Sandro Veronesi - Der Kolibri / Il Colibri

  • Kurzmeinung

    Maesli
    Ich liebe dieses Buch - ein absolutes Lesehighlight. Anspruchsvoll, humorvoll, tragisch, literarischer Hochgenuss!
  • Kurzmeinung

    Bartie
    Bewegende Lebensgeschichte, unkonventionell erzählt
  • Lesenswert!


    In dem Roman „Der Kolibri“ erzählt Sandro Veronesi die Lebensgeschichte von Marco Carrera, den die Mutter in seinen Jugendjahren liebevoll Kolibri genannt hat. Es lag vor allem daran, dass Marco viel zu klein für sein Alter war, aber auch an seiner Schnelligkeit und Schönheit, die diese Assoziation in der Mutter weckten.


    Die kleinen Kolibris wurden wegen ihrer Fähigkeiten als „Akrobaten der Lüfte“ genannt. In seinem ereignisreichen Leben musste Marco oft beweisen, dass auch er diese Fähigkeiten besitzt. In der Geschichte seines Lebens gibt es viel Glück, aber wahrscheinlich noch mehr Leid; viele tragische Ereignisse, die jeden normalen Menschen mit ihrer Last erdrücken könnten.


    Marcos bewegter Lebensweg wurde in kurzen Kapiteln erfasst, jeder von ihnen mit dem Titel und der entsprechenden Jahreszahl versehen. Denn die Erzählung erfolgt nicht chronologisch; das Ereignis selbst und seine Bedeutung sind dem Autor wichtiger. Und so kommt es, dass ich zuerst über Einiges aus der Zukunft erfahre und mich dann in die Vergangenheit begeben muss, um das Geschehene richtig verstehen zu können.


    Auch die Sprache hat einiges von mir verlangt; mal erzählt der Autor viel und schnell, so als würde er alles auf einmal erzählen wollen. An diesen Stellen hatte ich das Gefühl jemandem zuzuhören, der mir was Wichtiges, Dramatisches, sofort und jetzt erzählen muss. Dann wieder bedient er sich einer ruhigen, fast poetischen Sprache, und da lässt er mich zu Atem kommen, das Gelesene genießen, miterleben.


    Es gibt in dem Roman viele gefühlvolle Momente, Kapitel, die zum Nachdenken bewegen, Ereignisse, die auf Tränendrüsen drücken. Es ist ein bemerkenswertes Buch!


    Zum Schluss erlaube ich mir die Worte des Autors über das Buch von David Leavitt, im Kapitel „Via Crucis“ erwähnt, zu zitieren:


    „Er ist wunderbar; lesen Sie ihn oder lesen Sie ihn wieder.“ (343)


    Der Satz entspricht auch voll und ganz meiner Empfehlung zum Roman von Sandro Veronesi.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Sandro Veronesi - Der Kolibri - Premio Strega 2020“ zu „Sandro Veronesi - Der Kolibri / Il Colibri“ geändert.
  • Bartie ein gewonnener Preis ist nicht Teil des Buchtitels :wink: Hier noch das Original

  • Keine Heldengeschichte


    Das wunderschöne Cover mit dem Kolibri hatte mich angesprochen und zum Lesen motiviert.

    Im Buch geht es um die Lebensgeschichte Marco Carreras, die ziemlich tragisch verläuft und von viel Leid, Tod und Trauer, aber auch Hoffnung geprägt ist.

    Die Kapitel sind Ausschnitte aus Szenen verschiedener Jahre, nicht chronologisch sondern durchmischt, E-Mails, Telefonaten, Gesprächen und Briefen. Durch dieses Durcheinander fiel es mir teilweise schwer, mich zurechtzufinden.

    Einige Abschnitte fand ich unnötig in die Länge gezogen, wie die E-Mail an seinen Bruder, in dem über drei Seiten Gegenstände aufgelistet werden. Oder manche Hintergrunderklärung wie die über den Manga-Erfinder, die ich zwar als interessant, aber dennoch unpassend empfand.

    Zwischendurch hatte ich kaum noch Lust, weiterzulesen, dies hat sich aber im letzten Drittel wieder gegeben und ich habe mich mit dem Buch versöhnt.

    Ein etwas schwierig zu lesendes Buch über ein komplexes Leben eines besonderen Mannes und alles andere als eine Heldengeschichte. Eher die Erzählung aus einem durchaus realistischen Leben, in dessen Tragik es leider zu viele tatsächlich geben wird.

  • Das Buch beginnt mit einem der vielen Schicksalsschläge, mit denen Marco Carrera, Augenarzt in Rom aber gebürtig aus Florenz, in seinem Leben zurechtkommen muss. Seine Frau erwartet ein Kind von einem anderen Mann und wird ihn verlassen. Es ist das Jahr 1999 und von diesem Ereignis ausgehend, wird das Leben des Marco Carrera erzählt, der von seiner Mutter den Spitznamen Kolibri erhielt, weil er mit 15 Jahren aufgehört hatte zu wachsen.


    Im Übrigen hatte sie, sobald dieses Defizit offenbar geworden war, für ihren Jungen den beruhigendsten aller Spitznamen geprägt, Kolibri, um zu betonen, dass Marco mit diesem anmutigen Vögelchen neben der Kleinheit eben auch die Schönheit und der Schnelligkeit gemeinsam hatte: die körperliche – in der Tat bemerkenswerte -, die ihm beim Sport zugutekam, und die – vor allem behauptete – geistige in der Schule und im gesellschaftlichen Leben.


    Es sind die Frauen, die sein Leben zeichnen. Seine Schwester Irene, die den Freitod wählt, Adele, seine Tochter, die mit 22 Jahren stirbt und Miraijin, seine Enkeltochter, die ihn bis zu seinem Tod begleitet. Und dann gibt es noch Luisa, seine große Liebe.


    Ich habe Dich so sehr geliebt, wirklich, vierzig Jahre lang bist Du das Erste und das Letzte gewesen, woran ich jeden einzelnen Tag meines Lebens gedacht habe.


    Meine persönlichen Leseeindrücke

    Der Roman ist ein Puzzle, wie es Sandro Veronesi selber schreibt. Er hätte die Handlung auch in chronologische Reihenfolge setzen können, das wollte er aber nicht, denn er könne von seinen Lesern auch eine kleine Anstrengung verlangen. Und so zieht sich dieser Anspruch durch das gesamte Buch, das ich mit Begeisterung ab der ersten Seite gelesen habe. Gäbe es nicht diese Tragödien, ich könnte der Geschichte etwas Amüsantes abgewinnen.

    Der Roman ist eine berührende Erzählung über Marco Carrera und sein Leben. Marco verkörpert einen Durchschnittsitaliener der Mittelschicht, mit all seinen Schrullen und Ansichten, seinen Schwächen, seinen Freunden und seinen Familien. Sein Leben verläuft nach einem gleichbleibenden Muster: jahrelang verharrt er im Stillstand, während die anderen sich vorwärtsbewegen. Dann bricht ein unerwartetes, außergewöhnliches Erlebnis aus, stets begleitet von großem Schmerz, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleudert. Stets ist er begleitet und beeinflusst von Frauen, die ohne Psychoanalysten nicht lebensfähig scheinen. Am Ende grenzt es an ein Wunder, dass er ein normales Leben führt. Die Tragödien, denen er schutzlos und machtlos ausgesetzt ist, gipfeln mit jenem Schicksalsschlag, der für Eltern das Schlimmste ist: ein Kind zu verlieren. Veronesi findet dafür gar kein Wort in unserer Sprache sondern weicht auf das Hebräische „shakul“ oder auch in das Arabische „thaakil“ oder auf das Sanskirt „vilomah“ aus, was ich sehr treffend beschrieben, diese Ohnmacht dem Schmerz gegenüber. Nur die Sorge um und die Liebe zu seiner Enkeltochter gibt ihm die Kraft zum Weitermachen.


    ... weil mein erster Gedanke jetzt ihr gilt, und auch mein letzter Gedanke gilt ihr, und dazwischen gibt es weitere Gedanken für sie. Nur so ist es mir jetzt möglich zu leben.


    Die Anstrengung des Lesers liegt darin, die Ereignisse der verschiedenen Kapitel in ein Ganzes zusammenzufügen. Eigentlich ist das gar nicht so schwer, aber man ist verwöhnt und möchte sich nicht über die Maßen verausgaben. Damit ist erklärt, warum so viele mit dem Roman nicht so zurechtkommen.

    Noch ein Wort zur Übersetzung. Michael von Killisch-Horn hat diesen Roman in außerordentlicher Feinarbeit und hoher Sensibilität übersetzt. Ich bewundere diese Fähigkeit.


    Fazit

    „Der Kolibri“ von Sandro Veronesi ist eines der schönsten Bücher, die ich dieses Jahr lesen durfte. Ein literarisches Puzzle, das die Handlung absichtlich in zeitlich wirr verschachtelten Abschnitten zwischen Jahren und Jahrzehnten hin und her schwirren lässt. Und dennoch fügt sich jedes Teil perfekt in die Geschichte ein, die eine tief berührte Geschichte erzählt.

    Wer eine leichte, unbekümmerte Lektüre sucht, sollte allerdings die Hände davonlassen.