Selma Meerbaum-Eisinger - Ich bin in Sehnsucht eingehüllt

  • Ein kleiner Gedichtband mit 57 Gedichten - denn mehr gibt es nicht von Selma Meerbaum-Eisinger... aber diese wenigen Gedichte sind es umso mehr wert, gelesen zu werden.


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    Selma Meerbaum-Eisinger wurde am 15. August 1924 in Czernowitz, Bukowina geboren. Czernowitz ist ein Begriff in der Literaturszene, denn dort wurde auch Rose Ausländer geboren - und Paul Celan, mit dem Selma Meerbaum-Eisinger über einige Ecken verwandt war (die beiden hatten mütterlicherseits den selben Großvater). Selma ist Jüdin, und wächst im Nationengemisch Czernowitz heran, sie liest gerne und viel, zum Beispiel Heinrich Heine und Rainer Maria Rilke. Mit 15 Jahren beginnt sie, Gedichte zu schreiben, Gedichte, die sie ihrer ersten Liebe widmet, die auch ihre einzige Liebe bleiben soll - Lejser Fichman, den sie in der zionistischen Jugendbewegung kennengelernt hat (er starb bei dem Versuch, Palästina zu erreichen). 1942 wird Selma zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater deportiert, sie landet im Lager Michailowska, wo sie noch im selben Jahr an Flecktyphus stirbt, gerade mal 18 Jahre alt.


    Ihre Gedichte aber sind nicht verloren gegangen, wenn sie auch lange unbekannt blieben und es eigentlich auch heute noch sind. Ihre Freundinnen haben ihr "Vermächtnis" bewahrt und über den Krieg hinaus gerettet, und ein ehemaliger Klassenlehrer veröffentlichte sie erstmals in Israel. Auf eigene Kosten, weil er keinen Verleger fand. Die rund 400 Exemplare verschickte er an Freunde und Bekannte in alle Welt, verschenkte sie - und dadurch landete das Bändchen beispielsweise auch in den Händen von Hilde Domin, die es von einer Cousine Paul Celans erhält. Hilde Domin urteilt über die Lyrik des Mädchens:


    Seine Begabung steht sicher auf einer Stufe mit dem jungen Hofmannsthal. Trotz des "Sonderschicksals" ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.


    Das Schicksal von Selma Meerbaum-Eisinger erinnert an Anne Frank, mit dem Unterschied, dass man Selma und ihre Gedichte eigentlich noch nicht vergessen hätte können, weil sie noch nicht einmal wirklich bekannt sind. Und abgesehen davon, dass es wirklich eindrucksvolle Gedichte sind, besonders wenn man das Alter der Schreiberin bedenkt, macht es einen betroffen, wenn man sich vor Augen hält, wieviele Worte, wieviel Dichtung und wieviel Kunst ganz junger Menschen verloren gegangen ist, von denen noch nicht einmal ein Name bleibt, sondern nur eine beliebige Zahl in der unglaublichen Summe von 6 Millionen Opfern der Shoa.


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    Schlaflied für die Sehnsucht
    (Zu singen nach der Melodie: "di zun iz fargangen" von M. Gebirtig)


    O lege, Geliebter,
    den Kopf in die Hände
    und höre, ich sing' dir ein Lied.
    Ich sing' dir von Weh und von Tod und vom Ende,
    ich sing' dir vom Glücke, das schied.


    Komm, schließe die augen,
    ich will dich dann wiegen,
    wir träumen dann beide vom Glück.
    Wir träumen dann beide die goldensten Lügen,
    wir träumen uns weit, weit zurück.


    Und sieh nur, Geliebter,
    im Traume da kehren
    wieder die Tage voll Licht.
    Vergessen die Stunden, die wehen und leeren
    von Trauer und Leid und Verzicht.


    Doch dann - das Erwachen,
    Geliebter, ist Grauen -
    ach, alles ist leerer als je -
    Oh, könnten die Träume mein Glück wieder bauen,
    verjagen mein wild-heißes Weh!


    ***


    Ich selber bin zu Selma Meerbaum-Eisinger gekommen, weil die Familie meiner Mutter ebenfalls aus Czernowitz stammt, und ich mich deshalb für die Literatur, Lyrik, Musik, Kunst von dort besonders interessiere, und diese Gedichte sind etwas wie ein kleiner Schatz für mich.

    In allem habe ich Ruhe gesucht und sie nirgends gefunden außer in einer Ecke mit einem Buch.
    - Umberto Eco

  • Hallo Thari


    Diesen Gedichtband besitze ich schon seit über 20 Jahren. Er ist aus der 2. Auflage und hat auch einen Lebenslauf mit Bildern.
    Du hast mir dieses ergreifende Lebensdokument wieder in Erinnerung gebracht. Ich habe es nun herausgesucht und werde es erneut lesen, zum drittten- oder viertenmal.


    aixela

  • Ich bin gerade über diese Rezension, die ich sehr schön finde, gestolpert. Sie ist zwar schon eine Weile her, aber ich möchte trotzdem noch meine Meinung kundtun :)


    Auf die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger bin ich durch Zufall durch einen Artikel im Internet gestoßen. Nach weiterer Suche habe ich dann das Büchlein gefunden. Meine Ausgabe war sogar mit einer CD verbunden, auf der das World-Quintet (bestehend aus Sarah Connor, Xavier Naidoo, Hartmut Engler, Ute Lemper und noch einige andere) einige ihrer Gedichte vertont haben. Ich bin ganz ehrlich: Ich habe mit Gedichten nichts am Hut, sie haben mich noch nie berührt. Aber diese Verse von Selma Meerbaum-Eisinger gingen mir unter die Haut.


    Auf dieser Seite gibt es zu dem Projekt etwas zum Nachlesen.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 84 von 80 - geschafft :)

  • Die kurze Lebensgeschichte Selmas:
    Als Selma Meerbaum-Eisinger, wurde sie am 1924 in Czernowitz geboren. Mit 15 Jahren begann sie ihre ersten Gedichte zu schreiben. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 wurde die Familie 1941 gezwungen im Ghetto der Stadt zu leben. Dort gelang es Selma auf wundersame Weise ihr handgeschriebenes Album Blütenlese einer Freundin zuzuspielen. Danach wurde sie in das Arbeitslager nach Michailowska/Ukraine deportiert, wo sie am 16. Dezember 1942 an Typhus verstarb.


    Hilde Domin schreibt: "Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht."


    Für mich ist sie eine Anne Frank der Dichterinnen, die man unbedingt gelesen haben sollte. Dieses meisterhafte Büchlein, das vom Hoffmann Campe Verlag als Jubiläumsausgabe aufgelegt wurde und an Hand des Covers dem früheren Gedichtband Selmas nachempfunden wurde, enthält ihre Werke. Diese sind voll Tragik, Schmerz, Mitgefühl, aber auch voll Liebe, wie Selma ihre Welt wohl damals gesehen und auszudrücken vermag. Durch die Stern Serie "Verbrannte Dichter", wurde Jürgen Serke auf sie aufmerksam, woraufhin dieses Buch herausgegeben wurde.
    In dem wunderschön, blumig, in Stoff gehaltenen Buch, sind die Gedichte Selmas in ihrer damaligen Anordnung enthalten. Hier eine kleine Kostprobe:
    Ich möchte leben.
    Ich möchte lachen und Lasten heben
    und möchte kämpfen und lieben und hassen
    und möchte den Himmel mit Händen fassen
    und möchte frei sein und atmen und schrein.
    Ich will nicht sterben. Nein! Nein.
    Außerdem wurden ihre Gedichte durch namhafte Künstler wie: Sarah Connor, Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Reinhard Mey u.a. vertont. Heute lebt Selma nicht nur in ihren Gedichten weiter, auch ein Fond, den ihre Erben eingerichtet haben ermöglicht durch die Einnahmen aus Rechten und Tantiemen, das bedürftige jüdische Studenten unterstützt werden. Aufmerksam wurde ich vor kurzem auf dieses Buch, durch eine Lesung mit Iris Berben.
    Für mich eines der Meisterwerke der Literatur, das 5 Sterne verdient. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::thumleft: