Nguyễn Phan Quể Mai - Der Gesang der Berge / The Mountains sing

  • Vietnam, 1972. Hương wächst mitten im kriegsgebeutelten Hanoi auf. Ihre Großmutter Diệu Lan, kümmert sich liebevoll um sie, während der Vater auf dem Schlachtfeld kämpft und die Mutter ihm freiwillig nachfolgt. Damit sie nicht verhungern, arbeitet die Großmutter erst als Lehrerin und später als Händlerin, was die ganze Familie jedoch zu Geächteten macht. Hương und Diệu Lan haben nur einander und so beginnt die Großmutter eines Tages, ihrer Enkelin die Geschichte ihrer Familie zu erzählen.


    „Der Gesang der Berge“ ist der erste in englischer Sprache verfasste Roman der Schriftstellerin Nguyễn Phan Quể Mai und von den Erlebnissen von Familienmitgliedern, aber auch Fremden geprägt, die ihre Geschichte mit der Autorin teilten. Die Handlung wird von Hương rückblickend aus der Gegenwart erzählt und umfasst somit einen Zeitrahmen zwischen den Jahren 1930 und 2017. Auf der einen Seite begleiten wir Großmutter und Enkelin durch die letzten Jahre des Vietnamkriegs, auf der anderen Seite breitet Diệu Lan in Erzählungen ihr bisheriges Leben aus: das Aufwachsen vor und während des Zweiten Weltkrieges, das Schicksal der Familie im Ersten Indochinakrieg und nach der Landreform 1955.


    Es ist ein emotionales, sprachgewaltiges Bild, das die Autorin von der gesamten Familie Trấn zeichnet, die im Prinzip aber stellvertretend für viele vietnamesische Familien steht. Diệu Lan ist eine starke Frau, welcher der Krieg Unmenschliches abverlangt hat. Nach dem Tod ihres Mannes versucht sie allein, ihre sechs Kinder zu beschützen. Während der Landreform wird sie als Grundbesitzerin zum Feind und enteignet, dem Tod entgeht sie nur knapp und muss mit ihren Söhnen und Töchtern fliehen. Die Teilung Vietnams in Norden und Süden reißt die Familie dann endgültig auseinander. Erst in und dank Hươngs Generation scheint endlich wieder eine Aussöhnung möglich.


    Teilweise ist es nur schwer zu ertragen, was die Figuren in diesem Roman erdulden müssen. Hươngs Mutter Ngọc beispielsweise kehrt völlig traumatisiert aus dem Krieg zurück und findet zu ihrer eigenen Tochter keinen Zugang mehr. Einer ihrer Brüder hat beide Beine verloren, ein anderer kämpft mit den grauenvollen Nachwirkungen des berüchtigten Entlaubungsmittels Agent Orange, das über den Schlachtfeldern versprüht wurde. Dennoch – oder gerade deshalb – ist der Roman absolut lesenswert und eines meiner Highlights 2021. :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:



    Das Buch erscheint am 9. Oktober 2021 - ich darf es bereits rezensieren, da ich es auf Vorablesen gewonnen habe.

  • Klappentext/Verlagstext
    Huʾoʾng wächst bei ihrer Großmutter auf, mitten im vom Krieg gebeutelten Hanoi der frühen 1970er Jahre. Der Vater ist auf den Schlachtfeldern verschollen, ihre Mutter folgte ihm in der Hoffnung, ihn zu finden. Und die Großmutter erzählt Huʾoʾng an den vielen langen Abenden die Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte, die in Frieden und Wohlstand ihren Anfang nimmt, aber im Zuge fremder Besatzung, Landreform und Krieg eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und unsäglichem Leid wurde. Doch die Frauen ihrer Familie sind stark und entschlossen, dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abzutrotzen.

    Ein Familienepos, das ein ganzes Jahrhundert atmet, die bildgewaltige Geschichte eines leidgeprüften Volkes, ein beeindruckender historischer Roman, erzählt von einer vietnamesischen Autorin – so hat man von Vietnam im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht gelesen.


    Die Autorin
    Nguyễn Phan Quế Mai wurde 1973 geboren und erlebte als Kind und Jugendliche die Folgen der Zerstörung ihres Landes durch den Vietnamkrieg. Sie arbeitete u. a. als Händlerin, bevor sie schließlich mittels eines Stipendiums in Australien studieren konnte. Sie hat acht Bücher auf Vietnamesisch publiziert, darunter Belletristik und Lyrik ebenso wie Sachbücher. Der Gesang der Berge ist ihr erster Roman in englischer Sprache. Sie lebt mit ihrer Familie in Jakarta.


    Der historische Hintergrund

    Im Vietnamkrieg standen sich zwischen 1955 und 1975 Nordvietnam und auf südvietnamesischer Seite die NLF (Nationale Front für die Befreiung Südvietnams) gegenüber. Vorausgegangen war von 1946 bis 1954 ein Krieg zwischen der Kolonialmacht Frankreich und der Vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung Viet Minh. Der Vietnamkrieg gilt als Stellvertreterkrieg der politischen Systeme in Ost und West. (nach Wikipedia)

    Inhalt

    Mit Großmutter Diêu Lan (*1920), und ihrer Enkelin Huong (*1960) hatten sich zwei Menschen getroffen, die ungeheuer bildhaft erzählen konnten. Die Großmutter arbeitet in den 70ern im nordvietnamesischen Hanoi als Lehrerin und hat in bescheidensten Verhältnissen Huong bei sich aufgenommen. Während beide hoffen, dass endlich das Schicksal von Huongs im Krieg vermissten Eltern aufgeklärt wird, erzählt die Großmutter, wie sie zur Zeit der gewaltsamen Bodenreform aus ihrem Heimatort flüchten musste und auf ihrem Weg notgedrungen einige ihrer 6 Kinder bei Fremden zurückließ. Indem zwei der Onkel zu Wort kommen und zum Ende des Romans Briefe auftauchen, wird Huong zur Sammlerin der Einzelschicksale und zur Sprecherin ihrer Familie. Der Krieg hat nicht nur die Großmutter von ihren Kindern und die Geschwister voneinander getrennt. Ähnlich unversöhnlich wie sich die Kriegsparteien im geteilten Vietnam gegenüberstanden, steht es in der Gegenwart auch zwischen den Geschwistern, die nicht verwinden können, dass der jüngste Sohn Lan bei der Mutter blieb und ihrer Ansicht ein leichteres Leben hatte als sie. Als es zum Wiedersehen mit Huongs Mutter Ngoc (*1940) kommt, bleibt das Verhältnis von Mutter und Tochter gespannt, weil die Mutter kaum über ihre Kriegserlebnisse sprechen kann, voller Schuldgefühle, sie hätte ihren Mann zum Kriegsdienst überredet. Der Konflikt der Kriegsparteien spaltet die Familie; denn Onkel Sang sagt sich offiziell von seiner Kapitalisten-Mutter los, die inzwischen als Händlerin ein gutes Auskommen gefunden hat.


    Nguyễn Phan Quế Mais Icherzählerin stand Großmutter Diêu Lan sehr nahe. In der Gegenwart nimmt Huong durch ein Weihrauchopfer Kontakt mit der verstorbenen Großmutter auf und bekommt tatsächlich eine Antwort. Die Enkelin, in der unschwer die Autorin zu erkennen ist, wird zur Sprecherin einer durch den Vietnamkrieg jahrelang getrennten Familie. Diêu Lans bildhafte Erinnerungen nehmen die Leser direkt mit in das Dorf ihrer Kindheit und zu einer bildungshungrigen Familie, die ihre Ernte mit dem von Wasserbüffeln gezogenen Fuhrwerk zum Verkauf nach Hanoi bringt. Als japanische Soldaten das Dorf in Brand setzen, kennt Diêu Lan nur ihren kleinen Ausschnitt der Welt und versteht kaum, welcher Krieg auf dem Rücken der Bauern ausgetragen wird. Auch Huong, ihre Mutter und die Onkel können jeder nur ihr persönliches Erleben berichten, so dass der Krieg zwischen Ost und West m. A. nach vereinfachend als Schicksal dargestellt wird, das die Menschen aus heiterem Himmel trifft.


    Fazit

    Mit einem jahrzehntelangen Krieg um ein geteiltes Land, zahlreichen Zeitsprüngen über eine Spanne von 90 Jahren hinweg und der Aneinanderreihung von Kriegsgräueln ist „Der Gesang der Berge“ ein aufwühlender, nicht klischeefreier Familienroman, dem etwas Bonusmaterial mit dem historischen Hintergrund gutgetan hätte.


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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Vietnamesische Geschichte und bewegender Familienroman


    In ihrem Roman "Der Gesang der Berge" verbindet die Autorin Nguyễn Phan Quế Mai die Geschichte Vietnams mit einem Familienroman. Er wird aus zwei unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Zum einen ist da Huong, die als zwölfjähriges Mädchen ab 1972 in Hanoi aufwächst. Zum anderen ist da Huongs Großmutter, die ihrer Enkelin aus ihrem Leben ab 1930 berichtet. Krieg und Vertreibung spielen darin eine Rolle, und sowohl Huong als auch ihre Großmutter erleben sehr viel Leid.


    Die poetische Sprache des Titels und auch des Buchs insgesamt steht dazu in völligem Kontrast, und doch finde ich es passend. Es ist auffällig und sehr gelungen, wie sich das unterschiedliche Alter der Erzähler auf ihre Perspektive auswirkt: Huong versteht die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe oft nicht, während ihre Großmutter diese in ihren Kapiteln erläutert.

    Ich kenne die Geschichte Vietnams nur sehr oberflächlich, so dass mir viel davon neu war. Insgesamt erscheint mir die Darstellung aber ausgewogen und nicht einseitig aus der Meinung einer historischen Ansicht zu sein.


    "Der Gesang der Berge" ist ein bewegender Roman, sowohl als Familiengeschichte als auch als Einblick in die vietnamesische Geschichte. Eine Wendung gegen Ende des Buchs erscheint mir dann doch etwas gekünstelt, aber insgesamt fällt dies wenig ins Gewicht. Ich empfehle das Buch gerne weiter.

  • Vietnam in den 1970er-Jahren: Huʾoʾng, liebevoll auch „Guave“ genannt, wächst bei ihrer Großmutter Diêu Lan auf, mitten im Krieg. Der Vater wird vermisst, die Mutter ist auf der Suche nach ihm. An langen Abenden erzählt die Großmutter ihrer Enkelin die Geschichte ihrer Familie, von Flucht und Vertreibung, aber auch von starken Frauen, die dem Schicksal eine lebenswerte Zukunft abtrotzen möchten…


    „Der Gesang der Berge“ ist ein Roman von Nguyễn Phan Quế Mai.


    Meine Meinung:

    Der Roman besteht aus 16 unterschiedlich langen Kapiteln. Die Handlung umfasst die Jahre 1972 bis 2017 und spielt an verschiedenen Schauplätzen. Einheitliche Orts- und Zeitangaben zu Beginn der Kapitel erleichtern die Orientierung. Erzählt wird - mit Zeitsprüngen - in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Huʾoʾng. Zudem gibt es eine Geschichte in der Geschichte, nämlich dann, wenn die Großmutter ihre Erlebnisse schildert. Der Aufbau ist etwas komplex, aber funktioniert gut.


    Der Schreibstil ist bildstark, atmosphärisch und eindringlich. Es tauchen immer wieder Begriffe und Sätze in der Landessprache auf, die jedoch übersetzt werden.


    Im Mittelpunkt stehen mehrere Generationen der Familie Trân. Die vielen fremden Namen sind am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig. Allerdings ist vorne im Roman der Stammbaum abgedruckt, was das Verständnis einfacher macht. Huʾoʾng und ihre Großmutter, zwei sympathische Charaktere, nehmen am meisten Raum ein.


    Thematisch geht es einerseits um die Geschichte der Familie Trân und andererseits um den Vietnamkrieg. Inhaltlich ist der Roman keine leichte Kost. Kriegerische Auseinandersetzungen, Leid, Tod und Armut spielen eine große Rolle.


    Dabei basiert der Roman auf den persönlichen Erlebnissen der Autorin und den Erzählungen ihrer Verwandten, wie unter anderem in der „Danksagung“ zu erfahren ist. Das schafft eine Menge Authentizität und macht die Lektüre umso berührender. Auf mehr als 400 Seiten konnte mich die Geschichte fesseln und auch mehrfach überraschen.


    Der deutsche Titel klingt sehr poetisch und ist stark an das englischsprachige Original („The Mountains Sing“) angelehnt. Auch das hübsche Cover, das nicht immer zum manchmal düsteren Inhalt passt, wurde übernommen.


    Mein Fazit:

    Mit „Der Gesang der Berge“ ist Nguyễn Phan Quế Mai ein sehr bewegender und packender Roman gelungen. Ein eindrucksvolles und aufwühlendes Buch, das ich wärmstens empfehlen kann.


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  • Mit "Der Gesang der Berge" bin ich nicht nur in eine andere Kultur, sondern auch in eine andere Zeit gereist. Ich habe Krieg erlebt, Not, Leid, Hunger, Angst. Aber auch Hoffnung, Kraft, Mut, Glaube und Zusammenhalt. Ich wusste bislang nicht viel über die Geschichte und Kultur Vietnams, aber bin dankbar dafür, mit diesem Buch einen Einblick erhalten zu haben. Erzählt von zwei Erzählerinnen, von zwei sehr besonderen Frauen, gibt dieses Buch Einblick in die Kultur Vietnams, das Leben über die Jahrzehnte hinweg, das Lebensgefühl, die Lebensweise. Es sind mitunter sehr düstere Szenen, die ich ein wenig von mir fernhalten musste, um mich nicht zu sehr in dem Leid zu verlieren. Aber es sind auch berührende, hoffnungsvolle, starke und bewegende Szenen, die den Glauben hochhalten, die von Kraft zeugen, von Mut. Und die davon erzählen, dass er immer belohnt wird.


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    "Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein."
    Hape Kerkeling


    "Jemanden zu lieben bedeutet, ihn freizulassen. Denn wer liebt, kehrt zurück."
    Bettina Belitz - Scherbenmond


    http://www.lektorat-sprachgefuehl.de

  • Gemeinsam überleben, wenn die Welt zerbricht


    Dieses Buch ist sehr intensiv; hat mich gefangen genommen und in eine andere Zeit versetzt. Ich war in Vietnam.
    Erzählt wird die Geschichte der Familie Tran durch die Urenkelin Huong. Das Buch beginnt in 2012- aber nur das erste Kapitel. Erzählt wird das Leben der Großmutter Dieu Lan. Dieses erfolgt in 2 Erzählsträngen: Einer beginnt in 1972 während des Vietnamkrieges in Ha Noi. Hier kümmert sich die Großmutter Dieu Lan um ihre 12 jährige Enkelin Huong (genannt: Guave), da das Land im Krieg versinkt und die Eltern von Huong in den Krieg gezogen sind. Der zweite beginnt in 1930 auf dem Land in der Provinz Nghe An. Hier lebt Dieu Lan als Kind auf dem elterlichen Hof.
    Die Autorin vermag es in deutlichen, aber nicht unnötig brutalen Bildern die verschiedenen örtlichen Begebenheiten und die dort herrschenden Umstände plastisch darzustellen. Das Land wird zeitweise durch Frankreich und Japan unterdrückt, der Vietnamkrieg, die große Hungersnot, der eingeführte Kommunismus mit den Umerziehungslagern und dem Denunziantentum. Unrecht und Gewalt sind zu allen Zeiten allgegenwärtig. Inmitten dieser unruhigen Zeit ist Dieu Lan trotz vieler Schicksalsschläge bemüht, ihre Kinder und Kindeskinder zu ernähren und durch das Leben zu bringen. Sie ist unermüdlich und stark, aber nicht unfehlbar. Sie erfährt in ihrem Leben so viel Schlechtes, dass eine Aufzählung diese Rezension sprengen würde, aber auch in vielen Situationen unerwartete Hilfe von Fremden. Sie erlaubt sich kaum eine Schwäche- trägt Verantwortung und hilft wo sie kann.
    Gerade weil dieses Buch so realistisch und emphatisch geschrieben wurde, fiel mir das Lesen mehrfach sehr schwer. Es war eine Anstrengung, die liebgewordenen Charaktere und die Menschen im Allgemeinen derart leiden zu sehen. Es ist kein Buch, um es mal kurz zu lesen. Obwohl ich es nicht aus der Hand legen wollte, musste ich oftmals eine Lesepause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Es ist mir direkt ans Herz gegangen und hat mir auch die Tränen in die Augen getrieben.
    Der Schreibstil und die Wortwahl sind wunderbar- nicht zuletzt auch wegen der vietnamesischen Sprichworte und Lieder, die in Originalsprache benannt und dann übersetzt werden. Es ist ein außergewöhnliches Buch, das mich vieles überdenken lässt.
    Für mich ist es die Überraschung dieses Jahres und deshalb eine klare Leseempfehlung. Absolut lesenswert.


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