Rudolf Lorenzen - Rhythmen, die die Welt bewegten: Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950

  • Der Autor (Quelle: Verbrecher): Rudolf Lorenzen wurde am 5. Februar1922 in Lübeck geboren und wuchs in Bremen auf. Er besuchte das Realgymnasium und machte eine Ausbildung zum Schiffsmakler. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs studierte er Grafik und arbeitete anschließend in der Werbebranche. Ab 1955 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin, der neben Romanen - "Alles andere als ein Held" (1959), "Die Beutelschneider" (1962) "(Grüße aus) Bad Walden" (1981; Neubearbeitung 2009), "Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie" (1999) und "Ohne Liebe geht es auch" (2010) - und Erzählungen vor allem zahlreiche Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen geliefert hat. Anfang der 1960er-Jahre lehnte er eine Einladung der Gruppe 47 ab, er gehörte bis auf den Verband deutscher Schriftsteller keiner Schriftstellergruppe an. Rudolf Lorenzen starb am 27. November 2013 im Alter von 91 Jahren in Berlin.
    "Ich bin gar nicht sicher, ob „Alles andere als ein Held“ nicht der beste Roman irgendeines heute lebenden deutsch schreibenden Autors ist", schrieb Sebastian Haffner 1962. Walter Kempowski und Jörg Fauser nannten Rudolf Lorenzen ein Vorbild.


    Klappentext (Quelle: Verbrecher): Rudolf Lorenzen bietet in diesem Buch eine unterhaltsame Tanzgeschichte in Tanzgeschichten. Der Walzer, der Tango, die Polka und sogar der Marsch werden besprochen, ihre Entwicklung wird nachgezeichnet, ebenso wie die Reaktion der Leute auf die neuen Tänze und Musikstücke. So werden Lieder Mode: „Ernst Decsey entdeckt im Walzer eine Philosophie. Sie ist kurz und besteht nur aus drei Wörtern: ‚Heut‘ ist heut‘!‘ Der Walzer ist zur Kürze verurteilt. Theodor Fontane schreibt: ‚Etwas Hübsches, diese Walzer, sie machen ein Dutzend Menschen für eine Stunde glücklich.‘ Und doch: In die Kürze seines flüchtigen Lebens legt der Walzer auch einen Hauch von Weltschmerz. So wandert er durch Europa. Oft verweilt er und nennt sich Valse mélancolique, sentimentale, élégiaque und oubliée – vergessener Walzer.“ Die Geschichte unserer Hörgewohnheiten wird neu aufgerollt, und es zeigt sich: schon 1890 gab es eine aufgeregte Popmusikwelt! Lorenzen, der schon etliche Hörstücke und Filme zum Thema verfasst hat, erweist sich in seinem ersten Buch hierzu erneut als Kenner der Materie.


    Deutsche Ausgabe:

    • Die deutsche Erstausgabe erschien im Jahr 2010 unter dem Titel „Rhythmen, die die Welt bewegten: Geschichten zur Tanz- und Unterhaltungsmusik 1800 bis 1950“ als Hardcover im Verbrecher Verlag in Berlin (444 Seiten).


    Inhalt:

    • Im Zweivierteltakt:
    • Ein rasender Pferdetanz (16 Seiten)
    • Auf nach Amazonien (28 Seiten)
    • Oh schieb‘, so lang‘ du schieben kannst (22 Seiten)
    • Alle Welt foxt … foxt … foxt (40 Seiten)
    • Im Dreivierteltakt:
    • Einst ein bacchantischer Wahnsinn (20 Seiten)
    • Ausbruch aus dem Einerlei (28 Seiten)
    • Hispanoiserien und vielerlei Kaprizen (23 Seiten)
    • Im Viervierteltakt:
    • So leben wir alle Tage (16 Seiten)
    • Musik verdoppelt die Armee (36 Seiten)
    • Alles für das Renommee (24 Seiten)
    • Remmidemmi (30 Seiten)
    • Flott und frech (22 Seiten)
    • Wir werden siegen (20 Seiten)
    • Seltene Karrieren (18 Seiten)
    • Die Musik kommt (4 Seiten)
    • Im Tango-Takt:
    • Ein erstes Tänzchen in der Pergola … (10 Seiten)
    • Ein Tanz der traurigen Gedanken (18 Seiten)
    • Zwischen Gosse und Salon (16 Seiten)
    • In kleinen Cafés und Konditoreien (20 Seiten)
    • Denke nicht mehr an die Zeiten (13 Seiten)


    Erwähnte Tanz- und Unterhaltungsmusiken:


    Mein Eindruck:
    Ein vergnügliches und informatives Kompendium versammelten Wissens, basierend auf einer Feature-Serie, die Lorenzen fürs Radio verantwortete, über die Geschichte von Tänzen und populären Unterhaltungsmusiken, wie sie sich in Trends und Moden abbildete. Das Buch ist also vor allem eine Mediengeschichte, in der es weniger um die Entstehung und die regelhafte Verfestigung von Gesellschaftstänzen als vielmehr darum geht, was unsere Altvorderen seinerzeit „aus der Reihe“ bzw. gerade im Gleichschritt tanzen ließ.


    Es ist grob in vier große Abschnitte nach Zweivierteltakt, Dreivierteltakt, Viervierteltakt und Tango-Takt sortiert, aber intern oft etwas konfus, was aber den Lesefluss kaum behindert. Ein lexikalisches Nachschlagen einzelner Tänze ist so allerdings nicht möglich. Schade finde ich obendrein, dass kein Literaturverzeichnis angegeben ist, da im Text eine Vielzahl alter und neuer Sekundärliteratur zitiert wird, die so etwas verschütt geht. Auch eine Diskografie ist nicht enthalten, was aber den Rahmen vermutlich gesprengt hätte. Allerdings wäre eine Auflistung zitierter Liedtexte und ihrer Texter und Komponisten schön gewesen.


    Was Lorenzen nicht liefert, ist eine reine Musikgeschichte; nein, was wir von ihm, dem Schriftsteller und Journalisten bekommen, ist eine ganze Kultur- und Sozialgeschichte, die sich über die aufmüpfigen Tänze, deren Veranstaltungen vielerorts von Polizei verfolgt und verboten wurden, und anhand frecher Gassenhauer der Mentalität vergangener, doch bis heute nachwirkender Zeiten nähert. Es geht um Warenströme, Kriegsfolgen und Fluchtbewegungen, wenn etwa Sinti und Roma den Tango nach Finnland brachten und fremde Soldaten ihre heimatlichen Klänge in der Welt verbreiteten, außerdem um nationale Ressentiments gegen unzüchtige Bewegungen und Körperhaltungen, wenn etwa „harmlosere“ Tanzschritte das Anrüchige tropischer Tänze abmildern sollten. Und auch oft um "das amerikanische Geschüttel" aus „Stumpfsinn“ und „Gejaule“, das in Europa vielerorts – etwa beim deutschen Philosophen Ernst Bloch – noch nach dem Zweiten Weltkrieg „für Erbrechen“ und entsprechend vehemente, arrogante Ablehnung sorgte. :roll:


    Dieses aus einer unendlichen Vielfalt einzelner Eindrücke, Anekdoten und Verweisen zusammengesetzte kulturgeschichtliche Kaleidoskop bringt Lorenzen mit sehr großer Eleganz und Wissenslust unter die Leute, so dass das Buch gerade auch populärmusikalische Laien mit einem Faible für alte Gassenhauer, Couplets, Uralt-Schlager, Operetten und Marschmusik mit viel Gewinn alte Zeiten, Mentalitäten und die Ausgehkultur aufschließt - vor allem aus der Zeit des Deutschen Kaiserreiches von 1871 bis 1918, aber auch teils weit davor, in der Weimarer Republik, der Nazizeit und selbst über das im Titel genannte Jahr 1950 hinaus. Ein überraschendes und erhellendes Lesevergnügen! :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)