Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren. (Vincent van Gogh)
1892. Die junge wohlbehütete Auguste zieht mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder nach Lichterfelde in eine Villa am Karlsplatz. An ihrem ersten Schultag in der Krahmerschen Mädchenschule trifft sie auf Lotte, die Tochter eines reichen Kaufhausbesitzers, mit der sie schon bald eine mehr als enge Freundschaft verbindet. Lotte hält nichts davon, sich verheiraten zu lassen, sondern hegt den Wunsch, Medizin zu studieren. Ihre mutigen freigeistigen Ideen imponieren Auguste, die zwar talentiert ist und gerne zeichnet, jedoch noch nicht weiß, was sie eigentlich will. Als Auguste erfährt, dass ihre Eltern schon einen potentiellen Heiratskandidaten ausgesucht haben und sie baldmöglichst die Ehe mit einem angehenden Juristen eingehen soll, bemerkt sie bei sich selbst, dass sie ebenso frei sein will wie Lotte. Dann stirbt bei einem Ausflug ihr kleiner Bruder und auch Lotte ist kurze Zeit später verschwunden. Auguste macht sich auf die Suche nach der Freundin und muss einige weitreichende Entscheidungen treffen, die ihr Leben drastisch verändern werden…
Anne Stern hat mit „Auguste“ den ersten Band ihrer historischen „Frauen vom Karlsplatz“-Reihe vorgelegt, der den Leser nicht nur tief in die deutsche Kaiserzeit zurückversetzt, sondern auch eine junge Frau kennenlernen lässt, die die Weichen für ihr Leben stellen muss. Der flüssige, farbenfrohe und gefühlvolle Erzählstil fesselt ab der ersten Seite und lädt den Leser zu einer Zeitreise zum Ende des 19. Jahrhunderts ein, wo das Rollenbild der Frau noch in einem gesellschaftlich starren Korsett steckte. Auguste wurde von ihren Eltern als zukünftige Ehefrau und Mutter erzogen, die einmal eine gute Partie machen soll. Als Auguste erfährt, dass es schon einen potentiellen Heiratskandidaten gibt, wird ihr erstmals bewusst, wie jung sie eigentlich noch ist und dass der Gedanke an eine Ehe ihr gar nicht schmeckt. Die Freundschaft mit Lotte reißt sie aus ihrer Lethargie, denn die Freundin ist rebellisch, hat neumodische Ideen, die für Auguste schon bald natürlich klingen, dass sie selbst auch daran glauben will. Sie macht zwar immer wieder einen Schritt zurück, doch ist es wie ein Sog, dem sie sich nicht entziehen kann und endlich anfängt, gegen die Forderungen anderer aufzubegehren. Die Autorin hat die gesellschaftlichen Gepflogenheiten wunderbar in ihre Handlung integriert und gibt dem Leser so ein gutes Bild der damaligen Zeit. Besonders interessant sind auch die einzelnen Tagebucheinträge eines Arztes, der seine Eindrücke und Behandlungen bei einer jungen Frau schildert, die den Leser sowohl faszinieren als auch bedrücken. Stern beweist einmal mehr, wie gekonnt sie den Leser mit ihrer Erzählweise und dem besonderen Maß an Authentizität des von ihr gewählten Stoffes einfangen und nicht mehr loslassen kann. Während der Leser bei der Lektüre ein wunderbares Kopfkino erlebt, kann er sich von den Seiten kaum losreißen.
Die Charaktere sind liebevoll mit Leben versehen und wirken mit ihren menschlichen Eigenschaften sehr glaubwürdig. Der Leser fühlt sich ihnen seltsam nah und fiebert, hofft, bangt und leidet mit ihnen. Auguste ist eine junge, anfangs noch sehr naive Frau, die unter der Fuchtel ihrer Eltern steht, die hohe Erwartungen an sie haben. Sie ist liebenswert, ehrlich, zurückhaltend und neugierig. Lotte dagegen ist ein wahrer Hansdampf in allen Gassen, sie probiert sich aus und will das Leben aus dem Vollen schöpfen. Es umgibt sie etwas Geheimnisvolles. Ebenso spielen Augustes Eltern sowie ihr Bruder und Frau Krahmer eine große Rolle in dieser Geschichte.
„Auguste“ ist ein fesselnder historischer Roman über das Leben in der Kaiserzeit mit ihren gesellschaftlichen Zwängen vor allem für Frauen, aber auch über mutige und starke Frauen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Absolute Leseempfehlung für eine sehr emotionale Geschichte!