Joy Williams - Sommer / Taking Care

  • Die Autorin (Quelle: Rowohlt): Joy Williams (*1944) studierte in Ohio Literaturwissenschaft und veröffentlichte Kurzgeschichten u.a. in „The New Yorker“, „Esquire“ und „The Paris Review“. Für ihren Roman „State of Grace“ wurde sie 1974 für den National Book Award nominiert. 1989 erhielt sie den Preis der American Academy of Arts and Letters. In der Reihe der rororo-Taschenbücher liegen ihr Roman „Lebensdiebe“ (Nr. 13258, OT: Breaking and Entering) und der Erzählungsband „Der kleine Winter“ (Nr. 13715, OT: Escapes) vor. Joy Williams lebt heute in Florida und Arizona.


    Klappentext (Quelle: Rowohlt): Auf den ersten Blick scheint alles ganz normal zu sein: Ein Ehepaar verbringt den Sommer gemeinsam mit einem Junggesellen in einem Haus am Meer; ein Student arbeitet nachts, um Frau und Kind zu versorgen; ein Gärtnerjunge hält die Parks reicher Villenbesitzer in Ordnung; ein Pfarrer bringt seine kranke Frau in die Klinik und wartet auf ihre Rückkehr. Doch plötzlich werden Einsamkeit und Absurdität des ganz normalen Alltags sichtbar, und die bisher gewohnten Zusammenhänge lösen sich auf. „Joy Williams ist die begabteste Autorin ihrer Generation.“ (Harold Brodkey)


    Englische und deutsche Ausgaben:

    • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel „Taking Care: Short Stories“ als Hardcover bei Random House in New York (244 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 1985 als Paperback bei Vintage Books in New York und 2010 als E-Book ebendort. Enthalten sind 16 Short Storys.
    • Die deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker und Claus Varrelmann erschien 1991 als Teilübersetzung des Originals unter dem Titel „Sommer: 12 Geschichten“ im Verlag Antje Kunstmann in München (196 Seiten), neu aufgelegt im Juni 1993 als rororo-Taschenbuch Nr. 13269 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in Reinbeck bei Hamburg. Enthalten sind nur zwölf Short Storys, es fehlen „Train“, „The Excursion“, „Building“ und „Breakfast“.


    Inhalt:

    1. Sommer (OT: Summer) – 18 Seiten
    2. Futter für den Collie (OT: Preparation For a Collie) – 8 Seiten
    3. Die Hochzeit (OT: The Wedding) – 13 Seiten
    4. Wald (OT: Woods) – 21 Seiten
    5. Schäferhund (OT: Shepherd) – 11 Seiten
      n/ü (OT: Train)
      n/ü (OT The Excursion)
    6. Der Gärtnerjunge (OT: The Yard Boy) – 14 Seiten
    7. Chemische Veränderungen (OT: Winter Chemistry) – 22 Seiten
    8. Ufer (OT: Shorelines) – 11 Seiten
      n/ü (OT: Building)
    9. Unterwegs nach Pridesup (OT: Traveling to Pridesup) – 23 Seiten
    10. Die Farm (OT: The Farm) – 21 Seiten
      n/ü (OT: Breakfast)
    11. Fürsorge (OT: Taking Care) – 16 Seiten
    12. Der Liebhaber (OT: The Lover) – 12 Seiten [die im Original als erste Geschichte vor "Summer" abgedruckt ist]


    Meine Einschätzung:
    Joy Williams Stil finde ich bemerkenswert: Mit einer Knappheit wie in alten Hardboiled-Romanen beschreibt und führt sie ihre Figuren ein, die sofort in die Vollen gehen. Ihre Erzählungen wirken daher oft eher wie Ausschnitte aus Romanen, nicht wie abgeschlossene Kurzgeschichten. Auch handeln die Figuren nicht daher, weil sie so sind, wie ihr Charakter beschrieben wird, sondern sie tun es einfach, oft genauso unerklärlich wie ein Gegenüber im wirklichen Leben: Die junge geschiedene Mutter weint nicht plötzlich los, weil ihr Charakter und ihre Vorgeschichte so und nicht anders sind; der Gärtnerjunge ist kein spiritueller Materialist, weil ihm dieses und jenes widerfahren ist; die Ehefrau trinkt nicht einen über den Durst, weil sie charakterschwach ist oder ein Trauma verarbeitet. Es ist nicht Williams‘ Art, die Figuren ihren Lesern allzu bekannt zu machen, sondern sie schickt sie als rätselhafte Wesen auf die Teststrecke.


    Als Folge davon neigen ihre Geschichten allerdings auch dazu, in Distanz zum Leser zu bleiben, weil sie einen nicht an der Hand nehmen und zum „Eintauchen“ und Mitfühlen bringen. Es ist Williams‘ in meinem Sinn glückender Versuch, die Verwerfungen im ganz normalen (US-amerikanischen) Alltag einzufangen, wenn sich Verschiebungen ereignen, die den Gefühlshaushalt vor neue Herausforderungen stellen: Teenagerinnen, die ihren Lehrer beobachten, ohne genau zu wissen, warum; die lebensgefährliche Blutkrankheit der Ehefrau, die das gemeinsame Leben umzukrempeln sich anschickt; die Begegnung mit der Mutter des Sohnes, der unter das eigene Auto kam und starb; die Sommerfrische eines Paares bei einem befreundeten Junggesellen, der sich jedes Wochenende wechselnde Frauenbekanntschaften ins Haus lädt; das Leben in einem Mobile Home im Wald, das einen zum Hals heraushängt; vier über 80-jährige Schwestern, deren einfältigste ein ausgesetztes Baby am Briefkasten findet.


    Ihr minimalistischer, authentischer Stil verankert Joy Williams klar im US-Genre des sogenannten „Kmart realism“, dem auch die von mir sehr geschätzten Autoren Richard Ford, Frederick Barthelme und Raymond Carver zugeordnet werden: moralische Alltagserzählungen über arbeitende, Familien versorgende Menschen (meist der Mittelklasse), die umgeben von sterilen Objekten und Orten des Konsums, auf Parkplätzen, in Supermärkten, Fast-Food-Restaurants, die ganze Entfremdung, spirituelle Vereinzelung, vielleicht gar Sinnlosigkeit des postmodernen Daseins empfinden, immer ein wenig wie auf der Flucht, durch die Notwendigkeiten des Alltags den Wünschen, Vorstellungen und Hoffnungen der eigenen Jugendzeit entfremdet. Durch Williams‘ in knappen Worten perfekt skizzierte Orte und Milieus, durch ihre Ansammlung von Gesten, Hinweisen und Dialogen schimmert eine Anspannung der Figuren, die die Kraft für eine große Erschütterung hätte, wenn sie sich freie Bahn verschaffte. Ein drohender Verlust, ein Gefühl des Entgleitens, erzählt nah an den Figuren, ohne große Plot Points aufgehängt an kleinen Vorfällen und besonderen Momenten, in denen Klarheit oder Wahnsinn möglich wäre.

    Zitat

    Jonas, der Prediger, ist sein Leben lang verliebt gewesen. Er wundert sich darüber, denn soweit er es beurteilen kann, hat seine Liebe niemandem je geholfen, auch dann nicht, wenn sie erwidert wurde, was nicht oft geschah. Sie ist viel zu offensichtlich und hat immer zu Geringschätzung geführt. Er gleicht einem auf dem Jahrmarkt zur Schau gestellten missgebildeten Tier, das ein lebenswichtiges Organ ungeschickt und unglückselig außerhalb des Körpers mit sich herumträgt, ein Organ, das nicht sichtbar sein sollte – und ganz bestimmt sollte nicht zu sehen sein, wie es arbeitet. (S. 169, Anfang der Geschichte „Fürsorge“)


    Der Einstieg in die Geschichten mag sperrig erscheinen, aber der unverstellte, authentische, ungekünstelte, nicht belletristisch aufgeblasene Tonfall, überhaupt die konzentrierte, ehrliche und ergebnisoffen neugierige Haltung, wie sich Williams ihren literarischen Figuren nähert, zeichnen ihre Geschichten aus. Spätestens bei der Story „Fürsorge“ (der Titelerzählung des amerikanischen Originals) bin ich in Bewunderung und Zuneigung zu Joy Williams' Erzählkunst entbrannt: Wie sich im Ungewissen des Moments (der lebensbedrohenden Blutkrankheit der Ehefrau) eine Vielzahl an Gefühlsebenen aus Vergangenheit und Gegenwart aufblättert, wie um das Gesamtbild eines Lebens, das in gesicherten Bahnen schien, neu zu umschreiben, fand ich völlig überzeugend in seiner entwaffnenden Einfachheit.


    Eine herausragende („Fürsorge“) und vier sehr gute Erzählungen („Wald“, „Unterwegs nach Pridesup“, „Die Farm“, „Chemische Veränderungen“) reichen mir, den Erzählungsband in Gänze als lesenswert zu bewerten: Es gibt viel zu entdecken und Ähnlichkeiten auch gegen Widerstände zu erspüren, ohne dass einem die Autorin jede Deutung brav an die Hand gibt. Joy Williams verkauft einem keine klischeehafte Literatur-Wirklichkeit als Realität, sondern wischt Klischees fort, bevor sie sich festsetzen.


    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:


    P.S.: Man darf sich von dem lächerlich nach sommerlicher Strandurlaubslektüre schielenden Cover der Rowohlt-Ausgabe nicht abschrecken lasse. Im Grunde ist das grafisch in Farbblöcken eingebettete Motiv der Bikinischönheit sogar kontraproduktiv, da es viele enttäuschte Leser zurückgelassen haben mag, die locker-flüssige Ferienlektüre erwartet haben - und nicht bekamen. :roll:

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 59 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel „Taking Care: Short Stories“ als Hardcover bei Random House in New York (244 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 1985 als Paperback bei Vintage Books in New York und 2010 als E-Book ebendort. Enthalten sind die 16 Short Storys: "The Lover", "Summer", "Preparation For a Collie", "The Wedding", "Woods", "Shepherd", "Train", "The Excursion", "The Yard Boy", "Winter Chemistry", "Shorelines", "Building", "Traveling to Pridesup", "The Farm", "Breakfast" und "Taking Care".

    White "Die Erkundung von Selborne" (115/397)


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  • Das ist das Cover der deutschen Erstausgabe der Übersetzung von Ulrike Becker und Claus Varrelmann, die 1991 als Teilübersetzung des Originals unter dem Titel „Sommer: 12 Geschichten“ im Verlag Antje Kunstmann in München erschienen ist (196 Seiten). Hier wie auch später sind nur zwölf Short Storys enthalten: Es fehlen „Train“, „The Excursion“, „Building“ und „Breakfast“.

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    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

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