Francis Durbridge - Paul Temple und der Fall Max Lorraine / Send for Paul Temple

  • REZENSION – Wohl nur die Älteren unter uns erinnern sich noch an die mehrteiligen TV-Krimis „Das Halstuch“ oder „Tim Frazer“, die in den 1960er Jahren mit einer heute unvorstellbaren Einschaltquote bis zu 93 Prozent den Begriff „Straßenfeger“ prägten. Diese und weitere TV-Krimiserien jener Zeit waren nach den später zu Romanen umgeschriebenen Büchern des britischen Schriftstellers Francis Durbridge (1912-1998) gedreht worden. In den 1970er Jahren folgten die 52 TV-Episoden „Paul Temple“, in denen der gleichnamige Kriminalschriftsteller mit Unterstützung der Journalistin Steve Trent, die später seine Ehefrau wird, als Privatdetektiv ermittelt.

    Heute ist der in den 1950er bis 1970er Jahren erfolgreiche Francis Durbridge weitgehend vergessen, weshalb der Österreicher Georg Pagitz, der schon durch einige Aufsätze sich als Durbridge-Kenner ausgewiesen hat, den britischen Kriminalschriftsteller wieder in Erinnerung zu rufen versucht. Nach dem von ihm 2018 herausgegebenen Band „Paul Temple. Die verschollenen Fälle“ mit 20 von ihm übersetzten, vorher auf Deutsch noch unveröffentlichten Kurzgeschichten erschien nun im Dezember wieder beim Pidax Film- & Hörspielverlag mit „Paul Temple und der Fall Max Lorraine“ ein weiterer von Pagitz übersetzter, ebenfalls bisher nicht auf Deutsch veröffentlichter Durbridge-Krimi aus dem Jahr 1938. Das besondere an der Wiederentdeckung ist, dass dieser erste Fall aus der Paul-Temple-Krimireihe zugleich das Romandebüt des späteren Bestseller-Autors war, der bis dahin relativ erfolglos Lustspiele und Hörspiele verfasst hatte. Auch dieser erste Roman war erst nach Ablauf seiner zuvor im selben Jahr auf BBC gesendeten und unerwartet erfolgreichen Hörspielreihe als „Buch zum Thriller“ geschrieben worden, wobei sich der mehr auf Dialoge spezialisierte Durbridge für seine Romanfassung noch einen Ghostwriter zur Unterstützung geholt hatte.

    Diese und andere überaus interessanten literaturhistorischen Hinweise erfährt man im Vorwort des Durbridge-Sohnes Nicholas sowie in den Vor- und Nachbemerkungen des Übersetzers, die in ihrer Ausführlichkeit den eigentlichen Reiz und literarischen Wert des Buches ausmachen. Denn der Kriminalroman allein entspricht keinesfalls den Ansprüchen heutiger Krimi-Leser. Deutlich sind Anleihen bei Edgar Wallace festzustellen wie unterirdische Geheimgänge, Falltüren oder sich unerwartet öffnende Wandverkleidungen, auf die wir von Georg Pagitz im Begleittext hingewiesen werden. Es ist unverkennbar, dass Durbridge in seinem 1938 erschienenen Debütkrimi sein sechs Jahre zuvor verstorbenes Vorbild Wallace stilistisch nachzuahmen versuchte.

    Worum geht es nun in „Paul Temple und der Fall Max Lorraine“? Eine unheimliche Serie von Juwelen-Diebstählen hält Scotland Yard in Atem. Die Bande schreckt sogar vor Mord nicht zurück. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln, weshalb die Presse fordert, endlich den bekannten Schriftsteller Paul Temple einzuschalten, der schon in einem früheren Fall seine Fähigkeit als Ermittler bewiesen hatte. Als der ermittelnde Superintendent Gerald Harvey in einem heruntergekommenen Gasthof erschossen wird, beginnt Paul Temple seine Ermittlung und findet heraus, dass Kopf der Bande ein gewisser „Diamantenfürst“ Max Lorraine ist.

    „Ich glaube, dass dies mein bisher größter Beitrag zur Unterhaltungsliteratur werden wird, Ja, bei Timothy, dessen bin ich mir sicher“, ist Hobby-Ermittler und Autor Paul Temple von seiner Arbeit überzeugt. Ob auch Durbridge Ähnliches über seinen Debütroman gedacht hat? Aus heutiger Sicht muss Widerspruch erlaubt sein: Nicht nur stilistisch ist manches am Roman zu bemängeln, sondern die Handlung strotzt nur so von unglaubwürdigen Zufällen. Um sich bei der Lektüre den Spaß nicht zu verderben, ist empfehlenswert, nicht jede Einzelheit oder unerwartete Wendung zu hinterfragen, sondern sie so hinzunehmen, wie sie ist. Dies gilt auch für den unrealistischen Schluss. Sei's drum! Was bleibt also vom Romandebüt des damals erfolgreichen Francis Durbridge? Paul Temples erster Fall ist gewiss ein literaturhistorisch interessantes Erinnerungsstück, das man zur Entspannung lesen kann. Aber mindestens aus heutiger Sicht hat der Kriminalroman gewiss keinen nachhaltigen literarischen Wert. Ob er wohl deshalb noch nie ins Deutsche übersetzt wurde?