Ljuba Arnautovic - Junischnee

  • Es ist das Jahr 1934 und nach dem blutigen Bürgerkriegs-Februar wird Karl, der 9 Jahre alt ist, zusammen mit seinem 3 Jahre älteren Bruder Slavko und mehreren anderen Kindern von der Mutter zu ihrem Schutz mithilfe von tschechischen Genossen nach Moskau ins vermeintlich rettende Exil geschickt. Als „Kinder der internationalen Helden im Kampf für den Kommunismus“ sind sie herzlich willkommen und werden im „Kinderheim Nr. 6 für österreichische Schutzbundkinder“, das in einem wunderbaren Palais eines Adeligen im Stadtzentrum liegt, untergebracht. Karl, sein Bruder und die anderen Kinder erleben wunderbare Jahre, in denen es an nichts mangelt. Sie sind gut genährt und erhalten eine gute Schulausbildung; ihnen stehen alle Türen offen. Doch das ändert sich mit Kriegsbeginn 1939. Die Kinder werden getrennt und in verschiedene Kinderheime untergebracht, in denen Kälte und militärische Disziplin herrscht. Die Schulausbildung bricht abrupt ab und es geht nur mehr ums nackte Überleben. Viele verschwinden über Nacht, viele werden angeklagt, gefoltert, ohne Gerichtsverfahren zu jahrelanger Schwerstarbeit in GU Lags in Sibirien verurteilt. Es fehlt an Arbeitskräften und das Land braucht jede Hand. Und Stalin weiß sein Volk im Zaume zu halten.

    Wie vor und während des Krieges weiß der Herrscher sich an seinem Volk zu bedienen, man muss es nur gründlich in Angst halten.


    So muss auch Karl 10 Jahre seines jungen Lebens einbüßen, eine Zeit, die körperliche und seelische Narben hinterlässt und aus ihm einen anderen Menschen macht.

    Die Lager haben einen anderen aus ihm gemacht. Sein Humor ist jetzt Zynismus. Seine Spontaneität steht unter Kontrolle. Sein Händedruck ist hart, sein Blick oft kalt.

    Diese Härte wird seine erste Frau Nina und die Töchter aus dieser Ehe zu spüren bekommen. Aus Karl scheint alles Liebevolle verschwunden zu sein.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Die Handlung hat wirklich stattgefunden und wird mich durch diesen Roman fortan begleiten. Im Geschichtsunterricht haben wir über die österreichisch-russischen Beziehungen in der Vor- und Nachkriegszeit nichts gelernt und die schlimmen Kriegsjahre in Russland kenne ich fast nur aus Geschichtsbüchern. Die Generation, die diese dunkle Zeit miterleben musste, stirbt langsam aus. Umso wichtiger finde ich es deshalb, dass Zeitzeugnisse aufgearbeitet werden und dieses Büchlein leistet einen wichtigen Beitrag.

    Es ist ein kleines Juwel.

    Die Geschichte hat mich sehr schnell eingenommen. Zu einem faszinieren mich die russischen Sitten und Gebräuche, zum anderen verabscheue ich die Grausamkeit der Stalinzeit. Zauber und Brutalität liegen sehr nah beieinander. Das ist schon sehr bedrückend zu lesen und für mich kaum vorstellbar.

    Bis Anfang der 50ger Jahre fühle, leide, kämpfe und hoffe ich mit Karl. Doch dann kehrt er nach Wien zurück und verändert sich stark. Das habe ich in dieser Härte überhaupt nicht erwartet. Ich reagiere sehr verstört auf Karls Verhalten und verstehe nicht, wie er so kalt und herzlos, so verwegen und verlogen sein kann. Er hält nicht nur seine erste Frau Nina, sondern auch die beiden Töchter und seine zweite Frau Erika in seinen bösen Klauen. Es dauert lange bis sich Nina und ihre Töchter daraus befreien können.

    Das Kind sehnt sich nach seiner russischen Großmutter, Baba Anastasia.


    Fazit

    Junischnee von Ljuba Arnautovic ist ein feines, kleines Büchlein, das an einem ruhigen Nachmittag gelesen werden kann. Die Autorin erzählt die Geschichte ihres Vaters und mit ihm die Geschichte ihrer Familie. Es ist eine bewegende, anrührende und erschütternde Erzählung über menschliche Schicksale, als Teil der österreichisch-russischen Geschichte des letzten Jahrhunderts.


    Bleib dir gegenüber immer Mensch. Jedoch unter Wölfen heule als Wolf. Der Mensch ist des Menschen Wolf: Krepier du heute, und ich morgen.