Bobbi French - Die guten Frauen von Safe Harbour / The Good Women of Safe Harbour

  • Kurzmeinung

    Tanni
    Ein unglaubliches Buch, gewaltig und doch so leise. Bewegend, berührend, tieftraurig und wunderschön.
  • Autorin: Bobbi French

    Titel: Die guten Frauen von Safe Harbour

    Originaltitel: The Good Women of Safe Harbour

    Verlag: Diederichs

    Seiten: 352

    Erschienen:

    ebook: 1. August 2022

    Print: 31. August 2022

    ISBN10: 3424351245


    Über die Autorin

    Bobbi French ist in Neufundland und Labrador geboren und aufgewachsen. Die ehemalige Psychiaterin hat ihren Beruf aufgegeben, um sich dem Schreiben zu widmen. Die guten Frauen von Safe Harbour ist ihr erster Roman. Bobbi French lebt in Halifax, Nova Scotia.


    Interview mit der Autorin - Copyright: Amazon

    Worum geht es in Ihrem ersten Roman?

    Das Buch spielt auf Neufundland und erzählt die Geschichte von Frances Delaney, einer schüchternen, zurückhaltenden Frau, die gerade erfahren hat, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. Frances möchte nun das, was von ihrem Leben übrig geblieben ist, mit all dem füllen, wonach sie sich sehnt, und Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen. Als das liebenswerte, temperamentvolle Teenager-Mädchen Edie entdeckt, was mit Frances los ist, beschließt sie, ihr zu helfen.

    Während die Geschichte von Verlust und Einsamkeit und natürlich vom Tod geprägt ist, geht es in dem Buch weniger um das Sterben als vielmehr um das Leben. Es geht um die Kraft der Freundschaft und Vergebung sowie um die Suche nach Verbindung, Mitgefühl und Würde und vor allem um Liebe.


    Mit Frances haben Sie einen unvergesslichen Charakter geschaffen. Was war Ihnen an ihr wichtig?

    Bevor ich Schriftstellerin wurde, war ich Psychiaterin. Dabei traf ich so viele Frauen, deren schwieriges Leben das Ergebnis von Umständen war, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen. Es waren kluge, weise, unglaublich widerstandsfähige Frauen, die oft übersehen und unterschätzt wurden. Als ich anfing, das Buch zu schreiben, dachte ich an sie. Ich wollte über eine gewöhnliche Frau schreiben, die etwas Außergewöhnliches tut. Es war mir auch wichtig, dass Frances einen Weg findet, die Mauern niederzureißen, die sie aufgebaut hat, um sich selbst zu schützen. Tatsache ist, dass ich anfangs keine klare Vorstellung von ihr hatte. Doch als ich mit dem Schreiben fertig war, war Frances mir ziemlich vertraut, und ich stellte fest, dass ich sie sehr liebte.


    Warum sind die Frauen von Safe Harbour gute Frauen?

    Wie die Frauen in meinem Buch komme ich aus Neufundland, einem wunderschönen, einzigartigen und kulturell unterschiedlichen Teil Kanadas. Bei uns sagt man oft: »Sie ist eine gute Frau.« Es ist ein großes Kompliment und bezieht sich auf den gesamten Charakter und ihre Art zu sein. Es würdigt ihr fürsorgliches Wesen, ihren Witz und ihre Intelligenz, ihre Kompetenz und Beharrlichkeit und zeigt, wie sehr sie verehrt und geschätzt wird. In diesem Sinne denke ich, dass die Frauen von Safe Harbour gute Frauen sind. Sie trotzen Widrigkeiten und helfen und stärken sich gegenseitig so gut sie können. Sie schieben das Vergangene, all die Wut, das Trauma und den Kummer beiseite und konzentrieren sich nur auf das, was im Moment wichtig ist, nämlich die Liebe und den Respekt, den sie füreinander haben. Sie geben so viel von sich selbst, egal wie schwierig es für sie sein mag. Und das ist für mich die Bedeutung von gut.


    Klappentext von Amazon

    Dieser lebensbejahende, berührende Roman handelt von einer Frau, die endlich zu ihren eigenen Bedingungen lebt und die Freundschaft ihres Lebens zurückgewinnt. Am Ende ihres Lebens macht sich Frances Delaney zusammen mit ihrer jungen Freundin Edie auf zum kleinen Fischerort Safe Harbour. Dort trifft sie nach Jahrzehnten Annie wieder, ihre alte Freundin aus Kinder- und Jugendjahren.

    Atmosphärisch eingebunden in die Kulisse der kargen Landschaft Neufundlands handelt diese kraftvolle Geschichte von Freundschaft und Vergebung. Das Debüt der kanadischen Psychiaterin Bobbi French erzählt von einer Frau, die sich selbst die Chance gibt zu lieben und geliebt zu werden.


    Zum Inhalt

    Frances Delaney ist Ende 50, unverheiratet, lebt zurückgezogen, ist eher schüchtern und wirkt einsam. Ist sie aber nicht. Sie hat ihre Bücher und ihre Vergangenheit. Letztere unschön, aber intensiv und immer noch wirkungsvoll. Da erhält sie die Diagnose Krebs im Endstadium. Für viele würde eine Welt zusammenbrechen, für Frances nicht, sie geht das anders an als andere und beschließt zu leben. Nicht so nach dem Motto: Jetzt erfülle ich mir alle Wünsche und Träume und lebe verrückt in den Tag hinein. Das ist gar nicht ihr Naturell. Sie beginnt ihr neues Leben von Hinten aufzurollen, lässt die 16jährige Edie in ihr Leben, ohne zu ahnen, was diese bewirkt. Edie ist die Tochter ihrer Kundin und eigentlich nicht geeignet für die letzten Wochen oder Monate im Leben eines sterbenskranken Menschen. Doch Edie nimmt einen Platz in Frances Herz ein, den Frances gar nicht frei hatte. Und Edie schafft noch mehr...


    Meine Meinung

    Wie beschreibt man ein Buch einfachster Sprache, ohne Schnörkel, ohne Schwurbel, ohne Schwulst und doch Randvoll mit unendlich viel Herz und Liebe, Schmerz und Leid, Trauer und Verlust, Lachen und Freude, Humor und Witz?

    Dieser Debütroman macht mir Angst. In seiner Einfachheit ist die leise Sprache so gewaltig. Sie kommt daher wie eine seichte Welle die heranschwappt und plätschert und dann doch in einem gewaltigen Tsunami mündet. Unfassbar, was Bobbi French da zu Papier gebracht hat, ohne dabei gekünzelt einen dramatischen Tod heraufzubeschwören oder Mitleid erheischen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Dieses Buch sprüht vor Lebenskraft und Energie und Lebenslust, bis zur letzten Zeile - trotz dem "Dazwischen" von seelischem Schmerz, schmerzvoller Vergangenheit und krankheitsbedingtem Schmerz. Es ist eindringlich, "erreicht", macht Hoffnung, animiert sich zu versöhnen - mit sich selbst, seiner Vergangenheit und den Menschen die darin vorkommen. Aber es animiert auch, sich selbst treu zu bleiben, den eigenen Weg zu gehen, bis in den Tod.

    Es wird erzählt aus Frances Sicht im Hier und Jetzt, aber auch aus ihren Erinnerungen heraus. Sehr schön und gelungen, in guter Dosis, was die Informationen angeht. Man erfährt zur richtigen Zeit immer mehr.

    Sehr gelungen auch die Nebenfiguren. Selbst wenn sie selten zu Wort kommen und wenig Platz bekommen, so sind sie ausgereift, man versteht sie und ihre Beweggründe, wenn auch manchmal erst im Nachhinein, aber die Autorin lässt keine Fragen offen.

    Wunderschön auch die Tatsache, dass Bobbi French nicht auf die Tränendrüse drückt. Es geht ihr gar nicht um Mitleid für Frances, es geht um etwas ganz anderes, was einen dann letztlich zu Tränen rührt.

    Ein Buch über Freundschaft. Alte Freundschaft. Junge Freundschaft.

    Ein Buch über Verzeihen und Versöhnen.

    Ein Buch über das Leben und den Tod.

    Ein Buch über Würde.

    Ein Buch über die Liebe.

    Ein Buch über Fehler, Sünden, Fehltritte, Erfahrungen und die Konsequenzen.

    Ein Buch über starke Frauen.

    Ein Buch über späte Selbstbestimmung.

    Ein Buch über Freiheit in jeder Hinsicht.


    Fazit

    Ein atmosphärisches Buch welches mitreißt, einen erobert, nachdenklich stimmt, einen erreicht und das Wort für Wort, Satz für Satz und Zeile für Zeile...

    (Mein Jahreshighlight, das weiß ich schon jetzt) :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :love:

    Liebe Grüße von Tanni

    "Nur noch ein einziges Kapitel" (Tanni um 2 Uhr nachts)


  • Inhalt

    Erst am Ende ihres Lebens, mit 58 Jahren, steht Bobbi Frenchs Icherzählerin Frances Delaney entschieden für sich ein und lehnt eine invasive medizinische Behandlung ab. Bisher hatte Frances in kritischen Situationen meist geschwiegen. Aus ihrer eigenen Perspektive mitreißend erzählt, hat mich Frances‘ Schicksal sofort in den Roman hineingezogen; es ist tatsächlich ein Buch, um eine Nacht durchzulesen. Die Handlung finde ich sehr spoileranfällig, weil die Lösungen nach und nach - für Frances überraschend - aufploppen.


    Frances wächst in einem Milieu auf, in dem Männer auf See sterben, während Frauen als Opfer irgendwie überleben müssen, ausgegrenzt und im Stich gelassen werden. Friedhöfe an der kanadischen Ostküste zeigen eindringlich, wie viele Fischer und Seeleute bis heute auf dem Meer ums Leben kommen. Von der Szene an, als Frances „auf die Knie fallen und Gott um Vergebung bitten“ musste, habe ich darauf gewartet, dass sie sich irgendwann fragen würde, warum in ihrem Leben Männer eben nicht auf die Knie gefallen sind. Ihre Schicksalsergebenheit hat mich befremdet. Welchen Anteil hatten Frauen daran, dass die von der (katholischen?) Kirche gestützten scheinheiligen Strukturen nicht infrage gestellt wurden? Frances‘ Heimatgemeinde in Safe Harbour hätte viel zu bereuen gehabt und dafür zu sorgen, dass sich das Schicksal ihrer Mutter nicht wiederholt. Fesselnd fand ich die Frage, ob die Frauen von Safe Harbour tatsächlich von sich aus untereinander „gut“ sind oder sich diesem Wert unterordnen, um zu überleben.


    Über die (beinahe zu) zahlreichen Themen, aus denen Bobbi French ihren ersten Roman knüpft, ließe sich trefflich in einer Lesegruppe diskutieren. Darunter z. B. Frances Verhältnis zu ihren Arbeitgebern. Ohne Hausangestellte, die die Care-Arbeit übernehmen und im Alter selbst meist kaum genug zum Leben haben, wären moderne Paare mit zwei Akademiker-Karrieren+Kind kaum denkbar.


    Fazit

    Ein nicht ungewöhnliches Frauenleben, ein berührender Roman, die Gewichtung auf schicksalhafte Ereignisse ist mir allerdings zu einseitig, um das Buch zu empfehlen.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow