Julia Franck – Welten auseinander

  • Klappentext/Verlagstext

    Das Mädchen wird in Ostberlin geboren. Julia ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart. »Welten auseinander« ist Julia Francks bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.


    Die Autorin

    Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ›Der neue Koch‹, danach ›Liebediener‹ (1999), ›Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen‹ (2000) und ›Lagerfeuer‹ (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ›Die Mittagsfrau‹ erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 35 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien der Roman ›Rücken an Rücken‹ (2011). Julia Francks Roman ›Lagerfeuer‹ wurde 2012/13 für das Kino unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel ›Westen‹ verfilmt.


    Inhalt
    Julia lebt in den 90ern allein in Berlin. Mit 4 Kindern von 3 Vätern war die Mutter der Roman-Julia 1978 aus der DDR übergesiedelt. Julia hatte später im Westen eine Beziehung zu einem Mann, der überzeugt davon war, dass er nicht alt werden würde und für den vor seiner Zeit mit ihr die DDR unbekanntes Terrain gewesen ist. Durch Stephan gelangt sie in eine bildungsbürgerliche Szene-West, während ihre Mutter Anna als Schauspielerin Teil der Künstler-Bohème-Ost gewesen sein muss. Zahlreiche Namen prominter DDR-Künstler lassen das DDR-Leben von Mutter und Kindern authentisch wirken, obwohl die Autorin betont, jeder hätte eigene Erinnerungen, so dass reale Personen sich im Buch nicht wiedererkennen würden.


    In Rückblicken und dabei zwischen dem Erzählen in der 1. und 3. Person wechselnd, erinnert sich Julia an eine Kindheit als Sozialwaise, in der die Töchter den Haushalt nahezu allein führten und neben der Schule Geld verdienen mussten, um sich alltägliche kleine Wünsche zu erfüllen. Ihre Mutter Anna hatte stets ein geschicktes Händchen dafür, das Wohl der Kinder vorzuschieben, um Vorteile herauszuschinden, die ihrer eigenen Bequemlichkeit dienten. So fand sie immer wieder Mäzene, die Freiplätze an Privatschulen für die Töchter als „Sozialfälle“ beschafften und Julia lernte früh, die Hilfsbereitschaft von Pflegeeltern und Mentoren geschickt zu nutzen.


    Jahre später findet Julia den kurzen Lebensbericht ihrer Großtante Gisela, die „jüdischer Mischling“ war. Eine Reihe prominenter DDR-Namen tauchen auf, so Julia Francks Großmutter Ingeborg Hunzinger, Tochter des Chemikers Hans Heinrich Franck und Enkelin des Malers Philipp Franck. Zusammenfassen lässt sich ketzerisch, dass Julias Vorfahren unangepasste, tatkräftige Frauen waren, die ein Leben fern von Rollenstereotypen für sich beanspruchten und ihre Kinder möglichst dem Personal überließen.


    Hochinteressant fand ich die Figur der Steffi, die sich von der Bohème ausnutzen ließ und unentschlossen zwischen Fürsorge und Ablehnung changierte. Als Clou des komplizierten, autofiktional bearbeiteten Berichts einer nomadischen Außenseiter-Kindheit zeigt sich im Buch Julias leiblicher Vater Jürgen, der Junge, der in der „Mittagsfrau“ zurückgelassen wurde.


    Fazit

    Julia Franck trifft mit ihrer Autofiktion den Sound der 80er. Ihre gleichnamige Protagonistin scheint stets viel zu jung zu sein, für das, was sie zu bewältigen hat, und oft sprachlos angesichts des Familien-Chaos, das sie entfaltet. Julia Francks Flickenteppich einer Kindheit wird ebenso polarisieren wie „Die Mittagsfrau“. Wer das Buch ablehnte, wird mit den auseinanderliegenden „Welten“ sicher wenig glücklich.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow