Rebecca Pert - Raue Wasser / Still water

  • Jane ist vor Jahren auf die Shetlandinseln zurückgekehrt, auf denen sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Es war keine glückliche Heimkehr, sondern eine Flucht. Eine Flucht vor der Krankheit ihrer Mutter, die verschwunden war als Jane ein Teenager war. Damals lebten sie in England, aber sobald Jane konnte, kehrte sie zurück auf die Inseln ihrer Kindheit, wo sie sich sicher fühlt. Sie hat einen Mann, der sie liebt, Arbeit und ein Zuhause. Für sie ist das genug, aber dann holt ihre Vergangenheit sie auf eine Weise ein, wie sie es nie erwartet hat.


    Auch wenn die Geschichte auf den Shetlands spielt, beginnt sie doch in England, am See von Crowholt. Die Autorin beschreibt eine Szene im Herbst, wo der Nebel auf dem Wasser liegt und die Vögel langsam in den Süden ziehen. Über mehrere Wochen liegt der See ruhig da, bis er sein Geheimnis preisgibt. Diese Szenen sind wunderschön beschrieben. Ich konnte mir den See genau vorstellen, wie er von Bäumen umgeben daliegt und die Jahreszeiten an ihm vorüberziehen.


    Ganz anders wird Janes Leben auf den Shetlands beschrieben. Hier verwendet die Autorin keine unnötigen Worte. In knappen Worten beschreibt sie Janes Leben und vor allem ihre Arbeit in einer Fabrik, in der Fische verarbeitet werden. Der Kontrast zum See von Crowholt könnte nicht größer sein.


    Anfangs habe ich nicht viel von Jane erfahren. Mein erster Eindruck von ihr war, dass sie sich nicht zugesteht, glücklich zu sein. Sie ist mit Mike zusammen, aber sie traut ihrem Glück nicht ganz und lässt ihn emotional nicht an sich heran. Auch zu ihren Kolleginnen hat sie kaum Kontakt. Die einzige Freundin, die sie hat, ist die alte Nachbarin ihrer Mutter.


    Jane lebt im Jetzt. Ihre Zukunft kümmert sie nicht und über ihre Vergangenheit will sie nichts wissen. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob sie wirklich auf den Shetlands bleiben oder vielleicht doch nach Spanien auswandern will.


    Aber jetzt muss sie sich ihrer Vergangenheit stellen. Im See von Crowholt wird die Armprothese ihrer Mutter gefunden. Der Fund kommt für Jane zu einer Zeit, in der sie ohnehin emotional angeschlagen ist und wirbelt ihr Leben durcheinander. Wieder denkt sie an Flucht und will alles hinter sich lassen. Als sie das erste Mal wieder in ihr Elternhaus geht, weil sie es verkaufen will, findet sie dort die Tagebücher ihrer Mutter.


    In den Tagebüchern lernt sie eine neue Seite ihrer Mutter kennen. Sie kannte sie nur als verzweifelte Frau, hier erlebt sie sie als junges Mädchen und erfährt ihre Geschichte. Sie kann in der jungen, verliebten Frau aus den Tagebüchern kaum die Frau erkennen, die sie als ihre Mutter kannte.


    Auch wenn die Rahmenbedungen des Lebens von Mutter und Tochter gleich sind, muss sich für Jane die Geschichte ihrer Mutter für Jane nicht wiederholen. Es dauert lange, bis Jane das erkennt. Wo die Mutter keine Hilfe bekommen konnte, weil sie eine Fremde auf den Shetlandinseln war, die aufgrund der Geschichte ihrer Liebe dort lange Zeit nicht willkommen war, hat Jane Freunde gefunden, die sich um sie kümmern. Die Medizin hat seit Janes Geburt Fortschritte gemacht, so dass auch die psychische Krankheit, die für ihre Mutter ein unüberwindliches Hindernis war, für Jane zu meistern ist. Aber wird sie es schaffen, aus dem Schatten ihrer Vergangenheit herauszutreten und ein Leben ohne die Last der Erinnerungen zu führen?


    Fazit

    Raue Wasser ist mehr als nur die Geschichte einer Frau, die vor ihrer Vergangenheit flieht. Je mehr Jane in den Tagebüchern ihrer Mutter liest, desto mehr Facetten bekommt ihre Geschichte. Nicht nur Jane, sondern auch ich musste vieles hinterfragen, was ich vorher gelesen hatte. So hat mich die Geschichte auf ihre leise Art immer mehr in ihren Bann gezogen und mich bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

  • Klappentext:


    Ein traurigschöner Debütroman über Familie und Traumata, Erlösung und Neuanfänge vor der Kulisse der einsamen Shetlandinseln


    Jane ist ihr Leben lang vor ihrer Vergangenheit geflohen, aus Angst, die psychische Krankheit ihrer Mutter Sylvia geerbt zu haben. Die ist verschwunden, als Jane noch ein Teenager war.


    Jetzt lebt Jane in einem Trailer in einer windumpeitschten Ecke auf den rauen und einsamen Shetlandinseln, arbeitet in einer Fischfabrik und verbringt stille Abende zuhause, gemeinsam mit Mike, dem ersten Menschen seit vielen Jahren, dem sie sich ein bisschen öffnet.


    Als die Leiche ihrer Mutter gefunden wird, kommt die verdrängte Erinnerung an den Tag wieder hoch, an dem vor vielen Jahren ihr kleiner Bruder starb. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, und ihr bleibt keine andere Wahl, als sich ihren Dämonen zu stellen.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und setzt zwei Erzählstimmen ein. Auf der ersten Zeitebene erzählt eine junge Frau, Sylvia, in ihrem Tagebuch von ihrem Leben auf der kargen Shetland-Insel Unst und vor allem von ihrer psychischen Erkrankung, die zu schrecklichen Ergebnissen führt. Die zweite Zeitebene befindet sich in der Jetztzeit. Sylvias Tochter Jane findet die Tagebücher ihrer Mutter und durchlebt damit ihre Kindheit noch einmal. Und so gelingt es ihr, sich ihrer Traumatisierung zu stellen und sie in ihr Leben zu integrieren.


    Der Roman ist spannend und durch die beiden Erzählstimmen auch sehr kurzweilig zu lesen. Die unwirtliche, karge Kulisse der Shetland-Insel, vor der die Handlungen sich abspielen, ist sehr schön gewählt, da die innere Verfassung der beiden Protagonistinnen sich hier widerspiegeln. Dazu passt auch der Titel „Raue Wasser“, der sich nicht nur auf die Affinität der Hauptfiguren zur See bezieht, sondern ebenso metaphorisch zu verstehen ist: Sowohl Sylvia als auch ihre Tochter haben raue Zeiten zu durchleben.


    Die Themen sind ausgesprochen dramatisch: Einsamkeit, Depression, Halluzinationen, innere Stimmen, Suizide, Eifersucht und Trennung, blutige Unfälle, Traumatisierung, schwierige Geburt, Mord und einiges andere. Man merkt es vielleicht schon: mir war es zu viel Drama. Wäre etwas weniger nicht mehr gewesen? Vor allem gegen Ende des Buches geht es recht melodramatisch zu. Die Autorin nimmt dafür Längen in Kauf, die für die Handlung nicht wesentlich sind wie z. B. die langatmige Schilderung einer Geburtsszene. Gelegentlich fehlt auch der innere Zusammenhang der einzelnen dramatischen Blöcke – leider kann ich keine Beispiele geben, ohne zu spoilern. Nur ein eher nebensächliches Beispiel: es wirkt nicht überzeugend, wenn sich die Mutter einer verlassenen Verlobten aufopferungsvoll um deren Nachfolgerin kümmert.


    Trotz dieser dramaturgischen Schwächen habe ich den Roman gerne gelesen! Ein Roman zum Schmökern. Und ein Debut, das neugierig macht.


    Fazit: ein hochdramatischer Schmöker um ein Trauma und seine Überwindung.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb:

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).