Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee

  • Kurzmeinung

    Marie
    Zum 3. Mal beweist Rothmann, dass der Krieg auch das Leben der Überlebenden zerstört
  • REZENSION - „Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, … seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte“, schreibt der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller Ralf Rothmann (69) zu Beginn seines im Juli beim Suhrkamp Verlag veröffentlichten Romans „Die Nacht unterm Schnee“. Mit diesem Buch schließt er nach „Im Frühling sterben“ (2015) und „Der Gott jenes Sommers“ (2018) seine autobiografisch geprägte Trilogie über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit ab. Dieser dritte Band lässt sich zwar auch ohne die beiden ersten gut lesen, doch wäre deren vorherige Lektüre zum besseren Verständnis der drei wichtigsten Charaktere hilfreich. Bestimmte den ersten Band die Zwangsrekrutierung des 17-jährigen Melker-Lehrlings Walter Urban, waren es im Folgeband die 12-jährige Luisa Norff und deren Erlebnisse kurz vor Ende des Kriegs, steht nun im abschließenden Band das durch Flucht und Vergewaltigungen geprägte Leben von Elisabeth Urban im Vordergrund, die nach dem Krieg in der Ehe mit Walter vergeblich Halt zu finden sucht.

    Aus Luisas Erzählungen über gemeinsame Jahre in Schleswig-Holstein im Restaurant der Mutter, in dem Elisabeth als Büfettkraft arbeitet, während ihr Verlobter Walter Melker auf einem Gutshof ist, aus späterer Korrespondenz beider Frauen sowie aus Luisas Eindrücken und Erleben bei späteren Besuchen des Ehepaares auf dem Gutshof und schließlich im Ruhrgebiet, wo Walter nun als Bergmann arbeitet, erfahren wir vom hoffnungslosen Versuch des kriegsgebeutelten Paares, in den Jahren 1945 bis 1980 ein irgendwie erträgliches Leben zu führen. Nicht die Liebe, sondern die Schrecken der Vergangenheit haben beide ein Paar werden lassen. „Während der stille Walter sich mit seiner Geschichte [im Bergbau] unter Tage vergrub …., vermied seine Frau es, zur Besinnung zu kommen …“. Die hart arbeitende Frau und Mutter zweier Kinder tanzt auf jedem Volksfest und in Bars, um Durchlittenes zu vergessen.

    Rothmann thematisiert in seinem Roman, wie die Kriegserlebnisse nicht nur die Seelen vieler Menschen jener Generation geschädigt hat, sondern auch in den Generationen der Kinder und Enkel nachwirken kann. Es geht um die Unfähigkeit der Betroffenen, aus eigenen Gewalterfahrungen zu lernen. So versucht Walters und Elisabeths inzwischen zum Schriftsteller gewordener Sohn Wolf, ein literarisches Selbstbildnis des Autors Ralf Rothmann, das Verhalten der gelegentlich gewalttätigen Mutter sich zu erklären: „Aus Frust über die freudlose Ehe oder auch aus Wut über seine [Walters] Vorwürfe und Drohungen … packte sie mich, das kleine Abbild ihres starken Mannes, bei den Haaren, um meinen Kopf gegen den Spülstein zu schlagen.“

    Es ist die erschreckende Vorgeschichte der mehrfach Vergewaltigten, die die eigentlich lebensfrohe Elisabeth in jungen Jahren hart und verbittert werden ließ. „Ach Mensch, was hätte nicht alles werden können ohne diesen ollen Krieg.“ Nachdem ein Selbstmordversuch scheitert, nimmt sie auf ihre Art auf Volksfesten und in Tanzschuppen Rache an den Männern, indem „sie sich kühl berauschte an diesem einen eruptiven Moment der Schwäche, den sich die Männer nach Feierabend in ihren Armen leisteten. Der gab ihr eine gewisse Macht und damit zeitweise das ersehnte Selbstwertgefühl ….“

    Ralf Rothmann schreibt in einfühlsamen, stellenweise auch in unerbittlichen Worten und in Einzelheiten geschilderten Milieu- und Alltagssituationen über die Sehnsüchte der verlorenen Generation. Als älterer Leser vermag man sich nur zu gut in die vom Autor sehr authentisch wiedergegebene Atmosphäre und Szenerie jener Nachkriegsjahre einfühlen, als viele Eltern nur vergessen oder verdrängen wollten und auf Fragen der Kinder schwiegen. Man erinnert sich noch an die damals modern wirkenden Wohnungseinrichtungen, die Kleidung, die Musiktitel. Doch der unbedingt lesenswerte und preiswürdige Roman „Die Nacht unterm Schnee“ ist nicht nur Rückschau auf vergangene Zeiten. Er ist auch ein aktueller Roman angesichts der vielen Verzweifelten in heutigen Kriegsgebieten, der auch jüngeren Lesern unbedingt zu empfehlen ist.

  • Dieser gelungenen und hervorragenden Erstrezension ist nicht viel beizufügen außer den eigenen, persönlichen Eindrücken. Buchbesprechung bringt sehr gelungen auf den Punkt, worum es dem Autor in seinem Buch geht.


    Dieser dritte Band lässt sich zwar auch ohne die beiden ersten gut lesen, doch wäre deren vorherige Lektüre zum besseren Verständnis der drei wichtigsten Charaktere hilfreich.

    Ich habe die ersten Bände nicht gelesen, hatte aber überhaupt keine Schwierigkeiten, die verschiedenen Charaktere zu verstehen und in die Geschichte einzudringen und abzutauchen. Das mag aber auch daran liegen, dass ich, obwohl erst in den 60ern geboren, eng gesehen eines der Kriegskinder bin, da meine Eltern (Jahrgang 1924 und 1927) zur Generation von Walter und Elisabeth gehörten. Jüngeren Lesern kann es also sehr wohl helfen, die anderen Bände dieser Reihe zuerst zu lesen, um die geschilderten Charaktere und Vorkommnisse sowie die bildhaft heraufbeschworenen Zeiten der Nachkriegsjahre bis in die 70er hinein zu verstehen.


    Beim Erzählen über diesen Roman ist mir dieser Tage aufgefallen, dass Rothmann auch über meine Familie hätte erzählen können - zu viele Dinge gleichen sich. Insofern kann ich direkt alles nachvollziehen, was er schreibt, und mich auch in ihn hineindenken. Er schreibt über die verlorene Generation derjenigen, die in den Krieg gezwungen wurden und danach keinen Weg zurück aus ihm fanden sowie über deren Kinder, die darunter zu leiden hatten. Ich stimme ihm zu, dass viele Menschen keine Chance auf einen Ausweg hatten. Und gleichzeitig widerspreche ich ihm, denn es gab auch zu viele Menschen, die gleiches oder ähnliches erlebten und sehr wohl aus diesem Schrecken so weit herausfanden, um nicht die nächste Generation völlig darunter leiden zu lassen. Insofern trifft der einleitende Satz ...

    Ein Schriftsteller verfügt selten über mehr als seine Biografie, … seine eigene, von den Echos und Schatten der Vergangenheit und dem Vorschein der Zukunft umschwebte Geschichte

    .. völlig zu. Rothmann erzählt seine Geschichte und sein Erleben, die sehr dem meinen gleichen. Doch weiß ich aus dem Rest der Familie und vielen persönlichen Begegnungen mit anderen dieser Generation, dass es auch anders laufen konnte.


    Trotzdem ich also Einwände habe bzgl. einer Verallgemeinerung von Rothmanns pointiert und fesselnd niedergeschriebenen Erfahrungen, kann ich diesen Roman nur jedem empfehlen, der mehr darüber wissen möchte, warum so viele Menschen, die jung in einen Krieg gezwungen wurden, aus diesem nur vordergründig und innerlich nie wirklich zurückkehrten. Und ich stimme dem Erstrezensenten zu, dass dieser autobiografische Roman heute brandaktuell ist, um die Menschen zu verstehen, die weltweit vor Krieg und Zerstörung fliehen in der Hoffnung auf ein neues Leben.