Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies/Paradise

  • Kurzmeinung

    volatile
    Abbruch nach ca. 2/3. Ein für mich (bis dahin) sehr plumper Schreibstil, wenig Inhalt und farblosen Charakteren
  • Kurzmeinung

    Marie
    Fremd, heiß, gewaltig, gewaltvoll - Afrika ist anders. Bücher wie dieses helfen beim Verständnis
  • Original: Englisch, 1994


    INHALT:

    Ostafrika, Ende des 19. Jahrhunderts: Der zwölfjährige Yusuf führt mit seiner Familie ein einfaches Leben auf dem Land. Als der Vater sich mit seinem kleinen Hotel verschuldet, wird Yusuf in die Hände von Onkel Aziz gegeben und landet Zugtagesreisen entfernt im lebhaften Treiben einer ostafrikanischen Stadt, zwischen afrikanischen Muslimen, christlichen Missionaren und indischen Geldverleihern. Die Gemeinschaft dieser Menschen ist alles andere als selbstverständlich und von subtilen Hierarchien bestimmt. Yusuf hilft Khalil in Aziz‘ Laden und bei der Pflege seines paradiesisch anmutenden Gartens.

    Doch als der Kaufmann ihn später auf eine Karawanenreise ins Landesinnere mitnimmt, endet Yusufs Jugend abrupt. Die gefährliche Unternehmung bringt Krankheit und Tod und zeigt allen Teilnehmern schmerzhaft, dass die traditionelle Art des Handels keine Zukunft mehr hat. Was Yusuf erlebt, lässt ihn erwachsen werden. So verliebt sich der junge Mann nach seiner Heimkehr kopfüber, aber er und alle um ihn herum werden brutal mit der neuen Realität der deutschen Kolonialherrschaft konfrontiert…

    (Quelle: amaz.; hier leicht erweitert, dort gekürzt)


    BEMERKUNGEN:

    Der Roman besteht aus 5 Teilen mit jeweils 7-8 Kapiteln. Im zwölften Lebensjahr setzt die Geschichte ein, wird Yusuf quasi als Schuldpfand dem “Onkel” Aziz mitgegeben. Dieser lebt nicht nur von seinem von Khalil und Yusuf gemanagten Laden, sondern noch mehr von seinen Handlungsreisen (-zügen) ins Landesinnere, mit Trägern, Antreibern, gar je ankündigenden Musikanten. Ein richtig “orientalisch” anmutendes Unternehmen, das den Tross jeweils lange unterwegs sein lässt. Diese Reisen bestimmen den Rhythmus des Lebens. Anfangs bleibt Yusuf noch daheim im Laden, später nimmt ihn der ihm anscheinend wohlwollende Aziz mit. Einmal lässt er ihn gar ein Jahr lang auf einer Handlungsstation! Beim nächsten Vorbeikommen dann nimmt er ihn mit auf “die andere Seite des Sees”, in ein "wildes", von Animisten belebtes Land… Vielleicht verdankt sich der rettende Ausgang nur dem Einschritten von Kolonialisten, die die Kraft auf ihrer Seite haben?

    Yusuf wird vielseits beneidet, gelobt, bewundert. Der anfänglich teils so Ängstliche, verfügt über einen fast limpiden Blick, voller Unschuld. Bei ihrer Rückkehr von dieser letzten Reise bleibt er daheim, wird bei Abwesenheit Onkel Aziz’ immer öfter vorgeladen zur älteren, aber verunstalteten Ehefrau. Dort trifft er auch die zweite Frau, Amina.


    Bis zur letzten Seite geht die Handlung weiter, wenn auch in teils unvorhersehbaren Bahnen. Es bleibt offen. Da ist ein ganz eigener Rhythmus zwischen Wiederholungen, leises Anschwellen von Motiven, geduldiges Umschreiben. Klar scheint mir, dass Gurnah etwas von der Komplexität, auch Widersprüchlichkeit des Menschen, der Befindlichkeiten, aber auch der Frage des Kolonialismus’ sieht. Woher kommt Bedrohung? Allein von außen, oder auch von innen? Entstand erst durch die Kolonialherren Ungerechtigkeit? Wie bewegt sich dieser Roman zwischen einer geheimnisvollen, manchmal fast märchenhaften Exotik und einem Realismus? Der Originaltitel belässt es einfach bei “Paradise”, während der deutsche Titel da etwas hinzusetzt. Meines Erachtens gibt damit die Übersetzung dem Text eher eine Eindeutigkeit, die er so nicht hat, m.E. Denn Paradies und Hölle begegnen hier einander, Freiheit und Gebundenheit. Und wir wissen nicht immer genau, wo wer steht, und was ihn denn nun wirklich antreibt. Das Paradies könnte ja durchaus hier auch für den Garten stehen, in dem Yusuf sich so wohl fühlt...?!


    Ein sehr vielschichtiges Buch, das viel Stoff hergibt und nicht einmal gelesen, schnell abgehakt werden kann!


    AUTOR:

    Abdulrazak Gurnah (* 20. Dezember 1948 im Sultanat Sansibar) ist ein tansanischer Schriftsteller, der in Großbritannien lebt und arbeitet und in englischer Sprache schreibt. 2021 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er gehörte zur muslimisch-arabischstämmigen Minderheit in Sansibar; seine Muttersprache ist Swahili. 1968 kam er als Flüchtling nach Großbritannien und studierte zunächst am Christ Church College in Canterbury, dessen Abschlüsse damals von der Universität London verliehen wurden. Von 1980 bis 1982 lehrte Gurnah an der Bayero University Kano in Kano, Nigeria. Anschließend ging er an die University of Kent, wo er 1982 promovierte und bis zu seinem Ruhestand als Professor für Englisch und postkoloniale Literaturen lehrte.


    Auszeichnungen:

    2006 wurde Gurnah zum Fellow der Royal Society of Literature gewählt. Er war 2016 Juror beim Man Booker Prize, nachdem er 1994 mit Paradise auf der Shortlist und 2001 mit By the Sea auf der Longlist des Booker Prize gestanden hatte.


    Im Jahr 2021 erhielt Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis für Literatur „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Flüchtlingsschicksals in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“.


    Hier verlinkte Neuausgabe:


    Herausgeber ‏ : ‎ Penguin Verlag (8. Dezember 2021)

    Sprache ‏ : ‎ Deutsch

    Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 336 Seiten

    ISBN-10 ‏ : ‎ 3328602585

    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3328602583

    Originaltitel ‏ : ‎ Paradise

    Abmessungen ‏ : ‎ 14.6 x 3.3 x 22.1 cm

  • Erstausgabe, ebenfalls übersetzt von Inge Leipold:


    ISBN 3810508888

  • Hier eine Ausgabe auf Englisch:


    Born in East Africa, Yusuf has few qualms about the journey he is to make. It never occurs to him to ask why he is accompanying Uncle Aziz or why the trip has been organised so suddenly, and he does not think to ask when he will be returning. But the truth is that his 'uncle' is a rich and powerful merchant and Yusuf has been pawned to him to pay his father's debts, Paradise is a rich tapestry of myth, dreams and Biblical and Koranic tradition, the story of a young boy's coming of age against the backdrop of an Africa increasingly corrupted by colonialism and violence.


    Publisher ‏ : ‎ Bloomsbury Publishing PLC; New edition (15 Nov. 2004)

    Language ‏ : ‎ English

    Paperback ‏ : ‎ 256 pages

    ISBN-10 ‏ : ‎ 0747573999

    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0747573999

    Dimensions ‏ : ‎ 12.9 x 1.6 x 19.8 cm

  • Nachdem ich das Buch gerade beendet habe, habe ich Deine Rezension nochmals gelesen. Ich gebe Dir recht: ein vielschichtiges Buch!


    Mich hat die Geschichte an das Alte Testament erinnert, und zwar an die Geschichte von Joseph und der Frau des Potiphar. Es ist wohl davon auszugehen, dass es diese Geschichte auch im Koran gibt (ich müsste nachschlagen). Sogar das Motiv des zerrissenen Kleides taucht auf.

    Daher habe ich mit einem fürchterlichen Ende gerechnet.

    Dieses schöne Spiel mit alten Motiven hat mir sehr gut gefallen.

    Entstand erst durch die Kolonialherren Ungerechtigkeit?

    Ganz offensichtlich nicht, und das ist auch ein Punkt, warum mir dieser Roman so gut gefällt. Sklaverei und andere üble Dinge haben mit den Kolonialherren ursächlich gar nichts zu tun, sie existierten schon vorher in dieser ethnisch vielfältigen Gesellschaft. Der Autor vermeidet es offensichtlich, hier Sympathien bzw. Antipathien beim Leser hervorzurufen, und er vermeidet es auch, die vorkoloniale Zeit zu verklären.


    Und ein Drittes hat mir noch gut gefallen: wie Yusuf erkennt, dass er Sklave ist und wie er die Frage der Freiheit für sich beantwortet. Der alte Gärtner hat einen sehr weisen Standpunkt und zieht sich auf seine innere Freiheit zurück, die ihm niemand nehmen könne - und hier muss sich Yusuf entscheiden, wie er Freiheit für sich definiert.


    Ein sehr lesenswertes und kluges Buch, farbig, opulent, ein Blick in eine andere Welt.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Dieses Buch habe ich nun auch zu Ende gelesen. Ich habe mich bei den ersten zwei Dritteln des Buches schwer getan mit dem Schreibstil und musste mich fast zwingen weiterzulesen. Ich weiss nicht, ob es an der Übersetzung ins Französische liegt. Das letzte Drittel hat mir dann sprachlich sehr gut gefallen.


    Ansonsten kann ich Euren Besprechungen nicht viel hinzufügen. Es hat mich sehr traurig gestimmt, wie die Kinder dort "verkauft" wurden und aufwuchsen. Am liebsten hätte ich mal die drei (Amina, Yusuf und Khalil) in die Arme genommen.


    Meine Bibliothek hat einige seiner Bücher in Englisch und Französisch. Ich versuche es nochmal mit einem Exemplar in Französisch "Près de la mer". Dieses wurde von einer anderen Dame übersetzt.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Eventuell für mofre oder serjena hier noch eine Verlinkung zu einer italienischen Ausgabe:


    Paradiso è la storia di Yusuf che, a dodici anni, viene dato in pegno dal padre, un locandiere pieno di debiti, a zio Aziz, un ricco mercante.

    Nel fermento della città, tra swahili, musulmani d’Africa, colonizzatori tedeschi, camionisti sikh, Yusuf ha il suo rifugio nel giardino paradisiaco al centro della casa. È la storia dell’amicizia con Khalil, poco più grande di Yusuf, anche lui comprato da zio Aziz.

    È anche la storia dell’amicizia interrotta tra i due ragazzi, quando zio Aziz chiede a Yusuf di accompagnarlo in un viaggio d’affari nell’entroterra. È la storia della scoperta dell’amore di Yusuf, cresciuto, bellissimo, nella casa in cui viene educato. E diventa una lezione su come gli amori, soprattutto quelli proibiti, finiscono all’improvviso.

    È la storia del sultano Chatu che, nella città di Marungu, fa prigioniero Yusuf e i suoi, e li priva di ogni avere. Ma la prima guerra mondiale è alle porte, gli eserciti europei stanno conquistando il continente, e inizierà tutta un’altra storia per l’Africa, per le sue genti, per Yusuf.

  • Das Interview könnte eventuell Gurnah-Interessierte ansprechen. Langsam erscheinen wieder seine Romane auf Deutsch, bzw werden übersetzt. So auch untenstehendes:


    https://www.dw.com/de/abdulraz…&lid=2091467&pm_ln=139103

  • Himmel - das Buch hat mich überwiegend enttäuscht. Ich hatte mir wirklich viel mehr und Tiefgründiges über das Thema Kolonialismus erhofft. Tatsächlich geht es an genau 3 Stellen und ca. 10 Seiten von 320 tatsächlich einmal um dieses Thema.


    Das Beste am Buch ist noch, dass es einen lange darüber nachdenken lässt, welches Paradies hier gemeint sein soll, was denn verloren wurde? Keinesfalls das Afrika vor dem Kolonialismus. Mit unseren heutigen Moralvorstellungen ist das alte Afrika nichts, was man sich zurückwünschen würde. Ein Afrika, in dem es üblich war, bei Aufnahme eines Kredits wie in einem Pfandleihhaus, seine Kinder als Pfand abzugeben, die im Falle der Nichtbegleichung der Schuld, lebenslang Sklaven wurden. Ein Afrika, in dem gebildete Händler mit billigen Waren durchs Land zogen und die Einheimischen übers Ohr gehauen haben, ähnlich den Glasperlenverkäufen an die Indianer später. Und ein Afrika, in dem die Naturvölker wiederum diese Händler -Wegelagerern gleich- überfielen, ausraubten oder Wegezölle verlangten.


    Auch der "paradiesische Garten", wo Yusuf kurze Zeit arbeitet, kann nicht gemeint sein. Ich komme zu dem Schluss, dass das verlorene Paradies vielleicht nur die kindliche, naive Sicht auf die Dinge sein könnte, die mit dem Heranwachsen und der Erkenntnis planmäßig verlorenging.


    Insgesamt sollte man sich von dem Buch nichts über die Geschichte im Allgemeinen erhoffen, es wird nur ein Microkosmos aus dem Blickwinkel des Kindes Yusuf gezeigt, Unterhaltsam ist es natürlich allemal. Man darf nur nicht zuviel erwarten, nur weil ein großer Preis dranklebt.

  • Mich hat die Geschichte an das Alte Testament erinnert, und zwar an die Geschichte von Joseph und der Frau des Potiphar. Es ist wohl davon auszugehen, dass es diese Geschichte auch im Koran gibt (ich müsste nachschlagen). Sogar das Motiv des zerrissenen Kleides taucht auf.

    Daher habe ich mit einem fürchterlichen Ende gerechnet.

    Diese Parallele war für mich das einzig spannende an dem Buch, weshalb ich zunächst hoffnungsvoll weiterlas und über die Sachen, die mich störten, hinweg sah.


    Und ja, die Geschichte gibt es auch im Koran, der ist eine ganze Sure/ ein ganzes Kapitel gewidmet.


    —-


    Ich habe das Buch nach etwa 2/3 abgebrochen, weil ich die Sprache und den Stil als sehr plump empfunden habe. Die Hälfte der Dialoge hätte man meiner Meinung nach streichen können und dasselbe Ergebnis erhalten. Zumindest bis zu dem Punkt, zu dem ich durchgehalten habe.


    Mich haben die Masse an Dialogen und Beschreibungen, in denen das vermeintliche Sexleben, die Genitalien von irgendwem oder wie verrückt und wild alle aufeinander und vor allem auf Yusuf sind auf Dauer angeödet. Dafür gab es drumherum zu wenig Inhalt, zu viel irrelevantes wurde unnötig wiederholt und es hat die Geschichte in keiner Weise vorangebracht. Ich weiß bis jetzt nicht, was mir die Geschichte mitgeben soll, da alles andere sich nur im Hintergrund abspielt und viel zu wenig Raum eingeräumt wird. So war es für mich eine lieblose Aneinanderreihung von Ereignissen.

  • Ich weiß bis jetzt nicht, was mir die Geschichte mitgeben soll, da alles andere sich nur im Hintergrund abspielt und viel zu wenig Raum eingeräumt wird. So war es für mich eine lieblose Aneinanderreihung von Ereignissen.

    Ich habe schon im anderen thread gelesen, dass Du mit dem Roman wenig anfangen konntest.

    Mir ging es anders, aber trotzdem: wenn ich den Roman so wahrgenommen hätte, wie Du es beschreibst, dann hätte ich auch abgebrochen.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).