Dörte Hansen - Zur See

  • Kurzmeinung

    Lavendel
    Gewohnt großartiger Schreibstil, tolle Beschreibung von Land & Leute. Leider hat mir der Schluss gar nicht gefallen.
  • Kurzmeinung

    eigenmelody
    Es gibt 2 mögliche deutsche Kandidaten für den Lit-Nobelpreis. Dörte Hansen und Daniel Kehlmann
  • Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens.


    So beginnt Dörte Hansens dritter Roman „Zur See“, in dem sie von Umbruch, wegbrechenden Traditionen und ungewisser Tourismuszukunft einer Nordseeinsel erzählt.

    Auf dieser Insel lebt schon seit Generationen die Familie Hansen, im schönsten Haus, und dem einzigen mit dem Walfischknochenzaun. Vater Jens, einst Kapitän auf einem Walfischfangschiff wie auch seine Vorfahren, hat nach dem Karriereende der Familie den Rücken gekehrt und verbringt die Jahre als Einsiedler und Vogelwart auf der Insel Driftland. Mutter Hanne hingegen öffnete das Haus zu den Anfangszeiten des Tourismus für Sommergäste, doch das ist lange her. Ryckmer, ältester Sohn, folgte anfangs der Familientradition und wurde Kapitän. Traumatisiert von einem Ereignis auf See, verliert er sich allerdings im Suff und braucht die mütterliche Stütze, um zu überleben. Eske, die einzige Tochter, ist in der Altenpflege tätig. Mit ihrem Körper voller Tätowierungen und einer Vorliebe für laute Punkmusik passt sie so gar nicht auf die Insel. Nur Henrik, der jüngste, scheint die Insel wirklich zu lieben. Er ist Künstler und entwirft von Treibgut, das die Nordsee jeden Tag an den Strand spült, Skulpturen, für die Festländer viel Geld bezahlen.

    Als ein Wal an den Strand gespült wird, kommt Bewegung in die so ruhig wirkende Insellandschaft. Es scheint, als ob dieses Ereignis die Familie Hansen wieder ins Lot bringen kann.


    Jetzt sind sie wieder da, die Sonnenhungrigen und Trostbedürftigen und an den Seemannsgräbern Seufzenden.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Ihr dritter Roman ist anders, so erzählt es die Autorin in einem Interview mit Literaturcafè; er unterscheidet sich, so sagt sie, in der Struktur und im Erzählton von den beiden Vorgängern. Dieses Mal lässt sie ihre Geschichte mit der Anreise auf eine Insel in der Nordsee beginnen. Auf der Fähre steht er, Ryckmer Sander, ein Seemann wie aus dem Bilderbuch, fesch in seiner Uniform mit Messingknöpfen. Er steht stellvertretend für einen Teil der Inselbrauchtum, die es nicht mehr gibt. Und so wie Ryckmer für eine untergehende Walfängertradition steht, sind den anderen Familienmitgliedern und dem Inselpastor Rollen zugeteilt, die einen Wandel erzählen, der gerade stattfindet, nüchtern, schnörkellos und kühl dargeboten, mit wenigen empathischen Szenen.


    Seit damals fühlt er sich mit der Familie Sander mehr verbunden als mit jeder anderen Familie auf der Insel. Er hat gesehen, wie sie auseinanderfiel.


    Dörte Hanser hat ihrer Nordseeinsel mit dem Tourismus eine neue Richtung gegeben. Auch wenn hier einige das Negative der Veränderung hervorheben, bin ich überzeugt, dass die Zukunft nicht so tragisch sein wird. Die positiven Entwicklungen, die der Tourismus mit sich bringt, werden einhergehen mit großen Befreiungen von dem, was von der Tradition belastet.


    Die Pendelfähre ist das Metronom, nicht nur für ihn, für alle Inselleute.


    Fazit

    Dörte Hanse beschreibt in ihrem Roman Zur See ein Inselleben im Umbruch. Ihren Romanfiguren brechen die traditionellen Rollen weg und richtungslos müssen sie einen neuen Kurs finden. Tiefgreifende Veränderungen in der Inselgesellschaft, die den Verlust des Alten und den Aufbruch ins Neue vereinen, sind im Gange. Das zu erzählen, ist ihr durchaus gelungen.

    Schade nur, dass mit dem Fokus auf den Umbruch, das Zwischenmenschliche in der Erzählung verloren gegangen ist. Jeder scheint für sich alleine zu kämpfen, von familiärerer oder gesellschaftlicher gegenseitigen Hilfe oder Wärme steht nicht viel und so bleibt für mich ein Gefühl, dass dem Buch die Seele fehlt.


    Man glaubt, wenn man auf einer Insel aufgewachsen ist, an die Gezeiten und den Fahrplan einer Fähre.

  • Eine kleine Insel in der Nordsee. Hier leben Hanne Sander und ihre Familie. Früher galt ihr Haus für ihre Sommergäste als heile Welt , in die man Jahr für Jahr gerne zurückkehrte. Jetzt machen die Besucher lieber einen Kurzurlaub mit Wellness, als in das gemütliche Haus zurückzukehren. Ohnehin ist es mit der Gemütlichkeit schon lange vorbei. Der Vater hat die Familie verlassen und lebt als Vogelbeobachter in einer kleinen Hütte, der älteste Sohn hat sein Kapitänspatent verloren und arbeitet jetzt auf der Fähre. Die Tochter ist Altenpflegerin und der jüngste Sohn ein Künstler, der mit Strandgut arbeitet. Eine Familie sind sie fast nur noch dem Namen nach, jeder lebt für sich.


    Fast könnte man meinen, es passiert nicht viel in dem Buch, denn anfangs wirkt Zur See wie eine Beschreibung von Hannes Alltag und ihre Gedanken. Ihr Jüngster hat Geburtstag, sie strickt ihm wie jedes Jahr einen Pullover und wird später mit ihm feiern gehen. Aber gerade aufgrund ihrer Gedanken und Erinnerungen entwickelt sich langsam die Geschichte. Jedes der Kinder erzählt seine Geschichte und mit diese Gedanken und Erinnerungen malen ein Bild mit vielen Farben, von denen auch viele dunkel sind.


    Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Hanne ihre Familie anders sieht, als die übrigen Familienmitgliedern. Und weil sie das tut, hat sie nicht immer das nötige Verständnis für die Entscheidungen, die Kinder und Mann getroffen haben. Das bedeutet nicht, dass sie einander nicht lieben. Aber für mich war die Familie Sander eine Familie nur dem Namen nach. Innerhalb dieses Konstrukt war jedes einzelne Mitglied alleine, vielleicht auch, weil sie nicht miteinander reden.


    Überhaupt wird im Buch wenig geredet. In meiner Ausgabe fällt auf Seite 46 der erste direkte Satz. Vielleicht muss man am Meer nicht viel reden. Aber wenn man so wenig miteinander redet, wie in diesem Buch, kann keine Gemeinsamkeit entstehen.


    Ich hatte vor der Lektüre viel über Zur See gelesen und alle schienen begeistert zu sein. Deshalb war meine Erwartungshaltung schon hoch, aber sie wurde noch übertroffen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Oh mein Gott! Es war nicht zu erwarten, dass Dörte Hansen einen Schönwetterroman schreibt, das konnte ich nach „Mittagsstunde“ und „Altes Land“ nicht erwarten. Entstanden ist ein Nordseeinselsturmroman.

    Von jeder Nordseeinsel etwas und eine schonungslose, oder besser gesagt eine vernichtend offene Charakterstudie der Insulaner (die fast alle vom Tourismus leben). Die Mundwinkel nach oben ziehen geht überhaupt nicht, könnte je jemand sehen, dass es etwas zu lachen geht. Dann schon lieben in stumpfen Fatalismus verfallen, der kann offen zur Schau gestellt werden. Die Insulaner suhlen sich in ihrer schicksalhaften, dumpfen Ausweglosigkeit.


    Bereits zu Beginn wird uns die Familie Sander vorgestellt. Ryckmer, einst Seefahrer, degradiert zum „Fährenkapitän“ friert aus Scham und säuft dafür, wird von seiner Mutter Hanne an der Mole abgeholt. Beide schweigen, still wie eine glatte See.

    Sukzessive stellt uns Hansen den Rest der Familie und die restlichen Insulaner vor. Vom Leben gezeichnet sind alle, liebes- und kommunikationsunfähig. Schwester Eske, Inselaltenpflegerin, dröhnt sich mit Heavy Metall zu, vom Scheitel bis zur Sohle mit Tattoos bestochen und leidend an unvollendete Liebe zu Freya. Der jüngste, barfüßige Bruder Henrik, verwertet künstlerisch den angeschwemmten Schrott. Vater Jens, weder Vater noch Ehemann, für 20 Jahre in einem Deich-Häuschen „Vogelkönig“. Kehrt zu seiner Frau zurück, na wie schon, kommentarlos und kommunikationsunfähig. Dialoge in Seltenheitsform.

    Inselpastor Matthias Lehmann, mit sich und seinem Gott nicht im Reinen, von seiner Frau Katrin verlassen, wobei fraglich, ob die Insel oder ihren Mann.


    Das Paradoxe am Norden ist, dass die See für die Insulaner bedrohlich und tödlich ist, für die Inselbesucher aber eine enorme Anziehungskraft besitzen. Und sie spielen mit, Kinderzimmer werden vermietet, sich den Gästen anbiedern, dann abzocken, zum Abschied mit der einen Hand winken, währen die andere geballt in der Hosentasche.


    Hansens Anspielungen haben Format: Ein junger Pottwal wird angeschwemmt. Wenn schon die Inselmänner nicht mehr auf einem Walschiff fahren oder zumindest nicht beim Walfang ersaufen, dann kommt der Wal auf die Insel.


    „Und alle wissen, dass die See nicht gut oder böse, sondern beides, eine unberechenbare Mutter, die man liebt und fürchtet. Die ihre Kinder wiegt und füttert und mit ihnen spielt und manchmal untertaucht und frisst“ (S. 157).


    Dörte Hansen ist eine nicht teilnehmende Beobachterin – auktorial. Erzählt intensiv, greift das unbequeme Thema des sich verändernden Nordens auf.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • Das Buch fokussiert sich langsam von einer quasi "fernen, allgemeineren Sicht" in einer Annäherung an spezifische Leben auf einer Insel. Diese Annäherung fand ich echt gut und interssant.


    Das Leben auf der Insel spielt in der Opposition zwischen Touristen und dem Leben der Einheimischen, die anscheinend zwar von eben diesem Tourismus leben, aber eben diesen auch fast höhnisch ablehnen. Diese negative Sicht setzte mir zu. In gewissem Sinne ist sehr vieles ziemlich dunkel gefärbt, bis einschliesslich Ende.


    Deswegen kann ich dem Buch auch nur höchstens dreieinhalb Sterne geben, angesichts so manch anderer tollen Leseerlebnisse des Jahres.