Lina Wolff - Das neue Herz / Köttets tid

  • Nonne Lucia, gottgesandte Erlöserin oder des Teufels Killerin.


    Eine Schwedin in Madrid. Sie beobachtet eine Frau, die ihren schwerkranken Mann im Rollstuhl liebevoll pflegt. „Die Frau und der Mann sind etwas Seltenes, zwei Menschen, die untrennbar miteinander verbunden sind, durch großes Leid und durch großes Glück.“ Dabei denkt sie an ihre Freundinnen zu Hause, von denen eine „…der Meinung ist, eine Frau, die auf ihre Figur achte, unterwerfe sich dem männlichen Blick, weshalb sie einer so ungehemmten wie stetigen Expansion ihrer Körpermitte freie Bahn lässt.“ Im eigenen Leben der 45-jährigen Bennedith (den Namen erfährt der Leser erst sehr spät?) sieht es auch nicht viel besser aus, im Gegenteil: „Ein Eldorado der Misserfolge, ein Labyrinth aus gescheiterten Beziehungen, und egal welche Richtung sie einschlägt, sie findet keinen Ausweg.“ Sie spricht die Frau an, denn sie sucht „eine Beschäftigung, die ihrem Leben einen Sinn gibt“, und erhält den Job, für den sie aber kein Geld annehmen will.


    Der Mittfünfziger Mercuro (gleichnamiger Titel des ersten Kapitels) Cano auf der Suche nach einem Unterschlupf, spricht Bennedith an, ihm einen zu gewähren mit der Aussicht, eine interessante Geschichte zu erzählen, von einer „Paartherapie und der Frau, die mein Leben ruiniert hat. Nennen wir sie die Feministin.“ Schwester Lucia, die Nonne.

    Packend die folgende Geschichte: Innerhalb von 24 Stunden in einer fremden Stadt überschlagen sich die Ereignisse, hat Bennedith bereits einen – zwar etwas mitgenommenen, aber immerhin – Mitbewohner und eine Care-Arbeit ohne Gehalt. Mercuros Frau ist herzkrank, sie braucht ein Spenderorgan, um zu überleben. Mercuro wandte sich in seiner Verzweiflung an die Verantwortlichen der Reality Show „Fleisch und Sühne“, die Leuten in ausweglosen Lebenssituationen hilft, aber nur eine im Darknet zu streamende Veranstaltung ist, weil sie teilweise mit illegalen Methoden arbeitet und die Menschen, die ins Studio kommen, bloßstellt bis auf die Knochen. Die über 90-jährige Nonne, Schwester Lucia (die „Feministin“), fungiert als Supervisor, die über die Fälle urteilt, Miss Pink und Mister Blue moderieren die Sendung, deren wesentlicher Bestandteil „die Erniedrigung“ ist. „Am besten schlagen sich Kandidaten, die diese Erniedrigung an sich abperlen lassen wie Wasser an Gänsefedern.“ In Mercuros Fall wurden sein Machotum und seine zahlreichen Affären schonungslos aufgedeckt. Und obwohl er versucht, ein Herz für seine Frau zu organisieren, und seine Ehe retten will, hasst das Publikum ihn laut Umfragen des Senders seit seinem ersten Auftritt. Nun befindet er sich auf der Flucht vor den Sendungsmachern, weil nach deren Plänen er selbst der Spender sein soll.


    Die obskure Schlusspointe seines atemlosen Monologs: „Bitte lass mich noch hierbleiben. Ich mache alles, was du willst. Nur Sex kann ich dir nicht versprechen, denn ich befürchte, der ganze Stress hat mir die Potenz geraubt. Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.“ Macho Macho, dazu noch ein spanischer.


    Kaum zu glauben, dass beide später ein Liebespaar werden, dass Bennedith einen Mann in Notwehr erschlägt und im Frauengefängnis Alcalá Meco II landet.


    Mitte des Romans schlägt Lina Wolff das zweite Kapitel auf: Lucia. In Briefen an Bennedith breitet sie ihre gesamte Biografie in einer Art Lebensbeichte aus. Als sie ein „Erweckungserlebnis“, ‚dass sie jemanden durch die Apokalypse führen solle,‘ für Gottes Anweisung hält, leitet sie für sich die uneingeschränkte Gewissheit ab, in Eigenregie über das Schicksal anderer zu entscheiden.


    Lina Wolffs „Das neue Herz“, viel besser die Übersetzung des schwedischen Titels „Köttets tid“ – „Die Zeit des Fleisches“ ist eine enigmatische, bitterböse, tödliche und zugleich witzige Satire auf dystopische reality shows der Zukunft. Wenn das Publikum „Daumen runter“ votet und damit den Tod des Delinquenten fordert.


    Sollte Lina Wolffs „Das neue Herz“ verfilmt werden, gibt es für Schwester Lucia nur die eine Besetzung: Linda Hunt, die Henrietta "Hetty" Lange aus CSI LA.


    Lina Wolff, geboren 1973, hat lange in Italien und Spanien gelebt. Für ihren Debütroman Bret Easton Ellis und die anderen Hunde wurde sie mit dem renommierten Literaturpreis der Zeitschrift Vi ausgezeichnet. Für ihren zweiten Roman Die polyglotten Liebhaber, der in 18 Sprachen übersetzt wird, erhielt sie den Augustpris, den wichtigsten schwedischen Literaturpreis. Lina Wolff lebt in Schonen in Südschweden.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Lina Wolff - Das neue Herz“ zu „Lina Wolff - Das neue Herz / Köttets tid“ geändert.