Frans de Waal – Der Unterschied. Was wir von Primaten über Gender lernen können / Different: What Apes Can Teach Us About Gender

  • Klappentext/Verlagstext
    Unsere beiden nächsten Primatenverwandten, die Bonobos und die Schimpansen, stehen uns nahe und sind für unser Selbstverständnis wichtig. Witzig, ironisch und fesselnd behandelt der weltbekannte Primatenforscher Frans de Waal Themen wie Geschlechtsidentität, Sexualität, geschlechtsspezifische Gewalt, gleichgeschlechtliche Rivalität, Homosexualität, Freundschaft und Fürsorge.

    Wie unterschiedlich sind Männer und Frauen? Gendern nur wir Menschen, oder eignen sich auch Menschenaffen geschlechtsspezifische Rollen an? Auf der Grundlage jahrzehntelanger Beobachtungen von Primaten, insbesondere unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen und Bonobos, untersucht Frans de Waal, was wir über biologische Geschlechtsunterschiede und die Rolle von Kultur und Sozialisation wissen. Sein Fazit: Gender und Geschlecht unterscheiden sich, und Geschlecht ist mehr als ein soziales Konstrukt. Fachkundig und fesselnd räumt er nicht nur mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen auf, die auch von Wissenschaftlern viel zu lange gepflegt wurde. Ein hellwaches Buch, dass mit seinem Verständnis von Verhalten, Normen und den bemerkenswerten Potenzialen der menschlichen Spezies mehr als nur zum Nachdenken anregt. Ein Buch zum Umdenken – mit freundlicher Unterstützung von Menschenaffen und anderen Primaten.


    Der Autor
    Frans de Waal, geboren 1948, Biologe und Primatenforscher, Professor für Psychobiologie an der Emory University und Direktor des Yerkes National Primate Research Center in Atlanta. De Waal ist durch zahlreiche populärwissenschaftliche Buchveröffentlichungen bekannt geworden und wurde vom »Time Magazine« in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten aufgenommen.


    Inhalt

    Frans de Waal hat mit der Erforschung der Gruppenprozesse in Primatengruppen sein Lebensthema gefunden. Er forschte in Burgers Zoo/Niederlande, im San Diego Zoo, im Kongo, Tansania, Uganda und er ist weltweit mit Primatenforschern vernetzt. Seine Forschung befasst sich mit dem Zusammenleben von Primaten als Schwestern- und Bruderschaften, insbesondere mit Konkurrenz, Hierarchie, Gerechtigkeit, Führungsstärke, Empathie und Lernen durch Nachahmen. Geschärft wird de Waals Gegenüberstellung Mensch/Primaten in diesem Buch durch die Wahl zweier gegensätzlicher Populationen, (kämpferischen) Schimpansen und (sanfteren) Bonobos.


    Frans de Waal betont, dass er als Verhaltensbiologe nicht wertet, sondern beobachtet und dokumentiert. „Der Unterschied“ stellt menschliches Verhalten dem von Primaten gegenüber und arbeitet heraus, wie Natur und Kultur Verhalten prägen. Seine Erkenntnis, dass Kinder und junge Primaten nicht als „unbeschriebene Blätter“ zur Welt kommen, kann erheblich zur Entschärfung der Genderdebatte beitragen. Liebenswürdig und respektvoll im Ton, merkt man dem Autor seine Hingabe an die Primatenforschung an. Er kritisiert allerdings schnörkellos, dass die Genderdebatte Offensichtliches wertet oder bestreitet, was ihm als Verhaltensforscher fremd ist. Ebenso deutlich listet de Waal Irrwege seiner Profession auf, das Experiment Bruce/Brenda (einen Jungen ohne Penis gegen seinen Willen als Mädchen aufzuziehen) und den langjährigen Gender Bias in der Verhaltensbiologie. Die Verzerrung von Beobachtungen durch persönliche Rollenzuschreibungen männlicher Primaten-Forscher wurde nach de Waals Ansicht zu lange geduldet. Wohl nicht zufällig stammten abweichende Beobachtungen und Interpretationen von Frauen (z. B. Jane Goodell) und japanischen Forschern (= kleineren und weniger dominanten Kolleg*innen) und wurden auf Fachkongressen zu lange ignoriert. Dass der Autor sich seiner Sozialisierung in einer Gruppe von 6 Brüdern nur zu bewusst ist, hat sicher zu seinem Interesse an Gruppenprozessen bei Primaten beigetragen. De Waal selbst ist das lebende Beispiel seiner Forschungsergebnisse zu Natur contra Kultur in der Entwicklung von Menschen- und Primatenkindern. Dass er sich schon immer für Tierverhalten interessierte, ist seine Natur, in Gruppen eine ausgleichende, de-eskalierende Rolle zu spielen, hat er in der Geschwisterreihe erlernt.


    De Waal erzählt anschaulich, dass junge Affen sich Vorbilder vom gleichen Geschlecht suchen, die sie nachahmen - weil es ihre Natur ist. Diese Wahl ist angeboren, sie wird von Belohnungssystem des Gehirns gesteuert, der Nachwuchs sozialisiere sich damit selbst, so de Waal. Affenmädels interessieren sich für Babys und Affenjungen für Toben und spielerische Rangkämpfe. Primaten unterscheiden sich allerdings deutlich vom Menschen durch ihre Toleranz gegenüber homosexuellen Handlungen und gegenüber nicht genderkonformem Verhalten. Sehr berührend fand ich de Waals Beschreibung der jungen Donna, die einen kräftigen Körperbau hatte, sich mehr für Raufen als für Babys interessierte und niemals schwanger war. Donnas Lebenslauf bestätigt, dass es bei Primaten weibliches, männliches und überlappendes Verhalten gibt, das von der Norm der Peer-Group abweicht. Dass Primaten-Weibchen angesehene Anführerinnen sein können und Männchen bei Bedarf verwaiste Jungtiere adoptieren, gehört zum toleranten Primaten-Kosmos selbstverständlich dazu.


    Fazit

    De Waal zeigt mit der Gegenüberstellung zweier Primatenarten (Schimpansen und Bonobos) und uns Menschen, dass Denken und Fühlen nicht nur unsere freie Entscheidung und dass die Vorstellung von Kindern und Primatennachwuchs als „unbeschriebenes Blatt“ nicht mehr haltbar ist, wenn wir uns mit Primatenforschung befassen. Unser Augenmerk sollte vielmehr darauf liegen, welche Vorteile das Gruppenleben von Primaten ihnen zum Überleben ihrer Art verschaffen kann.


    Durch die Form der anteilnehmenden Beobachtung lässt sich „Der Unterschied“ auch von Laien problemlos weglesen. Ein berührendes, tolles Buch!


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Wenn ich ehrlich bin, dann hat mich der Untertitel gepackt – das ist schon ziemlich toll formuliert und macht neugierig.

    Selten ist meine Neugier so reichhaltig belohnt worden!


    Tatsächlich hat sich der Autor (ein niederländischer Primatologe – also Menschenaffen-Forscher) in diesem Buch die Aufgabe gestellt, sich dem spannenden und hochkontroversen Thema „Sex und Gender“ (also biologischem Geschlecht und empfundener Geschlechtsidentität) über den Umweg über unsere direktesten biologischen Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, zu nähern. Wobei „Umweg“ schon ein problematischer Begriff ist: Für de WAAL ist es ziemlich naheliegend, die reichhaltigen Forschungsergebnisse aus der Primaten-Welt zu nutzen, um sich den biologischen Grundlagen bzw. Einflussfaktoren unserer menschlichen Geschlechtlichkeit zu nähern.


    Diejenigen, die jetzt am liebsten gleich mit großem Getöse über eine „biologistische“ Grundhaltung herziehen möchten, in der die Unterschiede zwischen den „instinktgesteuerten“ Tieren und dem „Kulturwesen“ Mensch missachtet würden, haben mit de WAAL einen schwierigen Gegner. Der Autor leugnet gar nicht, dass weitreichende Unterschiede bestehen; er arbeitet sie selbst sorgfältig heraus. Doch genauso klar und eindeutig stellt er jede Menge eindrucksvoller Belege dafür dar, dass wir hinsichtlich unserer Grundprägung als weibliche bzw. männliche Lebewesen unsere biologische bzw. evolutionäre Basis ganz sicher nicht außer acht lassen können. Sinngemäß sagt er an einer Stelle: „Wer seine biologische Prägung verleugnet, läuft vor sich selbst davon.“


    Der Autor legt ein extrem facettenreiches, lebendiges und engagiertes Sachbuch vor, in dem seine Leidenschaft für die Erforschung der Primaten permanent spürbar ist. In einem Kapitel über seine Kindheit lädt er uns ein, seine persönliche Motivation für die Tierforschung aufkeimen zu sehen. In zahlreichen Einblicken in Forschungssettings bringt er sich als unmittelbarer Beobachter und Interaktionspartner seiner Lieblingstiere ein und lässt dabei seine emotionale Beteiligung nicht außen vor. Natürlich werden auch zahlreiche Befunde anderer Forscher/innen exemplarisch dargestellt und eingeordnet.

    Gleichzeitig zeigt er sich als ein liberaler Humanist, der sich immer wieder gegen jede Form von Diskriminierung (bzgl. Geschlecht, Gender oder sexueller Präferenz) wendet – und zwar völlig unabhängig davon, ob es nun Hinweise auf die Bedeutung biologischer Faktoren gibt (oder nicht).


    Das wirklich Besondere dieses faszinierenden Sachbuches liegt darin, dass de WAAL eben nicht bei der Tierforschung stehen bleibt, sondern sich gezielt deren Aussagekraft für die Grundfragen von Sex und Gender zuwendet. Das tut er nun aber eben nicht durch irgendwelche gewagten Analogieschlüsse, sondern auch unter Rückgriff auf Befunde und Erkenntnisse aus der „Menschenforschung“.

    Das führt zu der wirklich bemerkenswerten Tatsache, dass man sich in diesem Buch tatsächlich auf den neuesten Stand der Forschung in Fragen von geschlechtsspezifischen Unterschieden, Transgender und sexueller Orientierung bringen kann – wohlgemerkt nicht bei Primaten, sondern bei uns Menschen!

    Im Grunde hat dabei die Primatenforschung dabei eher eine Hilfsfunktion: Da, wo der relative Anteil der biologischen bzw. kulturellen Einflüsse besonders strittig ist, guckt der Autor einfach zu unseren behaarten Verwandten – und schafft damit in vielen (nicht in allen) Fällen zusätzliche Klarheit.


    Mal ein paar Beispiele?

    Ohne Zweifel ist die Präferenz von Mädchen zum Puppenspiel und zum Interesse an Babys (denen sie auch mit deutlich mehr Empathie begegnen) evolutionär fest angelegt (wobei interessanter Weise auch Affenweibchen Fürsorge und Pflege von erfahrenen Müttern lernen müssen – es ist nicht instinktmäßig programmiert).

    Dass Menschenjungen nicht nur körperlich (muskulär) überlegen sind, sondern auch ruppigere soziale Umgangsformen haben, auf Rivalität und Status ausgerichtet sind und mehr Gewalt ausüben, liegt ganz sicher auch an unserem gemeinsamen biologischen Erbe.

    Deutliche Zweifel ergeben sich durch die Primatenforschung an den grundsätzlich Prägung zu harmonischeren Sozialbeziehungen des weiblichen Geschlechts: Dort verlaufen die Konflikte nur weniger offensichtlich.

    Ganz eindeutig wird die (gelegentlich noch geäußerte These) widerlegt, in der Natur wären – aus Gründen der Fortpflanzungs-Logik – nur heterosexuelle Spielarten der Sexualität bekannt; das Gegenteil ist der Fall (nicht zuletzt bei den Primaten).

    Bei aller Eindeutigkeit wird aber auch deutlich, dass schon allein die Verschiedenheit zwischen den beiden engsten Verwandten (Schimpansen und Bonobos) der Herleitung menschlicher Prägungen aus dem biologischen Erbe Grenzen setzt. Amüsant ist in diesem Zusammenhang auch, mit welchen ideologischen Vorbehalten die – zunächst männlich dominierte – Forschergemeinschaft auf Befunde von weiblicher Dominanz und (von beiden Geschlechtern) genussvoll ausgelebter Sexualität reagierte – die dann zu allem Überfluss auch von Primaten-Wissenschaftlerinnen publiziert wurden.


    Sehr sympathisch und geradezu modellhaft ist die Grundhaltung des Autors: Auf keiner Seite des ideologischen Spektrums sollten die Augen vor biologischen Tatsachen verschlossen werden. Eine fortschrittliche und tolerante Haltung bei der Gleichstellung von Geschlechtern und beim Respekt vor sexuellen Minderheiten sollte nicht auf der Basis einer Biologie-Ignoranz beruhen – denn das wäre ein sandiger Boden, der nicht auf Dauer tragfähig sein könnte.

    Für de WAAL braucht die Gleichwertigkeit keine Gleichheit; es gibt also überhaupt keinen Grund, tatsächliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu verleugnen.

    Wissenschaftlich geklärt ist für ihn die Tatsache, dass sexuelle Orientierung und Genderidentität als fester und unveränderlicher Teil unserer Persönlichkeit angelegt sind.

    Insgesamt verbreitert dieses Buch auf eine sehr spezielle Weise den Horizont. Dabei bietet sich ein enormes Spektrum an Einblicken und Erkenntnissen – von konkreten Verhaltensbeschreibungen einzelner Primaten-Communities bis zur aktuellen Forschung über Zusammenhänge zwischen Hirnanatomie und Gender-Identität. Manche Befunde und Aussagen sind so erhellend und weitreichend, dass man sich zwischendurch die Augen reibt: Das alles liest man ausgerechnet in einem Buch eines Primatologen?!

    Vielleicht fällt es einem Tierforscher inzwischen tatsächlich leichter, bestimmte biologische Selbstverständlichkeiten als solche zu benennen – gerade weil man sich nicht unmittelbar in der aufgeladenen Gender-Debatte bewegt (also eine hilfreiche Außenperspektive einbringen kann).


    Ich gebe diesem Werk eine (fast) uneingeschränkte Empfehlung; allerdings muss man auch bereit sein, sich auf die ein oder andere längere Verhaltensschilderung einzulassen (die man vielleicht nicht zwingend so ausführlich gebraucht hätte.)