Norbert Ohler - Sterben und Tod im Mittelalter

  • Kurzmeinung

    Marie
    Umfassendes Wissen aus Geschichte und Theologie, Politik und Kultur, dabei nicht trocken, sondern anschaulich zu lesen
  • Zitat

    In der Epoche, die gewöhnlich das Mittelalter genannt wird, ein Zeitraum von fast 1000 Jahren, war es allgemeine Erfahrung, das Leben immer auch an der Schwelle zum Tod stattfindet. Das Leben im Mittelalter stand im Vergleich zu unserem heutigen mehr als ungeschützt da. Sekurität gab es nicht, weder im öffentlichen noch im persönlichen Raum. Ebensowenig soziale Absicherung, von zaghaften Anfängen bei den städtischen Zünften des Spätmittelalters einmal abgesehen.

    Verheerende Seuchen, nicht erst die große Pest nach 1350, sondern von bakteriellen Erkrankungen durch Getreidefäule und rote und weiße Ruhr, Cholera und Typhus, bis hin zu Epedemien viraler Genese, war die Palette der Ansteckungsmöglichkeiten reichhaltig.

    Kleinste Bagatellverletzungen konnten Infektion und Tod mit sich bringen, der Kosmos der Mikrobiologie und der Virologie war noch "terra inkognita".

    Der Zugriff des Todes war noch durch kaum ein Medikament gemildert, die Schmerzen ebensowenig und die Kranken aller Ohnmacht ausgesetzt.

    Umso wichtiger wurde das Dasein im Jenseits, allgemeiner Glaubenskonsens in allen Gesellschaftsschichten und die Hoffnung auf Erlösung. Die Fürbitte der Toten für die Lebenden war integraler Bestandteil im Glaubenskanon des mittelalterlichen Menschen ebenso, wie die Fürbitte der Heiligen.

    Jeder der drei klassischen Stände des Mittelalters, Ritterschaft, Geistlichkeit und Bauern, hatte sein eigenes Leben. Doch der Tod machte alle gleich. Aber tat er das wirklich?

    Wenn darunter zu verstehen ist, daß jedes Leben endet, so traf das zu. Jedoch wie unterschiedlich waren die an das Begräbnis geknüpften Erwartungen. Wer in Altarnähe bei den Reliquien bestattet wurde, konnte auf Beistand des Patronats im Jenseits hoffen, andere wurden abseits vergraben. Stiftungen konnten dauerhaftes Gedenken ermöglichen und "Startvorteile" sichern.

    Klosterstiftungen schließlich waren den Eliten vorbehalten und garantierten beinahe schon ewiges Leben.


    Der Kampf gegen das Vergessen war Sorge der bessergestellten Gesellschaftsschicht und äußerte sich seit dem Hochmittelalter in aufwendigen Grabplatten, vom Einmeisseln des Namens bis zu kurzen oder ausführlichen Lebensläufen ab dem Spätmittelalter.


    Norbert Ohler führt gewohnt souverän durch dieses Thema: (Auszug)


    1. Das Memento mori:

    Wie bereitete sich der mittelalterliche Mensch vor auf seinen Tod?


    2. De profundis:

    Sterbeszenen in den Quellentexten.

    Beobachtungen von Symtomen.

    Abschied

    Kommunion und letzte Ölung

    Grablegung


    (Quellentexte aus West- und Südeuropa bis etwa 1500.)


    3. Herrschaftsgrablegungen:

    a) Königsbegräbnis

    b) Bischofsbegräbnis

    c) Kaisergräber


    4. Orte der Toten


    Friedhöfe

    Bestattungsfelder

    Kirchenbeisetzung

    Grabbeigaben

    Gräber als Quellen


    5. Vorzeitiger Tod:


    Katastrophen und Seuchen

    Opfertod

    Menschenopfer

    Tötung von Alten

    Kannibalismus

    Tötungsdelikte


    Wertung:

    Das Bild des Lebens im Mittelalter wurde entscheidend vom Tod geprägt. Das Massensterben währen der Großen Pest, die Massaker anlässlich der Kreuzzüge, das Strafrecht mit der grausigen Palette der Hinrichtungsarten, haben die Imagination des Mittelalters im Ganzen bestimmt. Doch es fehlt bis heute eine kulturgeschichtliche, ganzheitliche Deutung des Phänomens Tod im Mittelalter.

    Das ist Ohler im großen Wurf gelungen, er verbindet die schriftlichen, archäologischen, strafrechtlichen und liturgischen Hauptquellen aus verschiedenen, im einzelnen benannten europäischen Ländern. Ohler vergisst auch nicht den Hinweis, daß Einflüsse des Islam und des Judentums auf christliche Bestattungsriten noch nicht hinreichend dokumentiert wurden und bedeutender sein könnten, als bisher angenommen. Hier steht die Quellenerschliessung noch aus.


    Da es im Mittelalter auch nicht die Ansicht zu Leben und Tod, sowenig wie die Gesellschaftsschicht gab, waren Verallgemeinerungen unumgänglich.


    Die Quellen, die vorherrschen, sind diejenigen einzelner Dynastien und Herrscher, Familien und Gruppen, die durch monumentale Grabsteine oder aufwendige Sarkophage versuchten, ihrer Sippe oder Familie über den Tod hinaus Dauer und Geltung zu verschaffen. Das darf in der Gesamtsicht nicht darüber hinwegtäuschen, daß der untersuchte Gegenstand zuletzt beherrscht wird vom Tod der Namenlosen, von dem keine Überlieferung zeugt.

    Sonst verschieben sich die Relationen.


    Norbert Ohler hat hier eine Arbeit verfasst, die einen Teil der Faszination seiner legendären Freiburger Seminare wiedergibt.

    Nicht die schiere Anzahl der Quellen, sondern ihre umsichtige Auswahl und effiziente Auswertung, machen den Wert dieses Buches aus. Der Versuch der kulturhistorischen Deutung des Phänomens "Tod" im Mittelalter kann als gelungen bezeichnet werden. Klar strukturiert und in verständlicher Sprache ist diese Arbeit für alle Interessierte am europäischen Mittelalter zu empfehlen.

    Die Dokumentation im Anhang ist umfangreich, wie zu erkennen ist, wurden die wichtigsten Titel der einschlägigen Literatur erfasst und die Hauptquellen zitiert.

    Allein die Abbildungen hätte ich mir etwas umfangreicher und dazu kommentiert gewünscht.

    Insgesamt sehr gute 4 1/2 :bewertung1von5:

  • Insgesamt sehr gute 4 1/2

    Du hast Dich, sehe ich, schließlich doch für 5 Sterne entschieden?

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Es war eher umgekehrt ,bei der Zweitlesung war ich kritischer, der etwas kursorischen Bildgestaltung halber. Da hätte das Thema doch mehr hergegeben. :wink:

    Insgesamt sehr gute 4 1/2

    Du hast Dich, sehe ich, schließlich doch für 5 Sterne entschieden?

  • Da hätte das Thema doch mehr hergegeben.

    Immerhin: ein schönes Cover, ungewöhnlich für ein Sachbuch!

    :study: Joseph Roth, Hiob. MLR.

    :study: Vigdis Hjorth, Ein falsches Wort.

    :musik: Leonie Schöler, Beklaute Frauen.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ja, und das Bild vom sterbenden Geizhals ist eines der wenigen, die im Text auch besprochen werden. Das Bild ist allerdings ist nicht vor 1485 entstanden und Hieronymus Bosch stand ja schon eher an der Schwelle zur frühen Neuzeit. :wink: