Laura Cwiertnia - Auf der Straße heißen wir anders

  • Kurzmeinung

    Maesli
    Dieser Roman hat mich überrascht.
  • Kurzmeinung

    Bellis-Perennis
    Auf der Suche nach den Wurzeln der Familie
  • Eine bewegende Familiengeschichte und die Suche nach den eigenen Wurzeln:

    Karla, oder Karlotta, wie sie auch genannt wird, lebt mit ihrer Familie in einer Hochhaussiedlung in Bremen-Nord, die sich aus einem bunten Völkergemisch zusammensetzt. Während die meisten anderen Familie ihre Herkunft aus der Türkei, Russland oder Albanien kennen und mitunter stolz darauf sind, ist das bei Karla anders. Zwar weiß sie, dass ihre Großmutter Maryam in den 1960er Jahren als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland gekommen ist und das man armenische Wurzeln hat, aber nicht viel mehr. Über den Völkermord an den Armeniern von 1915 erfährt sie in der Schule gerade einmal einen Halbsatz.


    Als Maryam stirbt, hat sie ganz exakte Anweisungen für ihr Begräbnis hinterlassen, die nach armenischem Ritus erfolgen soll. Unter den Habseligkeiten der Großmutter findest sich ein fein ziseliertes Armband aus Gold und ein vergilbter Zettel mit dem Namen Lilit und einer Adresse in Armenien.

    Mit viel Geduld und Überredungskunst überzeugt Karla ihren Vater, nach Armenien zu reisen und die ominöse Lilit in der ihnen unbekannten Heimat zu suchen. Mit im Gepäck ist das goldene Armband.


    Meine Meinung:


    Der Roman gibt uns in mehreren Rückblicken Einblick in das Leben der einzelnen Familienmitglieder. Karlas Leben in Bremen-Nord ist für mich das unspektakulärste, da leicht vorstellbar.

    Die Vergangenheit von Vater Avi, der aufgrund seiner Intelligenz ein Priesterseminar in Jerusalem besuchte oder das seiner Mutter Maryam als türkische Gastarbeiterin, der man den Pass abgenommen hat und die einen ähnlichen Knebelvertrag eingehen musste, wie man es nur von Bordellbesitzern kennt oder das - für mich interessanteste Leben - von Urgroßmutter Armine, die aus dem Familienverband in Armenien gerissen und damit vor dem sicheren Tod gerettet worden ist.


    Der Völkermord an den Armeniern ist bis heute vielerorts ein Tabu-Thema. In der Türkei sowieso und anderswo wird auch kaum darüber gesprochen. Die wenigen Überlebenden vermieden es tunlichst armenisch zu sprechen, geben ihren Kindern türkische Vornamen (die armenischen werden nur heimlich daheim gesprochen) und müssen ihre Familiennamen jener der Türken anpassen. Die Auslöschung der Armenier ist fast, aber nur fast, gelungen.


    Ähnliches passiert heute noch mit den Kurden (wieder ist die Türkei federführend) oder in China, wo man die Uiguren in Lager sperrt, umerzieht und ihnen verbietet, nach ihren Traditionen zu leben.


    Laura Cwiertnia erzählt die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder eindrücklich und einfühlsam. Die Geschichte von Karla ist für mich persönlich ein bisschen zu ausführlich, denn ein Leben in der Gegenwart, in einer Hochhaussiedlung ist für jeden Leser leicht vorstellbar.

    Durch die Einlassung in die Geschichte der Vorfahren lässt sich erklären, warum Avi so ist, wie er ist, und welche Traumata die einzelnen Familienmitglieder an die nächste Generation weitergegeben haben.


    Fazit:


    Eine bewegende Familiengeschichte und die Suche nach den eigenen Wurzeln. Gern gebe ich hier 5 Sterne.

    "Ein Tag ohne Buch ist ein verlorener Tag"


    "Nur ein Lesender kann auch ein Schreibender sein oder werden" (Maria Lassnig/1919-2014)

  • erscheint am 19.2.2022


    Klappentext/Verlagstext
    In Karlas Familie wissen alle, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören. Karla erlebt es als Kind in Bremen-Nord. Ihr Vater Avi in einer Klosterschule in Jerusalem. Die Großmutter Maryam als Gastarbeiterin in Deutschland. Die Urgroßmutter Armine auf den Straßen von Istanbul. Einfühlsam und mit feinem Humor fächert Laura Cwiertnia die verzweigten Pfade einer armenischen Familie auf, deren Erfahrungen so tiefgreifend sind, dass sie noch Generationen später nachhallen.


    Die Kinder aus der Hochhaussiedlung in Bremen-Nord kennen die Herkunftsorte ihrer Familien genau: Türkei, Russland, Albanien. Nur bei Karla ist alles etwas anders. Sie weiß zwar, dass die Großmutter in den 60ern als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland kam, und auch, dass die Familie armenische Wurzeln hat, doch gesprochen wird darüber nicht. Als Karlas Großmutter stirbt, taucht der Name einer Frau auf, Lilit, samt einer Adresse in Armenien. Karla gelingt es, ihren Vater zu einer gemeinsamen Reise zu überreden – in eine Heimat, die beide noch nie betreten haben. Eindrücklich und bewegend erzählt Laura Cwiertnia davon, wie es sich anfühlt, am Rand einer Gesellschaft zu stehen. Und davon, wie es ist, keine Geschichte zu haben, die man mit anderen teilen kann.


    Die Autorin
    Laura Cwiertnia, 1987 als Tochter eines armenischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bremen geboren, ist stellvertretende Ressortleiterin bei der ZEIT. »Auf der Straße heißen wir anders« ist ihr literarisches Debüt.


    Der historische Hintergrund
    Völkermord an den Armeniern 1894-1896, 1915/16


    Inhalt
    Als Karla zur Beerdigung ihrer Großmutter in ihre Heimatstadt kommt, hat sie offenbar alle Zelte hinter sich abgebrochen, um auswärts zu studieren. Sie versteht die Rede des armenischen Priesters während der Trauerfeier nicht und der Kontakt zu ihrer Lieblingscousine Nisa ist seit langem abgekühlt. Als 15-Jährige waren die Mädchen allerbeste Freundinnen. Karla musste als Kind ständig Fremden erklären, wie man ihren Namen ausspricht und warum sie ihrem Vater kaum ähnlich sieht. Warum Vater Avi kein Türkisch spricht, obwohl er wie Onkel Ismail aus Istanbul stammt, hätte sie selbst zu gern gewusst. Avi weicht ihren Fragen stets aus. Sicher hat Karla sich gefragt, warum Großmutter Maryam allein nach Bremen kam, um in der Fabrik zu arbeiten, und was aus Avis Vater geworden sein kann. Die klassische Situation entsteht, in der Kinder verletzt reagieren, weil ihnen nichts gesagt wurde und Eltern später ebenso verletzt kritisieren könnten, dass sich für ihre Kindheitserinnerungen niemand interessierte.


    Nun ist Maryam begraben. Sie hat außer dem Ablauf einer armenischen Beerdigung ihre letzten Wünsche notiert und ihren Nachlass geordnet. Ihre Nachkommen sollen in die armenische Hauptstadt Yerewan reisen und dort einer Lilit Kuyumcyan einen goldenen Armreif übergeben. Avi hatte Reisen in die Türkei oder nach Armenien stets abgelehnt; ihre eigene Reise nach Istanbul vor einiger Zeit hat Karla ihrem Vater verheimlicht. Doch nun schnürt Avi auf einmal seine Schuhe und beide starten zur Suche nach Lilit. Auch wenn Avis Armenisch eingerostet ist, bewegt er sich in Yerewan wie ein Fisch im Wasser, als hätte er niemals woanders gelebt. Inzwischen erfahren Laura Cwiertnias Leser/innen mit Blick auf wechselnde Figuren, wie Karlas Kindheit in einem Hochausviertel verlief, warum Avi einige Jahre in einem Kloster in Jerusalem verbrachte und was die vom Völkermord traumatisierten armenischen Familien besonders ihren Töchtern einbläuten. Mehrmals habe ich mir gewünscht, dass Maryam wenigstens mit ihrer Enkelin darüber gesprochen hätte, wenn schon nicht mit Avi, dessen Verhältnis zu seiner Mutter durch seine Ehe mit einer Deutschen nicht gerade innig war. Als Vater und Tochter am Ende Lilits Enkelin aufspüren und die Bedeutung des Armreifs begreifen, ist in Rückblenden und Perspektivwechseln die Geschichte von vier Generationen erzählt worden, die stets unverfängliche Namen für ihre Kinder wählten, unauffällig lebten und niemals Gespräche über Politik, Religion oder das Militär führten. Dass man sich auf der Straße anders rufen lässt als zuhause, erhielt so eine völlig andere Bedeutung als ich erwartet hatte.


    Meryam gehörte zur ersten Einwanderer-Generation in Deutschland, die ursprünglich nach Ablauf ihres Arbeitsvertrags wieder in ihre Heimat zurückkehren sollte. Laura Cwiertnia erzählt so bildhaft wie warmherzig über vier Generationen von Armeniern aus der heutigen Türkei, die stets einen Tick vorsichtiger und zurückhaltender sein mussten als andere Einwanderer und auf deren Frauen zusätzlich die Erwartung lastete „einen von uns“ heiraten zu müssen. „Auf der Straße heißen wir anders“ ist auf bestem Weg, ein Buch des Jahres zu werden …


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Nachdem ich meinen obigen Beitrag gelöscht hatte, weil der Name auf der Einstiegsseite korrekt angezeigt war, hätte ich der Autorin nun doch gern ein i in Cwiertnia spendiert, Squirrel :wink:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

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  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Laura Cwertnia - Auf der Straße heißen wir anders“ zu „Laura Cwiertnia - Auf der Straße heißen wir anders“ geändert.
  • Gastarbeiter aus Armenien, gestrandet in Deutschland – ein nicht nur geschichtlich interessanter Rückblick!


    Karlotta, auch Karla genannt, erzählt über die vielen Herkunftsorte ihrer deutsch-armenischen Familie, angefangen mit der Beerdigung der Großmutter, die als Gastarbeiterin in den 60ern in Deutschland ankommt bis abschließend zur Urgroßmutter Armine in den Straßen von Istanbul mit den Hintergrundinformationen zu deren goldenem Armreif und Lilit, ihrer jüngeren Schwester.


    Diverse Fragen zum Grübeln werden aufgeworfen: Wie lange es wohl dauert, bis aus einem Zuhause eine Heimat wird? Hast du gewusst, dass man seine Muttersprache vergessen kann? Wie ist es, keine Geschichte zu haben, die man mit anderen teilen kann?


    Geschichtlich sind folgende Fakten wichtig: Während des Ersten Weltkriegs ermordeten die Jungtürken im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier, wohl auch Griechen, Juden. Der Genozid fand hauptsächlich auf dem Gebiet der heutigen Türkei statt. Die deutsche Armee war mit den türkischen Soldaten verbündet.


    Auf der Straße heißen wir anders: Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem. Hagop hieß Hüsein. Von seinem Vornamen stand über der Tür der Schusterei nur das H. vor Kunduracı, seinem Nachnamen, der nicht versteckt werden musste, weil er längst türkisch war. Sobald ihr Sohn laufen konnte, würde Maryam ihn draußen vor den Nachbarn Ali rufen. Darum hatte sie ihn Avedis getauft und ihm den Spitznamen Avi gegeben. Schon vor der Nacht vom 6. September 1955 sahen sich wohl viele Armenier dazu veranlasst, sich zum Schutz türkische Namen zu geben nach Enteignung, Konzentrationslager, Massaker, Todesmärschen. Vergewaltigung etc..

  • Der Roman beginnt mit einer besonderen Trauerfeier zur Beerdigung von Karlottas Großmutter Maryam. Als ihr Erbe verteilt werden soll, kommt ein goldener Armreif zum Vorschein, den nach dem Willen der Großmutter Lilit bekommen soll. Karlotta hat diesen Namen nie gehört, möchte aber den Wunsch ihrer Großmutter erfüllen und überredet ihren Vater nach Armenien, dem Heimatland ihrer Großmutter, zu fliegen.

    Sie weiß zwar, dass die Großmutter in den 60ern als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland kam, und auch, dass die Familie armenische Wurzeln hat, doch gesprochen wird darüber nicht.

    Auf dieser Reise entdeckt sie ungekannte Eigenschaften an ihrem Vaters, der sein ganzes Leben in einem fremden Land und einer fremden Kultur verbracht hat und hier, in seinem Heimatland, aufblüht.

    Die wenigen Erinnerungen, die mein Vater mir über die Jahre aus seiner Kindheit erzählt hat, habe ich in meinem Kopf gesammelt wie andere Briefmarken.

    Für beide wir diese Woche in Armenien ein Eintauchen in die armenische Kultur und Erinnerungen vergangener Zeiten leben wieder auf.


    Meine persönlichen Leseerlebnisse

    Es dauert fast genau 67 Seiten bis ich im Buch bin. Die ersten Kapitel über Karlottas Kindheit mag ich nicht so sehr, denn sie erinnern mich an den Roman „Streulicht“, mit dem ich keine angenehmen Lesestunden verbinde. Doch dann nimmt die Erzählung eine willkommene Wendung und aufatmend beruhige ich mich und begleite Avedis und Karlotta auf ihre Reise nach Armenien.

    Wenn es am Anfang noch recht kurze Sätze mit klaren Worten sind, die nichts schön umwerben oder schmeichelnd verzieren, ändert sich das Schreibbild mit der Reise nach Armenien. Und das sind sie, die Gefühlslinien, die ich mag, die mich ansprechen, die mich berühren können. Im Laufe des Lesens erfahre ich ein wenig über Armenien und vom Leid eines Volkes, das, um sich zu retten, seine eigene Identität verleugnen musste.

    Zuhause hieß sie Maryam, draußen, Meryem.


    Fazit

    Der Debütroman „Auf der Straße heißen wir anders“ geht der Frage nach, was die Begriffe Zuhause und Heimat bedeuten können. Dass sich die Autorin mit der Beantwortung nicht leicht tut, zeugt davon, wie schwierig es ist, die Wurzeln der Identität zu finden. Es gehört, seitdem ich es gelesen habe, zu jenen Büchern, die mir im Leben etwas bedeuten. Der Roman steht in meiner privaten Bibliothek - dahin schaffen es nur sehr wenige Bücher.

    „Traditionen sind wichtig,“ hatte er gesagt, „du wirst schon sehen, sie werden dich halten, vor allem wenn die Zeiten wieder dunkler werden.

  • Karlas Oma hat einen goldenen Armreif einer Frau in Armenien vermacht – doch wer ist diese Frau? Karla überredet ihren Vater Arvi, mit ihr nach Armenien zu reisen und Lilit Kuyumcyan zu finden – es ist gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit der Familie.


    Karla ist die Ich-Erzählerin der Geschichte, doch auch Familienmitglieder erhalten eigene Kapitel, der Vater, die Oma und die Uroma, und so wird nach und nach das Schicksal der einzelnen Familienmitglieder aufgedeckt, die als Armenier nicht nur vom Genozid betroffen waren, sondern z. B. auch als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, später aber nicht darüber sprechen wollten, so dass auch Karla die Geschichte ihrer Familie erst nach und nach erfährt.


    Wie wahrscheinlich viele, habe ich zwar schon einmal von diesem Genozid gehört, aber mich noch nie näher damit beschäftigt. Etwas in Form von Einzelschicksalen zu lesen, bringt vieles näher, zumal, das die Autorin auch Armenier in ihrer Verwandtschaft, und womöglich Biografisches verarbeitet hat. Leider gibt es kein Nachwort, dem man mehr entnehmen könnte. Ich jedenfalls habe nach dem Lesen direkt gegoogelt, um weiteres zu erfahren. So finde ich den Roman zusätzlich wichtig, denn auch das Schicksal der Armenier sollte im Gedächtnis bleiben oder überhaupt erst bewusst werden. In diesem Zusammenhang wird dann übrigens auch der Titel des Romans im Roman angesprochen.


    Während man in Karlas Kapiteln ihre Verwandten aus ihrer Sicht sieht, bekommen sie in ihren eigenen Kapiteln zusätzliche Facetten, das hat mir gut gefallen, so wird auch deren Handeln klarer. Schade, dass Karla sie nicht so kennenlernen konnte – mich bringt das auch zum Nachdenken, wie viel ich von meinen Eltern und Großeltern vielleicht nicht weiß. Insgesamt hat mich dieser Roman sehr zum Nachdenken gebracht.


    „Auf der Straße heißen wir anders“ ist ein lesenswerter Roman, dem ich, nicht nur wegen seiner Thematik, viele Leser:innen wünsche. Die Geschichte(n), die er erzählt, hallen nach.