treffen z. B. Training als Stein des Sisyphos auf Ehrgeiz, Zufriedenheit und Zeitlosigkeit. Mich hat der Cluster aus Wünschen, Konsum, Zufriedenheit und Stein des Sisyphos besonders angesprochen. Die Beschränkung auf die Buch-/Dateiform hat dabei meine Vorstellung von Matrix nicht überzeugend abbilden können.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Mein Lese-Eindruck:


    Der Autor befindet sich in einer eher kargen Unterkunft in den ligurischen Bergen und unternimmt dort am Neujahrstag eine Wanderung auf einen Berg. Er ist allein mit sich und der Natur, und das gleichmäßige Gehen lässt seine Gedanken entstehen und hält sie zugleich im Fluss. Jede Stunde unterbricht er daher seine Wanderung und notiert seine Überlegungen. Zumindest sieht so der berichtete äußere Rahmen dieses Buches aus.


    Der Titel dieses Buches ist ungewöhnlich: STUNDENBUCH. Eigentlich entstammt dieser Begriff der katholischen Liturgie und bezeichnet die Andachtsbücher, in denen der Gläubige für jede Stunde des Tages ein passendes Gebet fand. In diesem Stundenbuch geht es aber nicht um Gott oder religiöse Fragen, sondern – passend zum Neujahrstag und passend zu seiner Wanderung – immer um die Frage, wie der Mensch seine Lebensrichtung erkennen kann: also ein eher philosophisches Buch, das der Autor anreichert mit kurzen Berichten aus seinem Leben.


    Noch eines ist ungewöhnlich: der Text ist gesetzt wie ein Epos, kurze Zeilen, Absätze, Satzzeichen fehlen meistens. Diese Art der Schreibung hat mich zunächst gestört, weil sie den Lesefluss verlangsamt und immer wieder zum Zurücklesen auffordert, damit man die syntaktische Struktur erkennen und damit den Inhalt verstehen kann. Und genau das ist wohl die Absicht dieser Setzung: Jeder Satz, jeder Gedanke zählt, und das Folgende entwickelt sich aus dem Vorhergehenden, passend zur äußeren Situation der Wanderung. Jeder Satz und damit jeder Gedanken erhält sein Gewicht und fordert die Aufmerksamkeit seines Lesers ein. Als ich das verstanden hatte, war ich versöhnt.


    Alle Gedanken kreisen letztlich um ein Thema: die Suche nach dem Wesentlichen im Leben. Was ist wesentlich? Wie finde ich das Wesentliche für mein Leben? Wie lebe ich richtig? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Dabei geht es nicht um Konsumschelte, und Düffels Ziel ist auch nicht der Verzicht auf Konsum, sondern die Frage: was brauche ich für ein Leben, das für mich richtig ist? Diese Frage kann nur individuell beantwortet werden. Düffel generalisiert daher nicht, er gibt keine Ratschläge, sondern er lädt eher zum Nachdenken ein.


    Diesem „Asketen der Zukunft“ stellt Düffel den Asketen der Vergangenheit gegenüber. Dieser Asket hatte das Ideal eines "bedürfnislosen Leibes“ (S. 128), er verachtete alles Leibliche und Irdische als sündig und strebte die spirituelle Vereinigung mit Gott schon zu seinen Lebzeiten an. Dem stellt Düffel seinen Asketen der Zukunft gegenüber: „Er bejaht das Leben und das Leibliche / Doch nicht im Gegensatz zum Geistigen“(S. 130), er bejaht die Verbundenheit von Seele und Körper. Sein Ziel ist daher, dass sein Handeln seinem Denken entspricht und sein Wollen dem, was er braucht.


    Fazit: Dieses Buch ist kein Ratgeber, sondern ein kluges, nachdenkliches Buch mit vielen Gedankenanstößen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Das klingt ungewöhnlich, aber ansprechend. Danke Euch für die schönen Besprechungen!

  • Mein Eindruck:

    Ein Philosoph der seine Gedanken in Form eines Stundenbuches, wie man es aus der katholischen Kirche her kennt, aufnotiert. Allerdings nicht in religiöser Form. Es sind Gedanken zum Konsum, zum Leben und zum Sterben. Es geht um das Wesentliche im Leben. Das, was letzten Endes wirklich wichtig ist. Er stellt dieses in Vergleich mit denen des Asketen der Vergangenheit und dem der Zukunft. Interessant fand ich seine Gedanken über Ödipus, Sisyphos und Hiob.


    Das Stundenbuch ist in Form eines Epos gestaltet. Satzzeichen fehlen, Abschnitte waren für mich in ungewohnter Form gewählt. Daran musste ich mich anfänglich gewöhnen. Allerdings zwang mich das Format Sätze und Abschnitte wiederholt zu lesen. Oft ergab das eine neue und überraschende Blickrichtung. Es brachte mich dazu, konzentrierter zu lesen, was mir doch sehr gefiel. Es ließ mich innehalten und nachdenken.



    Fazit:

    Das Lesen dieses Buches hatte mir überraschenderweise einige der Fragen beantwortet, die ich mir in letzter Zeit gestellt habe. Womit ich nicht gerechnet, aber recht froh bin. Ich fand die Texte verständlich, allerdings sollte man sich auf jeden Fall Zeit mit dem Lesen lassen.


    Ich vergebe hier gerne 5 Sterne für ein doch intensives Leseerlebnis.

    Nimm dir Zeit für die Dinge, die dich glücklich machen.


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