Innenansichten einer der größten deutschen Dichterinnen
Mascha Kaléko stand und steht leider immer wieder im Schatten ihrer Kollegin Else Lasker-Schüler, ebenfalls jüdisch, und auf den ersten Blick so viel bekannter und bedeutender. Doch wer diese Romanbiografie gelesen hat, wird nicht mehr umhin können, die wahre künstlerische Größe dieser empfindsamen und beseelten Künstlerin anerkennen zu können. Die Autorin Indra Maria Janos hat sich mit diesem Buch einen Herzenswunsch erfüllt - auf jeder Seite wird deutlich, dass sie Mascha und ihre Gedichte liebt, und ihr eine neue Stimme verleihen möchte. Dies gelingt ihr auf tief berührende Weise.
Das Buch berichtet von 10 Jahren aus dem Leben der Mascha Kaléko, von - ungefähr - 1928 bis 1938 in Berlin. Eingerahmt wird dies von kurzen Vor- und Rückblenden, was die Geschichte nur umso tragischer macht. Berlin war der Ort, an dem sich Mascha heimisch fühlte, der ihr zu Ruhm und Ehre, aber auch zur Liebe verhalf. Und doch kommt sie nur für kurze, bittere Besuche zurück, um Jahrzehnte später den Verlust ihrer Heimat zu betrauern.
Das Buch verwebt gekonnt Zeitgeschichte mit emotionalen Situationen. So ist es teils Historie, teils Biographie; teils Drama, teils "coming- of-age"-Roman.
Mascha suchte ihr ganzes junges Leben lang nach Anerkennung, die ihr in ihrer Familie leider verwehrt blieb - zu sehr fiel sie aus dem Rahmen mit ihrer Lebendigkeit und Imagination. Scheinbar fand sie Halt in ihrer ersten Ehe mit dem älteren, aber auch biederen Saul Kaléko. Durch günstige Zufälle, aber auch durch Beharrlichkeit, schafft sie es in die literarischen Kreise Berlins. Der Leser ist hautnah dabei, wenn sie bekannte Persönlichkeiten trifft, und in Künstlerkreisen verkehrt. Doch langsam ziehen dunkle Wolken auf, in Gestalt von braunen Uniformen und schleichend sich verschlimmernden Gewaltausbrüchen auf den Straßen.
Emotional wird es für Mascha ebenfalls turbulent, da sie halb unbewusst in eine Dreiecksbeziehung schlittert, die nur unter Schmerzen aufgelöst werden kann. Chemjo Vinaver wird ihre große Liebe, wobei ein wenig offen bleibt, ob damit auch die wahre Zufriedenheit verbunden ist. Was Saul zu wenig hatte, hatte Chemjo zu viel! Hier leidet man, zumal als weiblicher Leser, unbedingt mit. Mascha wird als fehlbar geschildert, als Mensch mit zweifelhaften Entscheidungen. Doch die Autorin Janos tut dies mit so viel Feingefühl, dass Mascha trotzdem die wunderbare Künstlerin bleibt. Kongenial eingeflochten werden immer wieder originale Gedichte, die nun, vor dem privaten Hintergrund, ganz neue Facetten entfalten.
Endgültig begeisternd geschildert ist die zeitgeschichtliche Dimension des Romans. Man sitzt mit Mascha in Kaffeehäusern und bei Freunden im Verlag, dreht und wendet die Umstände mit ihr. Auswandern, ja oder nein? Erst relativ spät konkretisieren sich die Pläne Maschas. Es ist entsetzlich, aus heutiger Sicht zu wissen, was diese Verzögerung beinahe bedeutet hätte! Das Buch wird zum Drama.
Ich kannte die Gedichte von Mascha Kaléko bereits, und habe seit jeher die Zartheit, aber auch Weisheit ihrer Verse bewundert. Privat wusste ich so gut wie nichts. Nun ist mein Bild der Dichterin reicher, wenngleich auch nicht perfekter geworden. Das Kunststück der Autorin liegt darin, beides in der Waage zu halten - die Bewunderung für die Künstlerin, aber auch die Darstellung des fehlbaren, emotional zerrissenen Menschen. So ergibt sich ein faszinierendes, berührendes Porträt, das sicher auch dem Kaléko- Anfänger viel zu sagen hat. Hier kann nur eine uneingeschränkte Leseempfehlung erteilt werden! "Chapeau" für Indra Maria Janos.